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Curt Siodmak mußte vor 60 Jahren Deutschland verlassen ­ zur Berlinale, die ihn mit einer Retrospektive ehrt, kehrt er noch einmal zurück VON GUNDOLF S. FREYERMUTH: Er hat sein Gehirn nach Kalifornien verpflanzt

Curt Siodmak mußte vor 60 Jahren Deutschland verlassen ­ zur Berlinale, die ihn mit einer Retrospektive ehrt, kehrt er noch einmal zurück VON GUNDOLF S. FREYERMUTH: Er hat sein Gehirn nach Kalifornien verpflanzt

LOS ANGELES, im Februar. "Folgen Sie der Old River Road, aber bloß nicht bis zum Ende, sonst landen Sie auf dem Friedhof! Ich warne Sie, die behalten die Leute gerne gleich da", erklärte Curt Siodmak am Telefon. Er sprach Anglo-Sächsisch ­ amerikanische Sätze im Tonfall Dresdens, jener fernen, versunkenen Stadt, in der er 1902 geboren wurde, als dort noch Seine Majestät König Friedrich August regierte.Siodmaks Warnung beherzigend, bogen wir also haarscharf vor dem Gottesacker ab, und es war, kaum vier Autostunden von dem 15-Millionen-Menschen-Moloch Los Angeles entfernt, als glitten wir in ein Gemeinschaftsgemälde von Henri Matisse und Norman Rockwell: eine liebliche Schlucht mit hohen alten Bäumen, deren dichtes Blätterwerk vor der golden gleißenden Sonne schützte, kühles Flußrauschen, eine enge Brücke, Grillenzirpen den Berg hinauf bis zu dem versteckten Ranchhaus.Curt Siodmak, ein schlanker Mann mit wenig Haaren auf dem Kopf, viel Lächeln um die Lippen und der Aura existentieller Ungeduld, erwartete uns in der Tür. Neben ihm erschien Henrietta. "Mein größtes Verdienst ist, daß ich diese Frau geheiratet habe", stellte er sie mit dem Stolz des Frischverliebten vor. "Aber mit einem Engel zu leben, ist natürlich nicht immer leicht."Ein Stück ParadiesDas war bei unserer ersten Begegnung vor ziemlich genau zwölf Jahren. Damals war Siodmak 83 Jahre alt. Nun ist er 95, doch an seinem Leben hat sich wenig geändert. Hinter der Glasfront des Wohnzimmers liegt immer noch die weite, menschenfreie Ferne aus sandbraunen Hügeln, am Horizont leuchtet die Bergkette mit ihren schneeweißen Gipfeln, darüber treiben Wolkenflocken wie aus Zucker. Kurzum: die Old South Fork Ranch ist weiterhin ein Stück Paradies auf Erden.Die Wand von Curts Arbeitszimmer schmücken allerdings statt einem nun zwei gerahmte Schreiben. Das erste, das schon immer da hing, schickte der Leipziger Wilhelm Goldmann Verlag im Jahre 1937: "Ich teile Ihnen mit, daß sämtliche Bestände Ihres Buches durch die Geheime Staatspolizei beschlagnahmt wurden. Mit vorzüglicher Hochachtung " Das zweite, erst 1992 dazugekommen, ist die vom Bundespräsidenten gezeichnete Verleihungsurkunde des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse."Den Orden", sagt Siodmak, "habe ich zur Belohnung dafür bekommen, daß sie mich damals nicht gekriegt haben."Der Spott allerdings verbirgt eine gewisse Befriedigung. Zu ihr trägt das Verdienstkreuz ebenso bei wie das Erscheinen seiner Autobiographie "Unter Wolfsmenschen" und der Ankauf seines persönlichen Archivs durch die Berliner Kinemathek. Sie wird den Schriftsteller ­ wie auch seinen 1973 verstorbenen Bruder, den Filmregisseur Robert Siodmak ­ bei der Berlinale zudem mit einer Retrospektive ehren.So schließt sich langsam der Kreis von Curt Siodmaks abenteuerlichem Leben. Denn in Berlin begann einst seine Karriere. Hier studierte der geborene Dresdner, Sohn eines jüdischen Pelzhändlers, Mitte der 20er Jahre Mathematik. Hier schlug er sich nach der Promotion als findiger Reporter durch ­ um Fritz Lang bei den Dreharbeiten zu "Metropolis" zu beobachten, bewarben er und Henrietta sich als Statisten. Und hier, in der vibrierenden Weimarer Metropole, hatte er auch die Idee zu "Menschen am Sonntag" (1929), dem klassischen Berlin-Film, dessen schmales Budget er größtenteils vorstreckte ­ Bruder Robert führte Regie, Freund Billie, der sich später Billy Wilder nannte, steuerte das Drehbuch bei.Filme mit Rühmann und AlbersDer Erfolg trug den Beteiligten Ufa-Verträge ein. Curt Siodmak schrieb Drehbücher für den Blaue-Engel-Produzenten Erich Pommer; unter anderem die Vorlage zu "Der Mann, der seinen Mörder sucht", dem Film, der 1930 Heinz Rühmann bekannt machte. Wichtiger aber war, daß ihm damals auch das erste Dutzend seiner Novellen und Romane gelang: "Helene droht zu platzen" etwa, "Schuß im Tonfilmatelier" und vor allem der Zukunftsroman "F. P. 1 antwortet nicht". Er wurde 1932 in Babelsberg gleich dreisprachig verfilmt, in der deutschen Version spielte Hans Albers die Hauptrolle.Als das Werk in die Berliner Kinos kam, war die Welt des 30jährigen Jungschriftstellers allerdings längst nicht mehr in Ordnung. "Ich habe in der Pfalzburger Straße gewohnt", erzählt Siodmak. "Da lag ich im Dunkeln, viele Nächte, und hab· nicht gewagt, das Licht anzumachen. Draußen zogen die Nazis mit ihren Fackeln vorbei. Nie werde ich vergessen, wie sie grölten: ,Wenn das Judenblut vom Messer spritzt ""Keinen Tag länger bleibe ich in Deutschland!" beschloß Henrietta damals, und heute noch wiederholt die schlanke weißhaarige Frau, Nachkommin eines alten Schweizer Adelsgeschlechts, diesen Satz mit soviel Nachdruck, als seien nicht sechzig Jahre, sondern nur sechzig Tage vergangen.Wie sein Bruder Robert, wie Billy Wilder und Erich Pommer, wie so viele Freunde retteten sich Curt und Henrietta Siodmak ins Exil. Die erste Station war Paris, später gingen sie nach London.Weder in Frankreich oder England, wo ihr Sohn Geoffrey geboren wurde, erhielten die Hitler-Flüchtlinge jedoch eine dauerhafte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Curt Siodmak mußte als schriftstellernder Wanderarbeiter zwischen den Staaten pendeln. Er lieferte Vorlagen zu erfolgreichen Filmen, darunter "La Crise est finie" mit Danielle Darrieux und "Girls will be Boys" mit Dolly Haas, und er schrieb noch einen Roman auf Deutsch: "Die Macht im Dunklen", in dem er den Eroberungskrieg der Nazis gegen Polen vorhersah.Doch als das Buch 1937 in der Schweiz erschien, war der Autor bereits auf dem Weg nach Amerika. "Henrietta drängte mich. Sie sah klarer als ich, daß in Europa keine Zukunft mehr war." Dank seiner Ufa-Erfahrung brauchte er nur ein Jahr, um sich soweit zu etablieren, daß er Frau und Kind aus London nachholen konnte. "In Hollywood sprach keiner richtig Englisch. Deswegen kam ich durch, bis meine Sprachkenntnisse ausreichten, um wieder Literatur zu schreiben."Siodmak kam allerdings nicht nur durch, wie er bescheiden behauptet. Ihm gelangen, stellt der US-Literaturwissenschaftler David Miles fest, "einige der populärsten und erfolgreichsten Science-fiction- und Horrorgeschichten, die die Phantasie der Amerikaner in diesem Jahrhundert anregen konnten".Vor allem seine Drehbücher zu den billigen B-Horrorfilmen der Kriegsjahre mischen auf einzigartige Weise Elemente der Schauerromantik mit denen des deutschen (Stummfilm-)Expressionismus, des Stils seiner Generation. "The Wolf Man" (1941) mit Lon Chaney und Claude Rains, Jacques Tourneurs "I walked with a Zombie" (1942) und "Son of Dracula" (1943), bei dem Bruder Robert Regie führte ­ das sind mittlerweile Kultfilme.Gemeinsam ist ihren Stoffen ein Gedanke der griechischen Tragödie ­ Harmatia, das menschliche Leiden unter den Launen der Götter. "Wir alle tragen Harmatia in uns", erklärte Curt Siodmak 1991, im Prachtband zum 50. Jubiläum von "The Wolf Man": "Über dem Leben selbst lastet der Fluch des Wolfsmannes: leiden zu müssen, ohne selbst schuldig zu sein."Die Ehren, die er als "König der B-Filme" einst ernten würde ­ die US-Post brachte kürzlich gar eine Wolfman-Sondermarke heraus ­ waren in den Jahren, da der Flüchtling ums finanzielle Überleben schrieb, kaum vorauszusehen. Und ihm auch ziemlich gleichgültig. "Literatur interessierte mich mehr." Sobald er sich seiner neuen Muttersprache halbwegs sicher fühlte, begann er daher mit einem amerikanischen Roman. Die Liste der Verlage, die das "Erstlingswerk" ablehnten, war lang. Doch 1942 nahm das legendäre Black-Mask-Magazin "Donovan·s Brain" zum Vorabdruck an, und Chandler-Verleger Alfred Knopf publizierte die Buchausgabe. Der Rest ist, wie man sagt, Geschichte: Der Science-fiction-Roman über die erste Gehirntransplantation wurde in Dutzend Sprachen übersetzt und über fünf Millionen Mal verkauft, er wurde von Orson Welles fürs Radio adaptiert und auch viermal verfilmt ­ die zahllosen Kinowerke nicht gerechnet, die die Idee klauten, ohne die Rechte zu erwerben.Er wechselte die SpracheCurt Siodmak schaffte so, was nur wenigen Schriftstellern je gelang: Er wechselte die Sprache. Heute, unzählige Kurzgeschichten und ein halbes Dutzend Romane später, ist Siodmak der vielfach ausgezeichnete Doyen der US-Science-fiction. Generationen von jungen Autoren sind mit seinen Phantasien aufgewachsen und zählen zu seinen Bewunderern."Seinen spekulativen Gedankengängen in Donovan·s Brain zu folgen", schreibt etwa Horror-Meister Stephen King, "ist so aufregend wie den Gedankengängen in den Romanen von Isaac Asimov oder Arthur C. Clarke zu folgen. Nur hat keiner dieser hochgeschätzten Herren einen Roman geschrieben, der Donovan·s Brain gleichkäme."Vielleicht, weil kaum ein Autor je so vollständig das eigene Gehirn verpflanzte ­ von einer Kultur in die andere? "Als ich nach Amerika kam, begann mein Leben von vorne", sagte Curt Siodmak vor fünf Jahren, am Abend seines 90. Geburtstags. "Deshalb bin ich noch nicht alt, kaum 60, jünger als mein eigener Sohn."Im Wohnzimmer der Old South Fork Ranch standen dichtgedrängt Freunde und Verwandte, Überlebende und Nachkommen. Die gute Hälfte der Gäste wußte aus eigener Erfahrung, was Siodmak meinte. Man hörte Englisch mit hartem Einwanderer-Akzent, und in den Gesprächen schien die Ranch nicht in Kalifornien zu liegen, sondern im Exil, begrenzt von einer Mauer aus Zeit, einem Todesstreifen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.Das verlorene LebenErst stieg aus Erinnerungen und Erzählungen die Kultur des liberalen deutschjüdischen Bürgertums als schöner Geist aus dem Grab der Geschichte. Da waren die großstädtischen Salons, die Literatur, die Theaterpremieren und die Hoffnungen, die ein jeder für sein Leben gehegt hatte. Und dann kam die Zerstörung dieser Hoffnungen, die verratenen Freundschaften, die Gewalt, die abgelaufenen Pässe, die illegalen Grenzübertritte, das verlorene Leben, die Alpträume vom Schicksal der Freunde und Verwandten in den Lagern, von ihrer Vernichtung in den Öfen.Stunden vergingen, bis wir wieder auf der anderen Seite der Zeit auftauchten, in Kalifornien, wo inzwischen ein diamantenklarer Himmel über der warmen Sommernacht glitzerte. "Nichts ist 100prozentig", sagte Curt Siodmak, als wir vor die Tür traten, und machte eine Geste hinauf in die Berge, dorthin, wo ihre Gipfel an die Sterne stießen: "Aber das hier ist so nahe an 100 Prozent, wie man nur kommen kann."Weder Hitler noch Harmatia obsiegten eben, und statt des finsteren Schicksals, das ihm falsche Götter zugedacht hatten, fand Curt Siodmak zweimal im Leben sein Glück ­ in Henrietta und in Amerika."Wie oft schaue ich über meine wunderschönen kalifornischen Hügel", lächelte er, unversöhnt glücklich, "und denke: Heil Hitler, ohne diesen Dreckskerl säße ich nicht hier."