Luca Mael Milsch
Widmet sich dem Ungesagten: Luca Mael Milsch.
© Haymon Verlag / Ana Maria Sale

In vier Lebensstadien begegnen wir der Hauptfigur Selah. Einmal 1995 als Kind einer Alleinerziehenden. Einmal 2006 als junge, wütende Erwachsene, deren Selbstfindung mit Selbstzerfleischung einhergeht. Einmal 2017, als Selah zwar ein nach außen hin geregelt wirkendes Leben führt, aber in einer tiefen Depression steckt. Und ein letztes Mal 2023, als die so prägende Mutter an den Folgen einer Atemwegserkrankung stirbt.

Angst vor Ablehnung

Dabei war sie es, die ihrem Kind die Luft zum Atmen nahm: "(...) die Furcht vor deiner Ablehnung schnürt mir selbst heute die Kehle zu, wie machst du das bloß?", formuliert es Selah – aber nur für sich. Zur großen kathartischen Aussprache mit der Mutter wird es nicht kommen.

Luca Mael Milsch widmet sich in Sieben Sekunden Luft dem Ungesagten. Wenn zwei Menschen, die eigentlich dieselbe Sprache sprechen, einander nicht verstehen, weil sich ihre Welten und Ansichten darüber zu weit voneinander entfernt haben. Nicht die eine große Grenzüberschreitung, der explosive Streit, das einschneidende Erlebnis, das sich nicht verzeihen ließe, führt zum Bruch. Nur viele kleine und größere Enttäuschungen, vielleicht Missverständnisse. Selahs Mutter will das Beste für ihr Kind, will aber auch entscheiden, wie dieses Beste auszusehen hat. Pianistin soll Selah werden und irgendwann einmal Ehefrau – aber Selah macht das Klavierspielen keine Freude, und als Frau identifiziert sich diese Hauptfigur auch nicht.

Album Cover
Luca Mael Milsch, "Sieben Sekunden Luft". € 23,50 / 264 Seiten. Haymon, Innsbruck 2024
Haymon

Das Gefühl, nicht zu genügen

Mit ihren Erwartungen und Vorstellungen vom richtigen Leben engt die Mutter Selah ein und vermittelt dem sensiblen Kind das Gefühl, nicht zu genügen. In den 1995er-Passagen kann man dabei zusehen, wie das Trauma entsteht. "Mama kommt meistens spät nach Hause, weil sie eigentlich immer länger arbeitet", lässt Milsch Selah in der Stimme eines Kinds sagen. Das Kapitel beginnt also mit einem Vorwurf, der sich immer mehr erhärtet: Es fehle der Mutter an Zeit, Geld und Zärtlichkeit.

Als Selah älter wird, schränkt sie den Kontakt zu ihrer Mutter ein – und doch schwebt diese erste und wichtigste Beziehung über allen Beziehungen, die Selah führt und nicht zu führen imstande ist; die von der Mutter formulierten Richtschnüre sind für Selah Fesseln, deren Abdrücke bei aller Distanzierung immer zu sehen bleiben werden. Und auch wenn Selah als erwachsene Person die Situation, in der sich die Mutter als Alleinerzieherin befand, rational fassen kann, vermag das den frühkindlichen Schmerz nicht wegzuzaubern. Verstehen ist möglich, verzeihen aber nur in Maßen.

Luca Mael Milsch gelingt mit Sieben Sekunden Luft nicht nur ein virtuoses, weil wahrhaftiges Porträt einer Mutter-Kind-Beziehung, sondern geht der Frage, was für einen Menschen identitätsstiftend ist, nach. Klasse und Milieu, Gender und Sexualität, fester Glaube und hinterfragenswerte Glaubenssätze fließen in diese facettenreiche Collage ein, die zu Tränen zu rühren vermag, ohne dabei pathetisch zu sein. (Amira Ben Saoud, 10.5.2024)