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Zukunft des Journalismus: Labor für multimediales Erzählen

Zukunft des Journalismus: Labor für multimediales Erzählen

Leser des Spiegel haben in den vergangenen Wochen viel Privates über den Reporter Cordt Schnibben erfahren. Was ihn verfolgt und woran er verzweifelt. Was er liebt und womit er zu kämpfen hat. Bei den Vorarbeiten zu der Geschichte „Mein Vater der Mörder“ über seine Nazi-Eltern erfuhr auch Schnibben viel Neues über sich, das er verkraften musste. Es waren lange, schmerzhafte Recherchen, die sein Bild seiner Eltern korrigierten und ihn Tränen kosteten. Oft kämpfte der Sohn mit dem Reporter, ob er das wirklich alles veröffentlichen soll. Am Ende siegte der Reporter. „Ich wollte mich von einer Last befreien“, sagt er.

Ein wenig geholfen hat Schnibben Distanz zur eigenen Geschichte, indem er sich auf handwerkliche Fragen konzentrierte: Wie erzähle ich das? Wie erreiche und halte ich Aufmerksamkeit? Wie interessiere ich Leute, die das gedruckte Heft kaum lesen? Wie sieht eine neue Dramaturgie des journalistischen Erzählens aus?

Cordt Schnibben liebt schwierige Stoffe. Berge von Material, die den Autor unter sich begraben. Die er bezwingen muss. Noch immer im Gedächtnis ist seine Titelgeschichte von 1991 über Dioxin und die Rolle des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker; später erzählte er Geschichten vom Anschlag des 11. September 2001, vom Irak-Krieg, der Tsunami-Katastrophe und der Bankenkrise jeweils im Heft und in Büchern. Die Details trug eine ganze Gruppe von Reportern zusammen, Schnibben setzte schon damals wie bei einem Film im Schneideraum Szenen und Schauplätze zusammen.

Ziel im Labor: Zeit sparen

Heute würde er seine Geschichten von einst wohl als alte Dramaturgie bezeichnen. Seit vielen Monaten beschäftigt er sich mit Fragen, wie man heute erzählen soll. Bei Seminaren des Reporterforums oder des Netzwerks Recherche spricht er davon, dass Leser ständig abgelenkt sind, dass man sie sich wie junge Hunde vorstellen müsse, die eigentlich spielen möchten. Journalisten aber möchten aufmerksam gelesen werden. „Wir wollen relevante Themen so erzählen, dass wir möglichst viele Leser erreichen.“

Die als Vorbild hochgelobte, in monatelanger Arbeit produzierte und mit dem Pulitzer-Preis gekrönte Erzählung „Snow fall“ der New York Times sei nicht alltagstauglich. „Multimediales Erzählen funktioniert auf die Dauer nur, wenn es sich finanzieren lässt.“ Sein Fazit über die ambitionierten Multimedia-Projekte: „Es kostet zu viel, vor allem zu viel Zeit.“

Deshalb hat Chefredakteur Wolfgang Büchner ein Labor für multimediales Storytelling eingerichtet. Ziel ist, Zeit zu sparen. 15 Leute treffen sich jeden zweiten Dienstag und beraten, welche Projekte sich eignen. Sie experimentieren und entwickelten acht oder neun Grundformen, Vorlagen und Werkzeuge. Wie bereite ich Akten auf, wie Daten, wie setze ich Zeichnungen ein? Damit das Rad nicht jedes Mal neu erfunden werden muss.

Da ist die Geschichte des Werwolfs, seines Vaters: Im Video, das auf Spiegel TV lief, folgt der Zuschauer Cordt Schnibben im Auto ins niedersächsische Dötlingen. Schnibben erzählt: „Vor dieser Fahrt habe ich mich lange gedrückt.“ Zehn Jahre. Als sein Vater Georg starb und er das Haus ausräumte, fand er Unterlagen, wonach der Vater zwei Tage vor Kriegsende zusammen mit anderen Nazis einen Bauern erschossen hat. Jetzt sieht der Sohn sich den Tatort an und recherchiert die Umstände. Im gedruckten Heft läuft der Text über elf Seiten; in der Version für Computer, iPad und Smarttelefon hat er ihn auf die Hälfte gekürzt. Weitere Versionen produzierte er als Anreißer für den Spiegelblog.

Dabei spielt er mit den Rollen und Protagonisten, aus dessen Perspektive er erzählt. Im Heft ist der Vater der Protagonist und der Sohn der Erzähler. Auf Spiegel TV und im Spiegelblog ist der Sohn Protagonist und Erzähler. Eine zentrale Rolle in allen Versionen spielt deshalb das Schild, das auf dem Opfer seines Vaters lag: „Wer sein Volk verrät, stirbt.“ Schnibben fand es in fünf Kartons, zusammen mit Gerichtsprotokollen aus vier Prozessen. „Es ging darum, Akten sichtbar zu machen. Ohne Bilder ist das kompliziert.“

Eine Geschichte - 900.000 Klicks

Mal beschreibt er das Schild in einer Szene als Einstieg, mal nutzt er es zur Illustration. Auf dem iPad erzählt er die Geschichte mit Hilfe vieler Zeichnungen, die eine Grafikerin anfertigte. Künftig kann der Spiegel für solche Zeichnungen auf eine Vorlage zurückgreifen.

Die Version für iPad und iPhone unterschied sich deutlich von der Fassung im Heft. Sie enthielt nur die Hälfte an Text; pro Klick auf jeder Seite nur ein Bild oder eine Zeichnung und ein Satz. Das wars. Leser konnten sich durch Briefwechsel zwischen Vater und Mutter klicken, den Schnibben mit Hilfe seiner Schwester aufbereitete und von Sprechern vertonen ließ. Spiegel Online veröffentlichte außerdem eine Reihe von Geschichten anderer Täterkinder und Hinweise für Leser, die Nachforschungen über ihre Familie anstellen wollen.

Vergangene Woche erzählte Fußballfan Schnibben vom Niedergang des SV Werder, der beispielhaft für eine Reihe ehemaliger Spitzenmannschaften sei. Sechs Mitarbeiter waren zehn Tage beschäftigt, fuhren zu einem Spiel und sammelten Statements ein. Schnibben schrieb vier Seiten („Der grüne Virus“), dazu eine Geschichte auf Spiegel Online im Hausblog, die Teile des gedruckten Textes enthält; Grafiken bereiten viele Daten auf. Er setzte auch soziale Medien ein. Die Veröffentlichung begann mit einem Hinweis auf seiner Facebook-Seite, dann verschickte er Hinweise über Twitter, sodass Werder-Fans sie weiter empfehlen.

Diesmal brachte er den Text aus dem Heft ungekürzt aufs iPad. Dazu musste er ihn völlig neu strukturieren und in eine Vielzahl von Illustrationen und Videos einbetten. Am Mittwochnachmittag ging „Der grüne Virus“ online – binnen vier Stunden generierte er fast 900.000 Klicks – am Freitag waren es 1,8 Millionen. Schnibben wollte an die 100.000 Twitter-Follower des Vereins herankommen, und das sei ihm teilweise gelungen. Viele empfahlen seine Geschichte; er gewann 300 neue Follower auf Twitter. Nun leiden sie gemeinsam.