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Thomas Hettches „Sinkende Sterne“ : Die Kraft der Verunsicherung
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Thomas Hettches „Sinkende Sterne“ : Die Kraft der Verunsicherung

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Die Alpen wie immer imposant, trotzdem stimmt etwas nicht, wie Thomas Hettches Erzähler feststellen muss.
Die Alpen wie immer imposant, trotzdem stimmt etwas nicht, wie Thomas Hettches Erzähler feststellen muss. © IMAGO/Panthermedia

Thomas Hettches „Sinkende Sterne“ ist ein Glücksfall von einem Roman

Mit diesem Buch folgt man einem Menschen in eine völlig fremde Gegend und fühlt sich gut geleitet. Der Reisende, es ist der Erzähler, der sich nennt wie der Autor selbst, Thomas Hettche, lässt seinen Blick so aufmerksam schweifen und kann ihn so gut in Worte übersetzen, dass sich die Bilder auf die Netzhaut der Leserin, des Lesers übertragen. Mit dem Roman „Sinkende Sterne“ zeigt Thomas Hettche auf berückende Weise, was Sprache kann, was Literatur kann.

Eine ganze Reihe von Themen, die unsere Gesellschaft, die Medien und die Blasen der Social Media heute beschäftigen, tauchen im Buch auf: Klimakatastrophe, Genderdebatte, toxische Männlichkeit. Sie sind hier eingeschrieben in eine Geschichte der Verunsicherung, der Selbst- und Sinnsuche. Hettche übersetzt, was einem sonst als Thesen entgegengebellt wird, in ein Zeichensystem, das Intellekt und Emotion gleichermaßen erreicht. „Sinkende Sterne“ ist von solch erzählerischer Brillanz, dass jene Stichworte wie labberige Pappkameraden umfallen.

Der Erzähler ist ins Wallis gekommen, wo zuletzt noch sein Vater gewohnt hatte, weil er vom Kastlan – einer Art Landvogt – eine Vorladung bekommen hat. Als „deutscher Staatsbürger und Besitzer einer Parzelle in der Gemeinde Leuk“, habe er „persönlich zur Einvernahme“ zu erscheinen. Er ist außerdem gekommen, weil er seine Stelle an der Universität verloren hat. Es gab Beschwerden, seine „Fixierung auf Texte eines westlichen Kanons“, sein „Beharren auf überholten Qualitätsvorstellungen“ und sein „sexistischer Sprachgebrauch verunmöglichten“ seine Weiterbeschäftigung. Sein Versuch, sein Unterrichtsthema „Die Odyssee“ der Vizepräsidentin der Universität gegenüber als in dieser Hinsicht harmlos hinzustellen, wird nur höhnisch belächelt.

Die Welt um ihn her hat sich dystopisch verändert, während er zu dem Haus fährt, in dem er als Kind alle Ferien verbrachte. Die Einreise ins Wallis ist reglementiert, Soldaten mit Maschinenpistolen kontrollieren die Insassen des Autozugs, die Vorladung muss als Ausweis dienen.

Die Gipfel der Alpen erheben sich in ihrer üblichen Imposanz, aber unten im Tal ist auf einmal ein riesiger See. Der Gast aus Deutschland versucht, sich an die Berichte über den Bergsturz zu erinnern, in dessen Folge sich die Rhone in Windeseile aufstaute und ein halbes Dutzend Dörfer flutete. „Ich hatte die Katastrophe kaum zur Kenntnis genommen und mir nicht einmal das genaue Datum gemerkt.“ Der Klimawandel findet ja immer woanders statt, nun hat der Erzähler ihn vor Augen. „Die Stille hatte die Farbe der Nacht und legte sich mir so kalt auf die Haut, dass es mich ängstigte. Drunten im Tal stieg jetzt das Schwarz aus dem Spiegel des unheimlichen Sees.“

Der Bruch in seiner Biografie, niemandes Kind mehr zu sein und an seinem Arbeitsplatz als unzeitgemäß aussortiert, führt ihn schichtweise durch Erinnerungen, die er – das ist die Prägung durch den Beruf – sogleich kulturkritisch einordnet. Er schweift, Wein trinkend, um sich blickend, von den Dichtern William Butler Yeats und Joan Didion hin zu „Star Wars“, dem ersten Film, den er im Kino gesehen hat, 1972. Und da ist klar, dass der in Berlin lebende Schriftsteller Hettche hier für seinen fiktionalen Hettche auch autobiografisch argumentiert, er ist 1964 geboren. In den Filmen der Gegenwart sind die „Star Wars“-Utopien alt geworden. Hettche schreibt: „Die Ruinen einer Welt, an deren Zerstörung meine Generation Anteil hat. Wir haben Schuld an dem, was jetzt geschieht.“

Es gibt Schwierigkeiten mit dem Haus, das der Zugereiste erst verkaufen will und dann doch lieber behalten. Er besucht den machtstrotzenden Kastlan und einen einschüchternd vornehmen Notar, der Hilfe verspricht, aber dann verschwindet. Der Mann, der sich Thomas Hettche nennt, trifft eine ungemein optimistische Jugendfreundin wieder, die ihn in die Berge führt und ihm so etwas wie Heimat gibt, mit der er Sex hat und die ihn zärtlich in Walliserdeutsch fragt: „Wä bischt dä du äso dicks cho?“ Wann er denn so dick geworden sei.

„Ich habe mich für meinen Körper immer geschämt, in dessen übergroßem Gewicht meine Herkunft, wie ich es empfand, für jeden sichtbar blieb“, wird er später denken, da sitzt er am Ufer des unheimlichen Sees. Er erinnert sich an seinen syrischen Studenten, den letzten, der ihm in seinem Literaturseminar verblieben war. Dschamil verdiente sich etwas dazu, wenn er in der Kunstsektion Modell saß, ein graziler Mann mit langen Gliedern.

Für die Schönheit und zugleich den Kulturwandel steht in diesem Roman viel deutlicher noch die Bischöfin, deren Existenz der Icherzähler zunächst heftig anzweifelt. Von ihr hingen alle Entscheidungen ab. Die Begegnung erlebt er wie einen Schock. „Sie war wunderschön und groß, und sie war schwarz.“ In ihrem „klaren, scharf geschnittenen Gesicht“ lagen die Augen unter „Lidern wie Kuppeln“, er bestaunt sie stumm, während sie von der langen christlichen Tradition des Ortes spricht. Sie öffnet vor ihm den Talar.

Kann das sein? Ja klar, das kann alles so sein. Es ist Literatur, und die Erzählerstimme zitiert aus der „Odyssee“ und aus dem Echo der Literatur- und Filmgeschichte auf Homer. Aber auch die Schauspielerin Isabelle Huppert fällt ihm ein, wie sie „Männer sind sinkende Sterne“ in einem Interview gesagt hat. Das habe ihm sofort eingeleuchtet, die wachsende Bedeutungslosigkeit der Männlichkeit mit ihrem „Gemisch aus Gewalt, Sehnsucht und Schuld“. Im Angesicht der Berge, der schwindenden Gletscher, des von Naturgewalt erschaffenen Sees, ist es die Kultur, die sein Denken leitet. Nicht als Trost, wie ein kleines Lied gegen Trauer helfen kann, sondern – das begreift man beim Lesen – als Selbstbehauptung gegenüber dem Lauf der Zeit.

Hettche verbindet die Betrachtung und den Gedankenstrom so eng, dass man sich in einer Simulation der Welt wiederfindet, die der Autor gerade erschafft. Zumal sein Ich sich in dem kaum beheizbaren Chalet die alten Hefte des Vaters greift und zum Schreiben hinsetzt. Die Sprache ist das, was den Erzähler noch wachhält, während ihn ein Schüttelfrost befällt, mit Sprache wollte er den schönen Dschamil erreichen, von dem er glaubt, dass er ein Dichter werde.

„Wenn wir lesen, ist das so, als ob wir jemanden ansähen“, sagte er dem Studenten, um ihn von der Angst vor bestimmten Worten abzulenken. „Wir schauen einem Fremden ins Gesicht. Und Fremdheit ist fast das Wichtigste an Literatur. Moral hat dabei nichts verloren, gar nichts.“ Dieser Roman lässt die Literatur um ihren Platz kämpfen gegen all die Bedenken, die Kategorien der Korrektheit, die Regeln des Nichtmehrsagbaren. „Sinkende Sterne“ ist ein Beispiel dafür, was Sprache kann, wenn man sie souverän zu nutzen versteht. Die Kunst besteht hier inmitten der gewaltigen Natur.

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