Die Slawistin Serena Vitale balanciert gern auf der Grenze zwischen Literatur und Wissenschaft. Schon ihr Roman &quot;Puschkins Knopf&quot;, der in Italien gro&szlig;e Aufmerksamkeit fand und auch auf Deutsch vorliegt, war eigentlich kein Roman, sondern eine kriminologische Untersuchung von Puschkins Tod. Vitale war in einem Privatarchiv auf Briefe von Puschkins Duellgegner George d Anth&egrave;s gesto&szlig;en, die diesen in einem g&uuml;nstigeren Licht erscheinen lie&szlig;en, als man es aus der russischen Literaturgeschichtsschreibung gewohnt war (in der d Anth&egrave;s einzig die Rolle des B&ouml;sewichts zugewiesen wird). Ihre Forschungsergebnisse hatte Vitale in die Form eines Kriminalromans gebracht; durch geistreiche Mutma&szlig;ungen &uuml;ber m&ouml;gliche Intrigen gegen den Dichter sollte allerdings weniger ein R&auml;tsel um Puschkins Tod aufgel&ouml;st, als das Bild einer Gesellschaft gezeichnet werden.Auch in &quot;Der Eispalast&quot; verwischt die Literaturwissenschaftlerin und &Uuml;bersetzerin die Grenze von Literatur und Historiografie. In zwanzig knappen Kapiteln portr&auml;tiert sie kunstvoll historische Personen aus dem 18. und fr&uuml;hen 19. Jahrhundert, die es an Originalit&auml;t mit Figuren der russischen Literatur aufnehmen, ja als deren Vorlage h&auml;tten dienen k&ouml;nnen.Zum Teil haben sie das sogar: Fjodor Iwanowitsch Tolstoi etwa, genannt &quot;Der Amerikaner&quot; - weil ihm seine grausam draufg&auml;ngerischen Scherze einen unfreiwilligen Aufenthalt auf den Aleuten einbrachten -, ein Onkel Leo Tolstois und Zeitgenosse Puschkins, taucht als Nebenfigur in dessen &quot;Eugen Onegin&quot; auf.Man begegnet Gestalten wie dem legend&auml;r reichen Prokopij Akinfjewitsch Demidow, der sich im Sterben so sehr nach Schnee sehnte, dass er die zwei Werst lange Allee vor seinem Landhaus mitten im Sommer mit Salz bestreuen lie&szlig;, um dann auf seinem Schlitten zwischen den sorgf&auml;ltig entlaubten Birken hindurchzusausen; oder die Gutsbesitzerin Saltykowa, die so unerh&ouml;rt grausam zu ihren Leibeigenen war, dass sie drei Jahrzehnte in eine unterirdische Zelle im Moskauer Kloster des T&auml;ufers eingesperrt wurde und Katha rina II. erwog, sie &ouml;ffentlich zum Mann zu erkl&auml;ren. Oder den F&uuml;rsten Michail Alexejewitsch Golicyn, den Kaiserin Anna erst zum Hofnarren machte und dann zwang, in einem eigens auf der Newa errichteten Eispalast auf einem Eisbett ein h&auml;ssliches kalm&uuml;ckisches Klatschweib zu ehelichen.Es bleibt dem Leser &uuml;berlassen, wie er diese kurzen Portr&auml;ts lesen will - als Geschichtsschreibung oder als Literatur. Dass man hier das &quot;untergegangene Russland&quot; kennen lerne, wie der Klappentext formuliert, stimmt nur bedingt. Die grausame Saltykowa, genannt &quot;Saltytschicha&quot;, ist f&uuml;r das Russland ihrer Zeit etwa so repr&auml;sentativ wie Jack the Ripper f&uuml;r das viktorianische London, so hat es der Russland-Historiker Richard Pipes formuliert. Und die historischen Quellen, die Vitale benutzt hat, sind zum Teil selbst schon so literarisch gearbeitet, dass ihre historische Aussagekraft eingeschr&auml;nkt ist.Das aber tut der Darstellung keinen Abbruch, und Vitale hat es durch einen ausf&uuml;hrlichen Anhang dem - des Russischen kundigen - Leser erm&ouml;glicht, ihre Quellen selbst zu pr&uuml;fen. Das zeugt von mehr historischen Sachverstand als die Idee des Verlages, im Einband den Stammbaum nicht nur der Romanows, sondern auch der Rurikiden abzudrucken, die mit dem in Frage kommenden Zeitraum nun gar nichts zu tun haben. Vor allem aber hat Vitale diesmal nicht den oft s&uuml;&szlig;lichen Tonfall von &quot;Puschkins Knopf&quot; gew&auml;hlt. Sie trifft - und auch die &Uuml;bersetzung trifft - den bezaubernden Stil der Anekdote, der Chronik, der Burleske.Serena Vitale: Der Eispalast. Zwanzig Geschichten aus Russland. Aus dem Italienischen von Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 2001. 263 S. , 19 Euro.

Serena Vitale porträtiert russische Originale: Zwei Werst Salz statt Schnee

Russland

Italien

Stil

Puschkin

Dieser neueste Band der gro&szlig;en Monografie zum Berliner Schloss ist in keiner Beziehung leicht zu nehmen. Das in zwei Einzelb&auml;nden von Goerd Peschken und Liselotte Wiesinger vorgelegte Werk zu den barocken Innenr&auml;umen in der Zeit des ersten preu&szlig;ischen K&ouml;nigs Friedrich I. ist schwer, teuer - und hart zu erarbeiten. Seitenlang erstrecken sich detaillierteste Beschreibungen fast ohne jede Interpretation. Sie werden nur aufgelockert durch den manieriert die Kunst Schl&uuml;ters genie&szlig;enden, nicht uneitlen Stil Peschkens, der sich der Architektur der barocken Innenr&auml;ume gewidmet hat. Vor allem die Decken und Deckenvouten sowie die wenigen innenarchitektonischen Elemente wie Kamine stehen dabei im Vordergrund, die bis in das Fotozeitalter &uuml;berlebt haben. Wiesinger erz&auml;hlt leichter, aber auch weniger impulsiv, hat eine Leidenschaft f&uuml;r ausf&uuml;hrlich zitierte Originaltexte und Inventare. Sie behandelt die Innendekorationen und -ausstattungen.Um die Analysen und historischen Thesen zu verstehen, muss man zu den beiden ersten B&auml;nden der Schlossmonografie greifen. Ein gro&szlig;er Tisch lohnt also, zumal wenn noch die - hier nur teilweise wiedergegebenen - historischen Farbaufnahmen von den barocken Deckenbildern hinzutreten sollen, die Wiesinger vor einigen Jahren ebenfalls im Deutschen Kunstverlag herausgegeben hat.Fotos und wenige Zeichnungen sind die wichtigsten Dokumente zur Schlossgeschichte. Entsprechend wird vor allem der schwere, vorz&uuml;glich gedruckte Tafelband die Forschung und die Debatten um den Wiederaufbau bereichern. Tats&auml;chlich wirkten viele Abbildungen wie eine Vorlage f&uuml;r Rekonstruktionszeichnungen. Leider sind die Fotos weder datiert noch mit einer Erl&auml;uterung versehen, die erkl&auml;ren, warum die Aufnahmen von wem und wann gemacht wurden. (nb. )Goerd Peschken, Liselotte Wiesinger: Das K&ouml;nigliche Schloss zu Berlin. Band III: Die barocken Innenr&auml;ume. 392 S. , ca. 540 Abb. , 130 Euro. Bis 31. 1. 02 k&ouml;nnen alle drei erschienenen B&auml;nde zum Sonderpreis von 205 Euro erworben werden. Danach kosten sie 330 Euro.

Barock im Bild

Berlin

Berliner Schloss

Friedrich I

Henri Verneuil verstand sich auf die Kurzschrift des Kinos, die Konkretion der Gesten, Blicke und Details. Man schaue sich nur einmal an, wie vielf&auml;ltig Verneuil die Zigarette, das abgegriffenste Requisit der Filmgeschichte, eingesetzt hat, um seine Figuren zu zeichnen. Gen&uuml;sslich feuchtet der junge Gangster (Alain Delon) in &quot;Lautlos ist die Nacht&quot; zun&auml;chst jede Zigarette mit der Zunge an, um sie dann in gierigen Z&uuml;gen zu rauchen. Jean Gabin streitet als alternder Patriarch in &quot;Der Pr&auml;sident&quot; um seine t&auml;gliche Nikotinration und erkennt Nichtraucher sofort an ihrer schlechten Laune. Der Kommissar in &quot;Der Clan der Sizilianer&quot; (Lino Ventura) will sich das Rauchen abgew&ouml;hnen; tagelang l&auml;uft er verdrie&szlig;lich mit einer unangez&uuml;ndeten Zigarette herum, bis er es nicht mehr aush&auml;lt.So erz&auml;hlt einer, der sich in den Hauptstr&ouml;men des Kinos aufgehoben wei&szlig; - einer, dessen Einfallsreichtum die Grenzen eines Filmgenres nicht neu definiert, weil er seine eigenen gut kennt. Der franz&ouml;sischen Kritik war Verneuil von jeher verd&auml;chtig: als Kommerzregisseur, dessen Filme nie nennenswert besser oder schlechter als ihre Drehb&uuml;cher und Romanvorlagen waren. An der Kinokasse war dieser Handwerker des Films, der weder die Konventionen noch sein Publikum verachtete, freilich mehr drei Jahrzehnte lang ein verl&auml;sslicher Wert. Henri Verneuil starb am Freitag im Alter von 81 Jahren in Paris.Als Achod Malakian wurde Verneuil am 15. Oktober 1920 in der T&uuml;rkei geboren. Seine armenische Familie floh vor der Verfolgung durch die T&uuml;rken nach Frankreich, als er vier Jahre alt war. Verneuils Karriere wird gern als Erfolgsgeschichte der Integration gefeiert. Seine erste Regiearbeit &quot;Der Totentisch&quot; (1951) verdankte er der F&uuml;rsprache des Komikers Fernandel, mit dem er acht Filme drehte (darunter die Kom&ouml;die &quot;Ich und meine Kuh&quot;, die mit neun Millionen Zu- (Fortsetzung auf Seite 12).(Fortsetzung von Seite 11) schauern 1959 zu seinem gr&ouml;&szlig;ten Publikumserfolg wurde). In den 50er-Jahren erwies sich Verneuil als vielseitiger Genre-Regisseur. In dem Melodram &quot;Der Weg ins Verderben&quot; bescherte der Regisseur Gabin eine seiner melancholischsten Nachkriegsrollen, bevor er sich auf Thriller spezialisierte. Verneuils Filme belegen, dass das franz&ouml;sische Starsystem vor allem in der Kombination funktioniert: die Hauptrollen nahezu all seiner Filme der 60er hat Verneuil aus dem Quartett Belmondo-Delon-Gabin-Ventura rekrutiert. In seinen Gangsterfilmen verstrickt er sie in Rituale um Freundschaft, Ehre und Einsamkeit und l&auml;sst verschiedene Generationen den alten Widerstreit von Disziplin und Ungeduld austragen. Von den Umbr&uuml;chen der Nouvelle Vague blieb Verneuil unangefochten. Auch wenn er gegen modische M&auml;tzchen nie ganz gefeit war, blieb sein Stil, auch im moralischen Sinne, konservativ. - Verneuil vertrat ein Kino, dass sich der eigenen Sensationen gewiss ist. Nachgerade gem&auml;chlich inszeniert er auf den gro&szlig;en, spektakul&auml;ren Moment hin: die Landung des entf&uuml;hrten Flugzeugs auf einer Autobahn in &quot;Der Clan der Sizilianer&quot;, die Verfolgungsjagd &uuml;ber Metrowaggons in &quot;Angst &uuml;ber der Stadt&quot; oder das tragikomische Finale von &quot;Lautlos ist die Nacht&quot;, wo Tausende von Franc-Scheinen, die Beute eines Casino-Raubes, einen Swimmingpool &uuml;berschwemmen. Verneuil teilte mit seinen Figuren die professionelle Lust an Organisation und Logistik, den Handwerkerstolz auf minuzi&ouml;se Vorbereitung und Raffinement. Seine besten Filme erz&auml;hlen vom gro&szlig;en Coup, an dessen Ende unweigerlich Scheitern und Vergeblichkeit stehen. Einen solch abgrundtiefen Pessimismus, wie er sich durch Henri Verneuils uvre zieht, erlaubt sich das Thrillergenre heute l&auml;ngst nicht mehr.

Stil 13. Januar 2002

Serena Vitale porträtiert russische Originale: Zwei Werst Salz statt Schnee

Barock im Bild

Ein Nachruf auf den französischen Regisseur Henri Verneuil: Vom Stolz des Handwerkers