Die fünfzig besten Romane (42) | DT vom 21.07.2007 Gullivers Reisen Urmeter der Satire
Jonathan Swift (1667–1745) war Kronzeuge bei der Entstehung der modernen Parteien. Zunächst engagierte sich der promovierte anglikanische Priester für die Whigs, wechselte 1710 die Seite und stand dann der Tory-Regierung als Chefpublizist zur Verfügung. Vier Jahre später zog sich Swift in seine irische Heimat zurück und wurde Dekan der Dubliner St. Patrick Kathedrale, in der er später auch seine letzte Ruhestätte fand. Die ihm verbleibenden Jahre stellte er in den Dienst der irischen Nation, kämpfte gegen die englische Ausbeutung und veröffentlichte 1726 mit „Gullivers Reisen“ eine Satire, die seine desillusionierten Ansichten über die Politik und den Menschen als solchen wiedergibt.
Ein Jahr bevor Thomas Morus in den Dienst König Heinrichs VIII. von England trat, ging er im Auftrag seiner Majestät als Diplomat nach Flandern, um Meinungsverschiedenheiten mit Karl von Kastilien zu verhandeln. In Antwerpen trifft der Heilige auf Raphael Hythlodaeus, der vorgibt, bei seinen Fahrten mit Amerigo Vespucci eine Insel „Utopia“ entdeckt zu haben, auf der die staatliche Wohlfahrt ein Garant beständigen Glücks sei. Mit der Veröffentlichung des gleichnamigen Reiseberichts begründete Morus 1516 die literarische Tradition fiktiver Staatsmodelle; Kritik findet sich nur zwischen den Zeilen, erst spätere Bücher gehen mit optimistischen Gesellschaftsentwürfen offen ins Gericht.
Welcher Ort eignete sich für ein soziologisches Gedankenexperiment besser als eine Insel? Ihre Abgelegenheit ist eine Leerstelle, welche die Imaginationskraft herausfordert; ihre laborhafte Abgeschlossenheit stellt ceteris paribus die Frage nach der condicio humana. Knapp zweihundert Jahre nach „Utopia“ vereinbarten Alexander Pope, John Arbuthnot, John Gay und Jonathan Swift, über die nautischen Touren eines gewissen Martinus Sciblerus zu fabulieren. Da aus dem Gemeinschaftsprojekt nichts wurde, nahm sich der vierte im Bunde die Geschichte alleine vor. Ebenso wie seine anderen Schriften, ist auch Swifts Hauptwerk derart voll von bissigen Anspielungen, dass er es Inkognito aus einer fahrenden Kutsche vor die Tür des Druckers warf. Martinus Sciblerus hieß mittlerweile Lemuel Gulliver und das angezeigte Manuskript enthielt Reisen zu vier merkwürdigen Inseln.
Die beiden ersten Passagen haben sich als deutlich entschärfte Fassungen einen festen Platz im Kanon der Kinderbuch-Klassiker erobert, nämlich jene nach Liliput, einem von Däumlingen bewohnten Eiland im Indischen Ozean, sowie die nach Brobdingnag, einer von Riesen behausten Landmasse vor der amerikanischen Westküste. Wie immer, wenn man eine Sache mit Abstand betrachtet, steht Gulliver zwar über dem Treiben der Liliputaner, aber gerade aus der Vogelperspektive entlarvt sich ihr Intrigenspiel als grotesk. Skepsis gegenüber der Politik ist angesagt, gleichgültig ob im Großen oder im Kleinen. Schonungslos beleuchtet Swift die englische Aristokratie im Land der Riesen; hier erleben wir aus unmittelbarer Nähe, wie Mücken zu Elefanten werden, der Protagonist fühlt sich wie im Zirkus und landet schließlich in einem solchen.
Während die ersten Seereisen gewisse Symmetrien aufgrund der Größenverhältnisse anzeigen, lassen sich die zwei letzten Fahrten hinsichtlich des Vernunftgebrauchs der Einwohner vergleichen. Laputas König, der jegliche Bodenhaftung verloren hat, regiert sein Reich von einer fliegenden Residenz aus und wird dabei von Mathematikern beraten, die so sehr in ihre nutzlosen Abstraktionen versunken sind, dass sie ihre unmittelbare Lebenswirklichkeit nur dann wahrnehmen, wenn sie von den Climenolen Schläge auf den Hinterkopf erhalten, welche ja bekanntlich das Denkvermögen erhöhen. Swift kontrastiert die Wissenschaftsgläubigkeit des Menschen und seinen aufklärerischen Hochmut mit unserer durch die Erbsünde entstellten Natur, um allzu optimistische Auffassungen vom Homo sapiens zu korrigieren. Sämtliche Bewohner des Herrschaftsbereichs leiden unter der verfehlten Bildungspolitik: Entweder sind sie vom Forscherdrang besessen (und versuchen beispielsweise ihre Exkremente in die ursprüngliche Nahrung zurückzuverwandeln) oder werden zur Dekultivierung der Agrarlandschaft angestiftet. Jeder ist eine Monade des Wahnsinns. Lord Munodi, der einzige normale Bürger Balnibarbis, gerät mehr und mehr unter Druck, seine privaten Besitzungen gemäß staatlichen Vorgaben zu verunstalten. Chaos statt Ordnung sind die Folge einer Politik, welche die Subsidiarität als Prinzip christlicher Gesellschaftsordnung außer Acht lässt. In Luggnagg, einem anderen Eck des Reichs, wird der Protagonist ausgelacht, weil er die Unsterblichkeit der Struldbruggs bewundert, ohne zu ahnen, dass sie trotzdem altern und hinfällig werden. Während Gulliver den Tod als Folge der Sünde betrachtet, erweist er sich hier als Voraussetzung für Erlösung, weil er dem irdischen „Jammertal“ eine zeitliche Begrenzung setzt. Schließlich macht der Reisende in Glubdubdrib die Bekanntschaft mit verstorbenen Persönlichkeiten der Antike, etwa dem Cäsarenmörder Brutus, der im Vergleich zu den Helden der neueren englischen Geschichte wie ein wohltätiger Gentlemen wirkt.
Nach all diesen ernüchternden Erfahrungen scheint Gulliver zu guter Letzt doch noch das Paradies entdecken zu dürfen: Auf der vierten Insel übt jeder die Nächstenliebe, strebt nach Tugend; Lüge und Krieg sind ebenso unbekannt wie die Furcht vor dem Tod (denn hier bedeutet er Heimgang). Die Einwohner zeichnen sich durch Schnelligkeit und Kraft aus, sie sind mit praktischer Vernunft ausgestattet und stehen mit allen vier Beinen fest auf der Erde. Bei den Houyhnhnms handelt es sich nämlich um Pferde, deren einziger Mangel in ihren Knechten besteht: den Yahoos, denn diese sind hässlich, falsch, böse, humanoid – ein Symbol für den gefallenen Menschen. Mit welch spitzer Feder Lemuel Gulliver im fünften und sechsten Kapitel seines letzten Berichts die eigene Spezies und all ihre Versuche beschreibt, mittels Politik die Welt zu verbessern, soll der Lektüre des interessierten Lesers vorbehalten bleiben. Diese Episode bildet den Höhepunkt seiner Logbuch-Eintragungen und liegt bei „Audiobuch“ unter dem Titel „Gullivers Reise zu den Houyhnhnms“ als wirklich meisterhaft gesprochene Tonkonserve vor. Eine gekürzte Lesung aller vier Fahrten hat Rufus Beck für das „Silberfisch“ Label des „HörbuchHamburg“ aufgenommen. Vielleicht fällt es auf diese Weise leichter, immer wieder zu den vier sonderbaren Inseln zurückzukehren.
George Orwell bekannte, jedes Jahr in diesem Werk geschmökert zu haben, denn es bedeutete ihm „mehr als irgendein anderes Buch, das je geschrieben wurde.“ Jene, die immer noch glauben, durch Veränderung gesellschaftlicher Strukturen den Sündenfall ungeschehen zu machen, erhalten von Swift einen Schnell-Kurs in christlicher Anthropolgie, sozusagen eine Exemplifikation von Genesis 8,21.
Jonathan Swift: Gullivers Reisen. Insel Taschenbuch, Frankfurt am Main 1996, 464 Seiten, ISBN-13: 978-3458317-586, EUR 10,–
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