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Blick auf die Odenwaldschule nahe Heppenheim in Hessen.
Blick auf die Odenwaldschule nahe Heppenheim in Hessen. © dpa

Vom Kunsterzieher zur taz: An der Odenwaldschule missbrauchte Dietrich Willier Kinder. Unser Autor hat ihn in seiner Zeit bei der Zeitung, die Willier mitbegründete, kennen gelernt - und teilt nun seine Erinnerungen.

Dietrich Willier war Kunsterzieher an der Odenwaldschule und hat dort Kinder missbraucht. Er war einer der taz-Gründer. Er schrieb anschließend für Zeit und Stern aus Sarajevo. Danach war er unter anderem Mitarbeiter der Kindersendung „Tigerentenclub“ im SWR. 2009 starb er. Jetzt wurde bekannt, dass Willier als Lehrer an der Odenwaldschule Kinder missbraucht hat. FAZ und taz haben die Aussagen ehemaliger Zöglinge aus den Jahren 1969 und 1972 überprüft.

Ich kannte Dietrich Willier. In seiner und meiner taz-Zeit. Ich habe ihn nicht gekannt, muss ich sagen, denn ich wusste nichts von dem Reiz, den kleine Jungen auf ihn ausübten. Ich kannte ihn als einen der freundlichsten Menschen, die mir jemals begegnet sind. Ich war überrascht, als ich hörte, dass er nach Sarajevo gehen wollte. Aus Stuttgart, wo außer dem Stammheim-Prozess nichts uns Erregendes geschah, ins lebensgefährliche Sarajevo. Ich war überrascht und beeindruckt. Ich dachte nicht, dass er vielleicht weg muss aus Stuttgart. Wie ich auch nicht gedacht hatte, dass er zur taz kam, weil er weg musste aus der Odenwaldschule. Während ich seit Samstag denke, dass er wohl immer wieder irgendwo weg musste.

Wir sprachen damals viel über Sexualität. Über ihre Befreiung – wie wir das nannten. In der taz gab es damals viele, die von einer Welt ohne Verbote träumten. Sie waren leichte Opfer für Gruppen aller Art, die forderten, dass die taz sich für ihre Interessen und gegen den „repressiven Staatsapparat“ einsetzen solle. Das galt für Freunde des bewaffneten Kampfes ebenso wie für die Nürnberger „Indianerkommune“, die auch mehrfach intervenierte, um in der taz das Recht auf Pädophilie zu propagieren. Diese Auseinandersetzung zog sich über ein paar Jahre hin. Es dauerte, bis klar war, dass die taz kein Organ dieser Art von „Befreiungsbewegung“ sein wollte.

Die pädophile Propaganda dieser Jahre lautete: Der Päderast ist ein Kinderfreund, weil er bereit ist, den Kindern ihre sexuellen Wünsche zu erfüllen. Ich habe damals sicher auch mit Dietrich Willier über diese Verkehrung der Realität gesprochen. Bis vor ein paar Tagen wäre ich sicher gewesen, dass er über diese offensichtliche Projektion mit mir gelästert hatte. Heute muss ich sagen: Ich weiß nicht, was Dietrich Willier damals gesagt hat. Ich weiß jetzt nicht einmal mehr, ob er etwas gesagt hat.

Aber es ist undenkbar, dass wir niemals darüber gesprochen haben. Ebenso undenkbar ist, dass er sich für die Abschaffung der Strafbarkeit von Sex mit Kindern ausgesprochen hat. Das hätte ich ganz sicher nicht vergessen.

Hätte ich? Das Gedächtnis hat seine eigenen Kriterien. Vielleicht hat er einmal so etwas gesagt und ich habe es vorgezogen, es nicht zu hören, weil Dietrich Willier so nett war und gewissermaßen zu meiner Fraktion in der taz zählte. Mit Oral History allein lässt sich die Geschichte nicht schreiben.

Es wäre wichtig nachzusehen, wie sich Dietrich Willier in den Auseinandersetzungen zur Pädophilie äußerte. Wir haben seinen Mut, den Tatsachen ins Gesicht zu schauen, bewundert. Der wichtigsten Tatsache seines Lebens – so weit wir jetzt informiert sind – mag er immer wieder ins Gesicht geschaut haben, aber er hat sie nie öffentlich thematisiert. Wir wissen aber, dass es keine Therapie gibt ohne die Veröffentlichung.

Er habe, heißt es jetzt, nach seiner Odenwaldschul-Zeit nie wieder Kinder missbraucht. Ich weiß das nicht. Aber ich bin ganz sicher, dass niemand das weiß. Er muss sich, wenn er denn hatte aufhören wollen damit, seiner Genesung sehr sicher gewesen sein, um bei der „Tigerente“ mitzumachen. Oder aber er hatte wieder ein Betätigungsfeld gesucht.

Man kann die Geschichte der taz auch schreiben als die Geschichte von Menschen, die von allen Verboten, ja von allen Tabus befreit leben und dieses Leben propagieren wollten. In diese Geschichte gehört dann hinein, durch welche Abgründe manchmal auch klinischen Wahns diese Menschen gingen und dann nach und nach ein Tabu nach dem anderen, ein Verbot nach dem anderen, das sie für sich privat abgeschafft hatten, nun, da sie eine kleine Gesellschaft waren, wieder einführten.

Prinzipiell konnte keine gesellschaftliche Konvention – die allervernünftigste und auch die tabuisierteste nicht – im taz-Milieu einfach gelten. Sie musste „durchdiskutiert“ werden und neu begründet werden. Nicht einmal, nicht zweimal. Sondern immer wieder. Ideales Terrain für zu Recht und zu Unrecht Verfolgte, für verrückt Erklärte und für wirklich Verrückte. Pervers war kein Schimpfwort. Pervers schien – nicht nur vielen der Frauen und Männer in der taz – die Gesellschaft, die die Menschheit in Normale und Perverse einteilt.

Diese Einteilung wurde damals – ganz sicher nicht nur in der taz – in Gedanken und Taten überprüft. Mit manchmal mörderischen Folgen. Der Glaube, man könne eine Tabula rasa schaffen und darauf einen neuen Gesellschaftsvertrag schreiben, ist ein lebensbedrohender Irrtum. Nicht nur, wenn es um ganze Gesellschaften geht. Auch in Beziehungen oder in der Familie. Aber wir können und wir dürfen nicht darauf verzichten, den Status quo unserer Einteilung von Gut und Böse immer mal wieder zu überprüfen. Auch wenn wir dabei feststellen, dass es natürlich die Bösen sind, die die stärksten Interessen an dieser Überprüfung haben.

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