In aller Sachlichkeit kann man sagen: Es war ein Triumph. Was in dieser Zeitung schon gestern &uuml;ber Alex von Schlippenbach und seinen Monk-Abend zu lesen war, kann man auch f&uuml;r das gesamte, in der Nacht zum Montag zu Ende gegangene Jazzfest behaupten. Ein Triumph: ein gro&szlig;er Spa&szlig; und ein Neuanfang nach dem Durchh&auml;nger der letzten Jahre; und &uuml;brigens auch eine Lektion f&uuml;r den Rest der Berliner Festspiele. John Corbett hat nicht nur ein Festival kuratiert, das fast vom ersten bis zum letzten Moment restlos ausverkauft war (was f&uuml;r ein Bild in der ansonsten so verwaisten alten Freien Volksb&uuml;hne!). Er hat das mit einem Programm geschafft, das keine Kompromisse mit irgendwelchen vermuteten H&ouml;rgewohnheitsver&auml;nderungen oder Lifestyle-Oberfl&auml;chen einging. Hier hampelten keine DJs in Theater-Lounges herum, um ein Publikum anzulocken, das sich f&uuml;r diese Art von Kultur ohnehin nicht interessiert. Auf diesem Jazzfest gab es ausschlie&szlig;lich Jazz, und zwar vor allem Free Jazz: in musikalisch, manchmal auch physisch herausfordernder, streng modernistischer Weise. Auch damit aber kann man, wie in den vergangenen Tagen zu beobachten war, ein breites Publikum begeistern - wenn man zugleich (Achtung, Festwochen!) ein Konzept und eine ordnende Hand besitzt. Und wenn man ein Gef&uuml;hl daf&uuml;r entwickelt, in welchem Ma&szlig; die Freunde des &auml;lteren Modernismus ihrerseits Konservative sind und als solche angesprochen werden wollen.Corbetts Programm war ausgewogen, manchmal auch dialektisch - sowohl im Gesamtaufbau wie in der abendlichen Kombination der einzelnen Konzerte. Er hat das rechte Ma&szlig; zwischen publikumstr&auml;chtigen legend&auml;ren Typen, &quot;gro&szlig;en alten M&auml;nnern&quot; wie Charlie Haden und Roy Haynes, und energischen Erneuerern wie Jason Moran oder Ken Vandermark gefunden. Er hat aber auch den gro&szlig;en, in Berlin bisher gleichwohl nur als Legende bekannten Milford Graves auf das Jazzfest geholt. Dessen Konzert mit dem (in Berlin wiederum gut eingef&uuml;hrten) Peter Br&ouml;tzmann geh&ouml;rt zu den gl&uuml;cklichsten, aber auch gl&uuml;cklicherweise exemplarischen Momenten dieses Festivals, weil hier zwei &quot;Befreier&quot;, zwei gelegentlich auch gef&uuml;rchtete Formenzerst&ouml;rer, im Duett eine hoch affektive, geradezu eing&auml;ngige Spielweise entwickelten.Graves hat in den sechziger Jahren gewisserma&szlig;en das Free-Jazz-Schlagzeug erfunden; durch ver&auml;nderte Spielart und Umbau der Trommelkombinationen hat er das Schlagzeug wesentlich von seiner taktgebenden Funktion entbunden. Wie in Berlin zu beobachten war, benutzt er bis heute keine Snares, sondern nur eine Reihe von unterschiedlich gestimmten, stehenden und h&auml;ngenden Toms. Damit fehlen bei ihm nicht nur jene scharfen, knallenden Kl&auml;nge, anhand deren H&ouml;rer und Mitspieler &uuml;blicherweise das Metrum identifizieren. Insgesamt tritt bei Graves in den Vordergrund, was beim Schlagzeugspiel ansonsten ornamental erscheint: die Zwiesprache mit dem Instrument und das Konstellieren von Kl&auml;ngen, das Verdicken von Rhythmen zu schwingenden Sounds.Das war beeindruckend zu h&ouml;ren und zu sehen - die k&ouml;rperliche Pr&auml;senz von Graves, der sich wie eine Krake an seinen Trommeln festsaugt und sie mit H&auml;nden und F&uuml;&szlig;en, Ellb&ouml;gen und allen anderen zur Verf&uuml;gung stehenden K&ouml;rperteilen bedient, ist enorm. Beeindruckend war aber auch, wie sich diese experimentierende, dem H&ouml;rer gleichwohl unmittelbar zug&auml;ngliche Spielart auf Br&ouml;tzmanns Saxofonstil auswirkte: dieser war n&auml;mlich so klangorientiert, farbig und narrativ wie selten. W&auml;hrend Br&ouml;tzmanns Spiel ansonsten ja oft ins rein Eruptive zerf&auml;llt, gelang es Graves, seinen Partner auf gr&ouml;&szlig;ere Zusammenh&auml;nge zu orientieren - und auf eine variablere, beim H&ouml;ren aber zugleich gut nachvollziehbare Dynamik. &quot;Gleich f&auml;ngt der noch an und spielt Melodien&quot;, dachte man beim Zuh&ouml;ren oft.Und so war es stets: Die sinnlichsten und erhellendsten Momente auf diesem Jazzfest waren ganz jazzangemessen stets jene, bei denen das Publikum auf der B&uuml;hne eine Spontaneit&auml;t, ein Zusammenspiel, einen Prozess verfolgen durfte. Etwa bei dem Posaunisten und Bandleader George Lewis, der wie Balu, der B&auml;r, zwischen den Musikern seines Now-Ensembles hin und her tanzte und die Eins&auml;tze, Anregungen und Verweise (und woraus sein Dirigat noch so bestand) mit H&auml;nden und F&uuml;&szlig;en erteilte. Oder bei dem gro&szlig;en alten Schlagzeuger Roy Haynes, der die Improvisationskunst seiner Mitmusiker bis zum &auml;u&szlig;ersten ausreizte - um sich nach vollbrachter Arbeit &uuml;ber deren F&uuml;gsamkeit zu am&uuml;sieren: &quot;Die Jungs, die spielen einfach alles.&quot; Es war aber auch bei dem jungen Saxofonisten Ken Vandermark so, den man gleich zweimal zu h&ouml;ren bekam. In dem Trio Spaceways Inc., das am Sonntagabend im Quasimodo das letzte Jazzfest-Konzert absolvierte, improvisierte er um einige Medleys aus Sun-Ra- und George-Clinton-St&uuml;cken herum - und brillierte dabei als Solist, der vom schreienden, klagenden Coltrane-Saxofon bis zum selbstgen&uuml;gsamen Fusion-Jazz-Schweinegetr&ouml;te s&auml;mtliche Stilarten auf seinem Instrument beherrscht.Vandermark, der zweifellos die gro&szlig;e Entdeckung auf diesem Festival war, variiert dabei aber nicht nur die Sounds, sondern auch die dazugeh&ouml;rigen Stile und Spielarten: das Narrative und das Ornamentale, das ins Epische &quot;befreite&quot; Free-Jazz-Saxofon der sechziger Jahre und das Rock-Saxofon der Siebziger, das die Sounds des Free Jazz (im besseren Fall) wieder am Schema der Songstruktur reibt. In seinem zw&ouml;lfk&ouml;pfigen &quot;Territory 2&quot;-Ensemble, das am Sonnabend im Haus der Berliner Festspiele zu h&ouml;ren war, hat Vandermark diese Variationen als Bandleader noch weiter systematisiert: hier wird das Narrative ganz planhaft aus dem Ornamentalen gesch&ouml;pft. In langsam sich wiederholenden Schlaufen, wie z&auml;her L&auml;rmschlamm, w&auml;lzt die Musik sich &uuml;ber den H&ouml;rer. W&auml;hrend Vandermark in ein riesiges Basssaxofon bl&auml;st (Rohre, so dick wie in einem Heizungskeller), steuert der auch aus Postrock-Kreisen bekannte Elektronikfrickler Kevin Drumm dazu die infernalischsten Feld-, Rausch- und St&ouml;rger&auml;usche bei, die man sich vorstellen kann. Das war in seinen Grundz&uuml;gen klassisch arrangierter, sch&ouml;n gespielter Jazz, der dank seiner Basslastigkeit und repetierenden Muster dennoch klang und wirkte wie der h&auml;sslichste Death Metal - ein paar irrt&uuml;mlich im Nachmittagspublikum anwesende kleine Jungen und M&auml;dchen fingen denn auch sachgerecht an zu weinen. Sch&ouml;n!, dachte man: dass &uuml;ber aller publikumswirksamen Vers&ouml;hnung von Tradition und Moderne, von &quot;Konvention&quot; und &quot;Befreiung&quot; auch das klassisch Kinderschreckhafte an dieser Musik nicht g&auml;nzlich vergessen wurde; es geh&ouml;rt ja - zumal in Europa - zu ihrem historischen Auftrag. Es bleibt dabei: Es darf kein Spa&szlig; sein, wenn man als Kind einer Free-Jazz-Familie aufwachsen muss.Jazzfest Berlin 2002 // Rund 10 000 Zuschauer haben die 15 Konzerte besucht.Jazz aus Japan ist der Schwerpunkt des n&auml;chsten Berliner Jazzfestes, das vom 6. bis 9. November 2003 stattfindet.Peter Schulze, Journalist und ehemaliger Musikchef von Radio Bremen, wird das Jazzfest 2003 kuratieren.

Ein Neuanfang mit ordnender Hand: Das Berliner Jazzfest 2002 war ein Triumph: Die spielen einfach alles

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Die Neuk&ouml;llner Oper hat sich unter den Opernb&uuml;hnen der Stadt ein eigenwilliges Profil erarbeitet: Musiktheater f&uuml;r die, denen die gro&szlig;e Oper zu weltfremd und das kommerzielle Musical zu banal ist. Auf diesem Grat balanciert die Neuk&ouml;llner Oper nun schon ein Vierteljahrhundert und muss die geeigneten St&uuml;cke zumeist selbst verfassen. Der Neuk&ouml;llner Opernpreis ging 2002 an den rum&auml;nischen Komponisten Dan Dediu, dessen Oper &quot;M&uuml;nchhausen - Herr der L&uuml;gen&quot; am Sonntag uraufgef&uuml;hrt wurde. Darin ger&auml;t der verschuldete Titelheld auf der Flucht vor seinen Gl&auml;ubigern auf einen Jahrmarkt und begegnet dort Schaustellern, die mit seinem Namen Gesch&auml;fte machen: M&uuml;nchheim, der im M&uuml;nchhausen-Gewand die bekannten Schnurren zum Besten gibt, und die modernere Frau Kern, deren &quot;M&uuml;nchoskop&quot; mit dem Gesicht des ersten Beauty-Klons, Marilyn Monroe, auf Kundenfang geht. Um seine Schuldenlast zu erleichtern, l&auml;sst sich der Baron von Frau Kern in den Dienst nehmen. Es bekommt ihm offenbar nicht gut. Es folgen zwei Szenen, in denen er Realit&auml;t und Fantasie nicht mehr recht auseinander zu halten vermag und dann mit Frau Kern, M&uuml;nchheim, seinem Gl&auml;ubiger und seinem Diener Karl eine Firma er&ouml;ffnet, die seine Geschichten professionell vermarktet. Von ferne ahnt man, was die Richtung des St&uuml;ckes sein k&ouml;nnte - geht es um das, was Luhmann mit dem doppeldeutigen Titel &quot;Realit&auml;t der Massenmedien&quot; bezeichnete, vielleicht soll das &quot;M&uuml;nchoskop&quot; die Medien symbolisieren. Es bleibt bei Ahnungen - richtig einleuchtend gestalten das der Librettist Holger Siemann und der Regisseur Boris von Poser nicht. Warum entpuppt sich Karl pl&ouml;tzlich als K&ouml;chin, von der zuvor nie die Rede war? Was ist die Funktion der Szenen mit dem Baron im Traum-Wirklichkeits-Delirium? Beide stellen doch die gleiche Frage: Wie viel Doppelb&ouml;digkeit vertr&auml;gt ein Mensch? Die erste Szene ist immerhin auf einen absurden Punkt gebracht: In einem getr&auml;umten diktatorischen Staat beweist sich M&uuml;nchhausen als L&uuml;genbaron, indem er ein wahrheitsgem&auml;&szlig;es Bild von Elend und Unterdr&uuml;ckung im Lande malt - gegen die offizielle, sch&ouml;ngef&auml;rbte Wahrheit. Die Partitur Dan Dedius dagegen d&uuml;rfte zu den handwerklich brillantesten geh&ouml;ren, die in der Neuk&ouml;llner Oper erklungen sind. Wie abwechslungsreich allein das kleine, von Hans-Peter Kirchberg geleitete Instrumentalensemble gehandhabt wird, wie virtuos die verschiedenen Stile auf einen Nenner gebracht sind: So beginnt das St&uuml;ck mit einer Alberti-Bassfigur, aber in die hohe Lage der Piccolofl&ouml;te versetzt; am Beginn des dritten Aktes taucht die Figur zwar in ihrer angestammten Lage auf, aber in den tr&auml;gen T&ouml;nen der Bassklarinette und in ihren Intervallen mal ins Dur, mal ins Moll verdreht. Die S&auml;nger haben dankbare Partien, die von Johanna Krumin als Lisbeth und Regine Gebhardt als Frau Kern ungleich klangvoller und farbenreicher gestaltet werden als von Michael Hoffmann als M&uuml;nchhausen, Michael Bielefeldt als M&uuml;nchheim und Frank Bauszus als Gl&auml;ubiger. In einem entscheidenden Punkt jedoch &uuml;berragt Dan Dedius Musik das, was an der Neuk&ouml;llner Oper sonst gespielt wird, nicht: Das ist ihre Beflissenheit, das widerstrebende Material so zu zwingen, dass es unverkennbar zur Oper wird. Es gibt kleine Arien, geheimnisvolle Auftritte, Ensemble-Finali - alles wunderbar gemacht, aber selbst noch in den Brechungen vorhersehbar und damit bei allem Witz am Ende kleinlaut. Die Unterbewertung dessen, was Musik im Theater sein kann, h&auml;ngt auch am Genre, das die Neuk&ouml;llner Oper etabliert hat und an dem sie nun, getragen von gro&szlig;er Sympathie, vielleicht doch etwas bequem fortstrickt. Gerade von dieser Oper erhofft man sich den Impuls zur stetigen Selbsterneuerung.

Der Lügenbaron sagt die Wahrheit: Die Neuköllner Oper zeigt "Münchhausen - Herr der Lügen" von Dan Dediu: Bei allem Witz am Ende kleinlaut

Marilyn Monroe

Stil haben sie. P&uuml;nktlich zum Allerheiligen, den au&szlig;er Berlin fast alle Christenl&auml;nder zum Ausschlafen, zu Friedhofsbesuchen und zur inneren Einkehr nutzen, hat die Gewerkschaft Verdi ihren Mitgliedern ein einf&uuml;hlsames Angebot unterbreitet. In lebensfroh tomatenroten Lettern bietet der Mitgliederservice die &quot;leistungsstarke und g&uuml;nstige Gruppensterbegeldversicherung&quot; an. Aufnahme garantiert bis ins Alter von 90 Jahren, keine Gesundheitspr&uuml;fung. Wozu auch? Zum Sterben ist jeder qualifiziert. Aber eine solch direkt adressierte Aufforderung betrifft einen schon pers&ouml;nlich. Schlie&szlig;lich steht mein Name, Geburtsdatum, Adresse fertig ausgef&uuml;llt im beigelegten Formular. Ich brauche nur zu unterschreiben und eine monatliche Beitragsh&ouml;he anzukreuzen, Datum nicht vergessen. Die vorgegebenen Summen richten sich nach meinem Eintrittsalter, das sich wiederum aus &quot;Beginnjahr der Versicherung minus Geburtsjahr&quot; berechnet. Aha. Dementsprechend hoch oder niedrig finanziere ich dann ein Sterbegeld, maximal jedoch 12 500 Euro, das nach mindestens soundso vielen Beitragszahlungen, wenigstens aber - N&auml;heres im Kleingedruckten - einem Hinterbliebenen meiner Wahl ausgezahlt wird. Allerdings nicht bei Freitod oder Unfall - es sei denn, der Unfall passiert in einem &ouml;ffentlichen Verkehrsmittel, das dem Unfall &quot;selbst ausgesetzt&quot; gewesen sein muss - jedenfalls nicht innerhalb der ersten drei Versicherungsjahre, zumindest soll ich diesbez&uuml;glich eine &quot;Schweigepflichtentbindungserkl&auml;rung&quot; mit unterzeichnen. Soo alt, um das alles nicht zu verstehen, f&uuml;hlte ich mich eigentlich nun doch noch nicht. Andererseits, f&uuml;r ein traditionell novemberliches &quot;memento mori&quot; ist man nie zu jung. Von der staatlichen Rente wird unsereiner wohl nicht leben und nicht sterben k&ouml;nnen. Und sterben ist bekanntlich teuer, zumal die Rentenzusch&uuml;sse daf&uuml;r wegzufallen drohen. Einer muss den Dreck schlie&szlig;lich wegmachen am Ende. Eine Versicherung daf&uuml;r w&auml;re eine praktische, vern&uuml;nftige, eine sympathische und geradezu weise Idee. Nat&uuml;rlich muss man f&uuml;r die Sterbeversicherung auf immer in Verdi bleiben, sonst gilt das als K&uuml;ndigung der Solidargemeinschaft. So etwa wie fr&uuml;her bei den Handwerkerz&uuml;nften, wo die Witwen und Familienangeh&ouml;rigen im Fall der Not mit versorgt wurden. Diese Zunft aber ist gar nicht meine Gewerkschaft, sondern eine stinknormale kommerzielle Versicherung, f&uuml;r die Verdi die Vertr&auml;ge abschlie&szlig;t und hoffentlich richtig Prozente daf&uuml;r kriegt. Einer muss ja &uuml;berleben - und wenn es nur zum Kassieren ist.

Stil 4. November 2002

Ein Neuanfang mit ordnender Hand: Das Berliner Jazzfest 2002 war ein Triumph: Die spielen einfach alles

Der Lügenbaron sagt die Wahrheit: Die Neuköllner Oper zeigt "Münchhausen - Herr der Lügen" von Dan Dediu: Bei allem Witz am Ende kleinlaut

Grüße von Verdi