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Border: Ein Film über Trolle, Päderasten und Liebesspiele im Märchenwald | Telepolis

Border: Ein Film über Trolle, Päderasten und Liebesspiele im Märchenwald

Bild: © Wild Bunch Germany

Krimi, Fantastik, Transgender-Romanze - ein sehenswerter Nordic-Noire spielt gekonnt mit Genres, Mythen und den Erwartungen der Zuschauer

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Tina ist wortkarge Zöllnerin an einem Hafenterminal in Schweden, mit einer Chromosomen-Störung geschlagen, sind ihre Gesichtszüge katzenhaft und grob. Aber dafür verfügt sie über eine äußerst nützliche Fähigkeit: Sie kann die Gefühle der täglich aus der Ostseefähre strömenden Reisenden erschnuppern, insbesondere Schuld, Scham und die Angst vor der Entdeckung von Schmuggelware. So winkt sie zielsicher genau die Kandidaten zur Kontrolle heraus, bei denen ihre Kollegen dann fündig werden.

Der schwedische Zoll arbeitet gründlich und korrekt, aber mit nordischer Gelassenheit lässt man auch mal eine herunter gekommene Alkoholikerin passieren, obwohl vermutlich verbotene Spirituosen schon deutlich hörbar in ihrer Sporttasche klimpern. Im aufgeklärten, toleranten Schweden scheinen Tinas Aussehen und ihre Andersartigkeit keine große Rolle zu spielen, Diskriminierung oder gar Stigmatisierung ist nicht erkennbar, allein ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten wecken Interesse.

Border (7 Bilder)

Bild: © Wild Bunch Germany

Tinas größter Coup ist die Ergreifung eines nobel gekleideten Päderasten, bei dem sie auf fantastische Weise riechen kann, dass er Kinderpornografie auf dem Speicherchip seines Handys versteckt. Sogar die Kriminalpolizei wird nun auf Tinas Talent aufmerksam und verpflichtet sie für die weitere Jagd auf den Päderastenring. Mit ihrer kriminalistischen Nase wird tatsächlich eine Wohnung aufgespürt, in der grauenhafte Dinge geschehen.

Hermes trifft Aphrodite

Der zweite, eigentlich wichtigere Handlungsstrang führt uns in Tinas Heim, tief in den schwedischen Wäldern. Schon visuell wirken die trostlos-grauen Hafenanlagen und der sattgrüne Wald wie zwei getrennte Welten. Ihr kleines Waldhaus teilt sie mit Kampfhundtrainer Roland, wobei etwas unklar ist, ob die beiden eine Paarbeziehung pflegen. Roland hat scheinbar andere Frauen und als er sich einmal besoffen in Tinas Bett verirrt, weist sie seine amourösen Ambitionen zurück, um ihn schließlich mit einem Fußtritt zu vertreiben. Als sie ihren offenbar am Rande einer Demenz stehenden Vater im Heim besucht, fragt dieser ungeniert, ob "der Schmarotzer" Roland denn wenigstens mit ihr schlafen würde, was sie mit einem "geht dich nichts an" quittiert.

Erotisch zur Sache geht es dagegen mit dem mysteriösen Reisenden Vore, der unter der selben Chromosomen-Störung wie Tina zu leiden scheint: Seine Gesichtszüge sind ähnlich grob und katzenhaft wie ihre. Vore hat eine Maden-Brutmaschine im Rucksack und flirtet mit ihr. Bei seinem zweiten Grenzübertritt lässt sie ihn von einem männlichen Kollegen durchsuchen - obwohl ihr Spürsinn gar nicht angeschlagen hatte, vielmehr will sie neugierig in seinen Sachen herumschnüffeln und steckt ihre Nase dabei so tief in seine Hemden, dass man erotische Motive vermuten kann.

Vom Kollegen erfährt sie, dass Vores Geschlechtsorgane weiblich sind ("Eigentlich hättest du den filzen müssen"). Vore landet schließlich bei seiner Zollbeamtin im Wald und in einer märchenhaften Naturszene zeigt sich, dass Tina diejenige mit einem Penis ist. In Zeiten von Queer und Transgender ist Hermaphroditismus nicht mehr völlig überraschend, wurde aber vermutlich selten so ausgelassen-erotisch auf die Leinwand gebracht.

Eraserhead trifft Frl.Smilla

Roland wird vor die Tür gesetzt und mit Vore kommt die bislang eher angedeutete Fantastik nun wirklich in Tinas Leben. Ihr neuer Liebhaber eröffnet ihr, dass sie beide nicht nur "anders" sind, sondern von ganz anderer Art als die Menschen. Sie seien in Wahrheit Trolle - gemeint sind damit nicht nervige Netzkommentar-Schreiber, sondern die mythischen Wesen nordischer Wälder, von denen die Bezeichnung ursprünglich stammt.

Troll (altnord. Unhold), im skand. Volksglauben männl. o. weibl. Dämon oder Kobold in Riesen- oder Zwergengestalt; zu den Trollen zählen auch die Menschen, die Troll-Eigenschaften erkennen lassen, und solche, die nach ihrem Tod als Wiedergänger auftreten. Die Trolle, häufig grotesk und schreckenerregend mißgestaltet, vermögen ihr eigenes Aussehen und das anderer ständig zu verändern. Sie sind den Menschen feindlich, behexen sie mit Krankheiten und fürchten das Tageslicht, durch das sie ihre Kraft verlieren.

Brockhaus Bd.19 (1974)

Wie im fantastischen Kriminalroman "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" mischen sich übernatürliche Elemente mit Thriller-Motiven. Vore eröffnet Tina, dass die Trolle, derer er viele in den Wäldern Finnlands vermutet, von den Menschen unterdrückt werden. Seine Eltern wären in medizinischen Experimenten ermordet worden und er wolle sich dafür an der Menschheit rächen.

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Noch grusliger als durch seine Neigung, Maden zu essen, woran Tina sogar Geschmack findet, wird Vore durch ein monströses Trollbaby. Scheinbar hat Vore dies auf dem Weg der Jungfernzeugung zur Welt gebracht und hält es in einem Karton im Kühlschrank am Leben. So ein unbefruchtetes Ding komme einmal im Monat aus ihm heraus, sagt er, als Tina ihn zur Rede stellt. Hier werden Erinnerungen an den Debütfilm von David Lynch wach, Eraserhead (USA 1977), wo sich Angst und Verzweiflung in einer monströsen Frühgeburt manifestieren.

Krimiplot trifft Fantastik

Gräns tanzt surreal an der Schwelle zum Fantastischen: Hat Vore in einer folie à deux Tina mit seinen Wahnvorstellungen angesteckt? Gibt es wirklich Trolle in den Wäldern Skandinaviens? Das Wesen im Kühlschrank ist deutlich kein menschlicher Fötus, seine Nase erinnert an die Nasen Vores und Tinas und es hat einen Schwanz genau dort, wo die beiden eine Narbe haben.

Tina erfährt auf bohrendes Nachfragen von ihrem Vater, dass sie tatsächlich adoptiert wurde und ihre leiblichen Eltern in einer Anstalt starben - wie die Vores. Ihre Narbe am Steiß stamme von einer Verletzung aus ihrer Kindheit. In der nordisch-lakonischen Zeichnung der Figuren glänzt vor allem Eva Melander in ihrer sensiblen und vielschichtigen Darstellung der Tina, auch Eero Milonoff bringt den mal verführerischen, mal diabolischen Vore überzeugend auf die Leinwand.

Die Zusammenführung der beiden sehr unterschiedlichen Handlungsstränge gibt der Fantastik gegenüber dem Krimiplot den Vorzug und bleibt in diesem Rahmen immerhin halbwegs plausibel. Ähnlich geht es der Frage nach hermaphroditischer Liebe und ihren Folgen. Man kann den Plot für überfrachtet halten und den Mix der Handlungen für unplausibel; in seinem komplexen Szenario löst der Film die Verstrickungen jedoch recht elegant mit einigen überraschenden Wendungen.

Political correctness und Ängste

Freunde der political correctness könnten mit der Story ihre Probleme haben. An der Oberflächliche wirkt die fantastische Erklärung einer Chromosomen-Störung despektierlich, denn Trolle gelten als dämonische Unholde. Doch vielleicht zeigt der Film damit eher, was auch in der vorbildlich toleranten schwedischen Gesellschaft im Unbewussten vieler Menschen ablaufen könnte, wo unterschwellige Diskriminierungen lauern, wenn den vermeintlich aufgeklärten Zeitgenossen heimliche Ängste vor mythischen Trolldämonen packen.

Archaische Ängste wurzeln in tiefen Schichten des Riechhirns und die wiederholt von der Kamera fokussierte tierhaft witternde Nase der Hauptdarstellerin liefert hier ein schönes Bild für das Aufspüren tiefsitzender Furcht vor dem Anderen, dem Fremden, das man "nicht riechen kann". Dieses Andere manifestiert sich wie üblich in unschönen, ja deformierten Gesichtszügen, schiefen Zähnen, ekligen Essgewohnheiten. Aber dieses Andere schnüffelt in Gräns zurück und entlarvt unser Unbehagen, Schuldgefühle und Ängste.

Der Film bleibt letztlich bei seiner Trollgeschichte, entkräftet aber die unbewussten Ängste vor den bei aller Toleranz doch ausgegrenzten Nicht-Normalen: Tina entscheidet sich gegen Vores Rachepläne und opfert die Beziehung ihrem Pflichtgefühl als schwedische Staatsbeamtin - zumindest vorerst.

Regisseur Ali Abbasi widersetzt sich damit auf ganzer Linie den stereotypen Klischees platter Mainstream-Produktionen, in denen man "die Bösen" allein schon an ihrem abnormen Aussehen erkennen soll. Es ist ein Film, der Grenzen überschreitet und dabei die Grenzen unserer aufgeklärten Toleranz an der Nase packt.

Border (Originaltitel: Gräns), Schweden/Dänemark 2018, Originalsprache Schwedisch, 110 Min, FSK 16
Regie: Ali Abbasi, Darsteller: Eva Melander (Tina), Eero Milonoff (Vore)
Kinostart: 11.4.2019.