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Der Tod ist irreversibel | NZZ

Der Tod ist irreversibel

Birgit Dressel zählte bis zu ihrem Tod am 10. April 1987 zu den grossen Hoffnungen der westdeutschen Leichtathletik. Als Todesursache wurde ein «komplexes toxisch-allergisches Geschehen» angegeben. Salopper formuliert starb sie an einer Überdosis von Dopingsubstanzen. Doch Justiz und Sportverbände blendeten die Realität geflissentlich aus. (Red.)

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Auf dem Mainzer Hauptfriedhof hatten sich vor zwanzig Jahren 500 Menschen versammelt, die meisten von ihnen waren in Tränen aufgelöst. Ein grosser Teil der Familie des bundesdeutschen Sports war neben den Angehörigen gekommen, um den Tod einer jungen Frau zu beklagen, die noch nicht einmal ihr 27. Lebensjahr vollendet hatte. Anwesende berichteten später, sie hätten noch nie so viele gestandene Männer so hemmungslos weinen gesehen. Am 10. April 1987 war Birgit Dressel in der Mainzer Universitätsklinik nach einem langen, von unerträglichem Schmerz begleiteten Todeskampf auf rätselhafte Weise gestorben.

Panik unter den Athleten

Zum Zeitpunkt der bewegenden Trauerfeier lagen noch keinerlei Erkenntnisse zur genauen Todesursache vor. Wohl aber war bekannt, dass das Ableben der jungen Siebenkämpferin mit Medikamenten und mit Doping zu tun gehabt haben könnte. Unter Athleten, Trainern, Ärzten und Funktionären ging die Angst um. Leistungssportler aus jener Zeit berichten, viele von ihnen hätten den gesamten Inhalt ihrer Medikamentenschränke in die Toilette geschüttet und heruntergespült - gleichgültig ob es sich dabei um harmlose Vitaminpräparate oder um die auch unter westdeutschen Sportlern wie selbstverständlich eingenommenen anabolen Steroide handelte.

Birgit Dressel, die bundesdeutsche Meisterin im Siebenkampf, hatte mehr als nur Vitamine oder - gefährlich genug - Steroide eingenommen. Über 100 verschiedene Medikamente und Präparate hatten in den Monaten vor ihrem Tod im Körper der EM-Vierten von 1986 ihre Wirkungen und Nebenwirkungen entfaltet. Zuletzt, nachdem sie wegen starker Schmerzen im Rücken einen Orthopäden aufgesucht hatte, kamen bis zu ihrem Ableben in der Mainzer Universitätsklinik drei Tage später Unmengen an unterschiedlichsten Schmerzmitteln hinzu.

All dies wurde letztlich offenbar im Zusammenspiel tödlich für eine Patientin, die nach Ansicht ihres Freiburger Arztes Armin Klümper im Lauf der Jahre «eigentlich immer gesünder» geworden sei. Sie sei an einem «komplexen toxisch- allergischen Geschehen» verstorben, urteilten die medizinischen Gutachter. Dass dieses Geschehen schon begonnen haben könnte, bevor der Schmerzmittelmarathon einsetzte, vermochten sie nicht auszuschliessen. Klümper, einst Guru für zahllose westdeutsche Hochleistungssportler, hatte Dressel mit «Behandlungen» überzogen, die laut Gutachtern «erhebliche Nebenwirkungen und Allergien auslösen können»: tierische Zellpräparate, die das Immunsystem überforderten, Kombinationspräparate und Fremdeiweissapplikationen. Und, neben vielen weiteren Mitteln, anabole Steroide. Sie könnten eine Erklärung sein für die Schmerzen, die Dressel drei Tage vor ihrem Tod zum Arztbesuch bewogen hatten. Der «schmerzhafte Muskelhartspann» zählt zu den am häufigsten genannten schädlichen Nebenwirkungen beim Hormondoping.

Publikumsliebling an den EM 1986

Die gebürtige Bremerin Birgit Dressel war längst nicht mehr gesund, aber sie war paradoxerweise noch nie so gut. Nach ihrem (durch Doping begünstigten) vierten Platz an den Europameisterschaften 1986 in Stuttgart (6487 Punkte), wo sie zum Publikumsliebling avanciert war, zählte sie zu den wenigem Medaillenhoffnungen der westdeutschen Leichtathletik für die WM in Rom 1987 und die Olympischen Spiele in Seoul 1988. Und noch am 4. Februar 1987 untermauerte sie diese Hoffnungen, als sie im Trainingslager in Auckland mit 6201 Punkten eine Weltbestleistung im Stunden-Siebenkampf erzielte.

Umso grösser war der Schock, den ihr Tod auslöste. Die bewegenden Szenen bei der Trauerfeier auf dem Mainzer Friedhof und die ergreifenden Trauerreden zeugten davon. Man sollte annehmen, dass der Sport aus dem tragischen Todesfall gelernt hat. Doch weit gefehlt: Die Abkehr vieler Spitzenathleten von der medikamentösen «Unterstützung» war nur von kurzer Dauer, die Medikamentenschränke waren bald wieder aufgefüllt. Und Funktionäre wie der damalige Chef des Bundesausschusses für Leistungssport, Helmut Meyer, versicherten, «dass Birgit Dressels Tod mit Doping nichts zu tun» gehabt habe. Fortschritte bei den Dopingkontrollen kamen daher erst nach der Entlarvung des kanadischen 100- Meter-Weltrekordmanns Ben Johnson an den Olympischen Sommerspielen 1988 in Gang.

Dass das medizinische Gutachten zum Todesfall Birgit Dressel keine eindeutige Ursache identifizieren konnte, half, an einen singulären Unglücksfall zu glauben. Kritische Selbstreflexion erübrigte sich damit, so jedenfalls dachte der Spitzensport. Wer aber dennoch, wie Eberhard Munzert als Präsident des Deutschen Leichtathletik- Verbandes (DLV), von nun an ernsthaft gegen Doping vorgehen wollte, wurde weggemobbt. Munzert trat 1988 zurück: Er gehörte zu den wenigen Funktionären, die durch Dressels Tod nachhaltig aufgerüttelt worden waren.

Im Produktionsprozess der westdeutschen Medaillenschmieden, die im Vergleich zum Osten ohnehin immer mehr ins Hintertreffen geraten waren, lief bald alles weiter wie gehabt. Auf allen Ebenen innerhalb und ausserhalb des Sports griffen die Rädchen der Dopingmaschinerie westlicher Prägung wieder ineinander. Besonders erstaunlich war, wie wenig sich öffentliche Institutionen veranlasst sahen, den Todesfall einer jungen Frau als Anlass zum Einschreiten, zum Schutz wenigstens bestehender Gesetze zu nutzen. Die Mainzer Staatsanwaltschaft befand sogar, «dass selbst eine nachweisbare Gesundheitsschädigung durch die Einwilligung der Verletzten gerechtfertigt gewesen wäre».

Freipass für den verantwortlichen Arzt

Die im Grundgesetz festgeschriebene Autonomie des Sports garantierte keine solche Narrenfreiheit des Spitzensports. Falsch verstanden, erschwert sie gleichwohl die Dopingbekämpfung bis heute. Der immer stärker werdende Ruf nach einem Anti-Doping-Gesetz in Deutschland ist eine Reaktion darauf. Die Staatsanwaltschaft hätte seinerzeit gegen Klümper jedoch durchaus intensiver ermitteln können, wenn nicht sogar müssen. Sie verneinte aber für den Zeitraum des Todes der Sportlerin eine sittenwidrige Handlung bei der ärztlichen Verabreichung von Dopingmitteln, da in der bundesdeutschen Öffentlichkeit angeblich «eine eindeutige Ablehnung von leistungssteigernden Medikamenten im Sport . . . nicht mit Sicherheit» feststellbar gewesen sei. Allerdings hatte die Öffentlichkeit von solchen Vorgängen überhaupt keine Kenntnis. Doping fand selbstverständlich heimlich statt und wurde postum quasi «freigegeben» durch die Mainzer Staatsanwaltschaft. Auch gegen Betrugsvorwürfe - die massenhaften Dopingrezepturen mussten von anderen Krankenkassenmitgliedern mitbezahlt werden - nahm die Behörde «Dopingärzte» geradezu in Schutz: «Zugunsten von Prof. Dr. Klümper ist nämlich nicht auszuschliessen, dass er subjektiv davon ausging, die von ihm verordneten Medikamente wären zumindest auch zur Heilung und Linderung von Krankheiten zweckmässig einzusetzen.»

Wer im Westen dopen wollte, konnte dies ohne Rücksicht auf Verluste ungestraft tun - er musste das Vorgehen nur anders nennen. «Therapie» etwa. Der Tod Birgit Dressels stellte diesen Umstand nicht in Frage, er wurde vielmehr zum Anlass für Initiativen genommen, dies noch intensiver als zuvor betreiben zu können. «Die zeitlich limitierte Gabe von Anabolika zum Wiederaufbau atrophierter Muskulatur nach Immobilisierung oder lang andauernden Verletzungen stellt eine therapeutische Massnahme dar und erfüllt nicht den Tatbestand des Dopings», so baute sich die Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention 1988 entgegen den Dopingbestimmungen ein fragwürdiges Therapie-Fenster.

Warnung in den Wind geschlagen

Der Mainzer Apotheker Horst Klehr, damals Frauenwart des Rheinhessischen Leichtathletik- Verbandes, hatte Dressel im Jahr vor ihrem Tod zu warnen versucht. Ihm waren ihre gewachsenen Muskeln und das zunehmend aufgedunsene Gesicht aufgefallen, sie deuteten auf Anabolika- und Medikamentenmissbrauch hin. Klehr, Jahre zuvor Verfasser der ersten bundesdeutschen Dopingliste und als Kontrolleur tätig, wies die Sportlerin auf die Gefahren, gerade für Frauen, des hormonellen Dopings hin. «Heutzutage», habe Dressel daraufhin entgegnet, «ist das alles reversibel.»

* Der Autor ist Sportwissenschafter und arbeitet als freier Journalist und Autor in Mainz.