(Translated by https://www.hiragana.jp/)
Ist Standarddeutsch in der Schweiz eine Randerscheinung? | NZZ

Ist Standarddeutsch in der Schweiz eine Randerscheinung?

Was macht das Schweizer Standarddeutsch aus? Im Folgenden werden aus sprachwissenschaftlicher Sicht einige Eigenheiten erläutert - vom Wortschatz bis hin zur Syntax. Schliesslich plädiert die Autorin für das Verfassen einer Art «Variantengrammatik Deutsch» - als Voraussetzung dafür, dass Schweizer Standarddeutsch als eigenständige Varietät anerkannt wird.

Drucken

Von Christa Dürscheid, Professorin für germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Zürich

«Standarddeutsch ist eine Randerscheinung, in den Augen nicht weniger Deutschschweizer sogar eine Fremdsprache.» So schreibt Ulrich Ammon, Herausgeber des «Variantenwörterbuchs des Deutschen» (2004), im Geleitwort zu einem Sammelband, der dem Schweizer Standarddeutsch gewidmet ist. Weiter führt Ammon aus, dass es im Interesse der gesamten deutschen Sprachgemeinschaft sei, wenn die Besonderheiten des Schweizer Standarddeutsch «nicht zuletzt in der Schweiz» mehr Anerkennung fänden. Doch worin bestehen diese Besonderheiten? Und ist es berechtigt zu sagen, dass Standarddeutsch nur eine Randerscheinung ist und in der Deutschschweiz nicht genug Anerkennung findet?

Omnipräsentes Standarddeutsch

Wenn man auf den alltäglichen Sprachgebrauch in der Deutschschweiz hört, möchte man Ulrich Ammon zustimmen: Die Deutschschweiz spricht Mundart; Standarddeutsch ist bestimmten Domänen vorbehalten; Mundart gilt als emotional, nah, persönlich; Standarddeutsch als kühl, formell, distanziert. Wenn man dagegen bildungspolitische Debatten um die Stellung des Standarddeutschen und die Diskussion in den Medien verfolgt, gewinnt man einen anderen Eindruck: Das Standarddeutsche ist omnipräsent, es ist keineswegs eine Randerscheinung. Immer wieder finden sich in Schweizer Zeitungen Artikel zum Thema; es wird über «Hochdeutschkindergärten» berichtet; in Leserbriefen streitet man sich über die Mundart-Moderation der Wettersendung «Meteo»; es finden öffentliche Veranstaltungen zum Thema Mundart und Standarddeutsch statt; und es kommen Schriftsteller, Lehrer, Fachleute und andere zu Wort, die zu dem Thema etwas zu sagen haben. In der Schule soll die Standardsprache «auf sämtlichen Schulstufen und in allen Fächern konsequent angewendet werden» (EDK-Beschluss vom 12. 6. 2003). Die Schüler sollen ein «selbstbewusstes Schweizer Hochdeutsch» sprechen (aus der Broschüre «Hochdeutsch als Unterrichtssprache», Pädagogische Hochschule Zürich), ein durchaus regional eingefärbtes Hochdeutsch, das nicht länger nur an den Normen der geschriebenen Sprache orientiert ist. Kurzum: Anders als in Deutschland ist das Standarddeutsche, wenn auch nicht gesprochen, so doch in aller Munde, es ist Reflexions- und Diskussionsgegenstand, bietet gelegentlich auch alltäglichen Gesprächsanlass.

Worin aber nun bestehen die Besonderheiten dieses Schweizer Standarddeutsch, worin unterscheidet es sich vom deutschen und vom österreichischen Deutsch? Es ist bekannt, dass das Deutsche keine homogene Einheit ist, sondern plurizentrisch, d. h., dass es verschiedene regionale Zentren der deutschen Sprache gibt, die nicht an nationale Grenzen gebunden sind. Insofern ist die Rede vom deutschen Deutsch oder vom Schweizer Deutsch eine verkürzte Darstellung der sprachlichen Verhältnisse; nicht von ungefähr spricht man in der Linguistik ja auch von einer plurizentrischen und nicht von einer plurinationalen Sprache. Wenn im Folgenden dennoch die Merkmale des Schweizer Standarddeutsch dargestellt werden, so geschieht dies mit dem Vorbehalt, dass es sich dabei um eine Sprachform handelt, die nicht an den nationalen Grenzen haltmacht. Erwähnt sei auch, dass hier bewusst von Standarddeutsch gesprochen wird, weil damit keine Wertung (wie bei «Hochdeutsch») und keine Nutzungsvariante (wie bei «Schriftdeutsch») verbunden werden soll.

Lexikalische Spezialitäten

Kommen wir zunächst zum Wortschatz im Schweizer Standarddeutsch: Dass es Helvetismen gibt, wissen wir; schwieriger ist zu erkennen, wann es sich tatsächlich um einen Helvetismus (oder um einen Teutonismus bzw. Austriazismus) handelt. Hier hilft der Blick von aussen: Wer als Deutsche eine Schweizer Zeitung liest, erkennt die Helvetismen sehr schnell. Da ist im Zusammenhang mit einem Gerichtsurteil von «Rekurs» und «Vernehmlassung» die Rede, da liest man, dass ein Lenker «verunfallt» sei, im Wirtschaftsteil stösst man auf Ausdrücke wie «äufnen» und «über die Bücher gehen», und in den Kontaktanzeigen erfährt man, jemand sei «aufgestellt». Umgekehrt wird ein Schweizer aufhorchen, wenn sein deutscher Kollege vom «Tacker» (= Bostitch) spricht oder nach einem Vertragsabschluss feststellt, jetzt sei alles «in trockenen Tüchern».

Doch aufgrund welcher Kriterien kann ein Wort wie «aufgestellt» oder «ringhörig» als standardsprachliche Variante des Deutschen, als Helvetismus klassifiziert werden? Handelt es sich dabei tatsächlich um Helvetismen, oder sind es Mundartwörter, die nicht ins Schweizer Standarddeutsch gehören und in Deutschaufsätzen als Fehler angestrichen werden müssten? Wörterbücher können in einem solchen Fall als Gewährstexte dienen. So werden im «Variantenwörterbuch des Deutschen» nur Wörter erfasst, die Standard oder Grenzfälle des Standards sind, nicht aber als mundartlich gelten. Als Hauptkriterium für die Aufnahme eines Wortes gilt hier das Vorkommen im zugrunde liegenden Korpus (Zeitungstexte, Romane), aber auch die Einschätzung durch die Forschergruppe. Insofern haftet dieser Klassifikation etwas Subjektives an. Das freilich lässt sich nicht vermeiden, da die Übergänge zwischen Mundart und Standard fliessend sind und klare Abgrenzungskriterien fehlen. Einige Mundartwörter kommen auch deshalb in sorgfältig redigierten Texten vor, weil sie Lokalkolorit vermitteln sollen - und keineswegs ist es immer so, dass ihr Dialektcharakter in diesem Fall durch Anführungszeichen kenntlich gemacht würde («Die Chilbi zog viele Besucher an»).

Eigenheiten in Grammatik und Syntax

Fragen wir uns nun weiter, wo die Besonderheiten des Schweizer Standarddeutsch auf der grammatischen Ebene liegen. Die grammatischen Besonderheiten sind nicht so augenfällig, deshalb werden sie seltener angeführt, wenn es darum geht, das Schweizer Standarddeutsch als eigene Varietät zu beschreiben. Sie betreffen v. a. die Genus- und die Numerus-Markierung und die Wortbildung. Betrachten wir dazu einige Beispiele: Genus-Unterschiede zeigen sich bei Wörtern wie «der Drittel», «der Prozent», «das Kamin», «der Match», «das E-Mail» (im deutschen Standarddeutsch «das Drittel», «das Prozent», «der Kamin», «das Match», «die E-Mail»). Festtagsbezeichnungen treten meist in den Plural, nicht in den Singular (die Ostern). Der Plural von «Spargel» lautet schweizerisch «Spargeln» (dt. «Spargel»). Komposita stehen mit Fugenelementen, wo es im deutschen Standarddeutsch keine Fuge gibt (Zugsfahrt/Zugfahrt) - und umgekehrt ohne Fuge, wo im deutschen Standard in der Regel eine Fuge steht (Haushaltpapier/Haushaltspapier). Substantive, die aus Verben abgeleitet sind, werden ohne ein Suffix gebraucht (Entscheid, Unterbruch), was im deutschen Standard bei den genannten Beispielen nicht möglich ist; das Suffix «-er» tritt an die Stelle von «-ler» (Wissenschafter/Wissenschaftler), das Suffix «-ieren» an die Stelle von «-en» (vgl. grillieren, parkieren).

Alle diese Unterschiede sind auch im Variantenwörterbuch erfasst; andere dagegen sind es nicht, da sie nicht den Wortschatz, sondern die Wortstellung betreffen. So ist es möglich, dass das Pronomen «es» am Satzanfang vor dem Verb «kommt» wegfällt («Kommt hinzu, dass die relevanten Unternehmen der Branche im Ausland daheim sind»). Eine Suchabfrage in der Datenbank Cosmas vom Institut für deutsche Sprache in Mannheim ergab für das «St. Galler Tagblatt» zwischen April 1997 und Dezember 2001 hierfür allein 155 Belege, im «Mannheimer Morgen» fanden sich für einen vergleichbaren Zeitraum nur 5 Belege. Weiter kann das Wort «bereits» im Schweizer Standarddeutsch am Satzanfang vor dem Verb stehen - und zwar ohne ein Bezugselement wie im deutschen Standard («Bereits befürchtet die Polizei soziale Unruhen»). Das Zeitadverb erhält dadurch mehr Gewicht, die Zeitbewertung wird in den Blickpunkt gerückt. Dies geschieht ganz analog zu anderen Zeitadverbien («Jetzt befürchtet die Polizei soziale Unruhen»). So gesehen erstaunt es nicht, dass eine solche Konstruktion in Schweizer Texten möglich ist; es erstaunt vielmehr, dass sie in deutschen Texten praktisch nicht vorkommt bzw. nur in Verbindung mit einem Bezugselement («Bereits seit Oktober liegt in den Alpen Schnee»). So ist die Konstruktion (bereits + Verb) in zwei kompletten Jahrgängen der Tageszeitung «Mannheimer Morgen» und zwei Jahrgängen des Nachrichtenmagazins «Spiegel» nur ein einziges Mal belegt, unter den ersten 30 Beispielen mit dem Wort «bereits» am Satzanfang aus dem «St. Galler Tagblatt» (Jahrgang 1997) fanden sich dagegen allein 12 Belege, in denen diese Konstruktion auftritt.

Und noch ein drittes aus syntaktischer Sicht interessantes Phänomen sei erwähnt: In der Mundart können Nebensätze gebildet werden, in denen das Verb am Anfang steht und keine Konjunktion auftritt («S isch schaad, isch es scho Friitig»). Solche Konstruktionen werden häufig auch ins Standarddeutsche übertragen («Schön, gehöre ich jetzt auch zu diesem beeindruckenden Team»). Gelegentlich fällt in diesen Sätzen sogar das Komma weg, wie Zeitungsbelege zeigen: «‹Gut gibt es Stühle›, wirft Dieter ein» («Tages- Anzeiger», 17. 4. 1996); «Schade müssen wir ins Ausland» («Tages-Anzeiger», 13. 9. 1996). In diesen Fällen hat es den Anschein, es handle sich um einen einfachen Satz, in dem ein Adjektiv am Satzanfang steht. In der Tat gleichen solche Konstruktionen jenen vom Typ «Laut musste er weinen», nur handelt es sich bei «laut» nicht um ein Wort, das die Sprechereinstellung zum Ausdruck bringt. Steht dagegen ein Kommentarwort am Satzanfang (z. B. schön), ist es theoretisch möglich, dass die Konstruktion zwei Lesarten hat. So kann der Satz «Schön singt er das Lied» gelesen werden im Sinne von a) «Es ist schön, dass er das Lied singt» und b) «Er singt das Lied schön».

«Variantengrammatik des Deutschen»

Kommen wir nun abschliessend noch einmal auf das oben erwähnte «Variantenwörterbuch des Deutschen» zurück. Ulrich Ammon stellt fest, dass dieses einen Beitrag zur gleichberechtigten Anerkennung verschiedener nationaler und regionaler Varietäten leisten möchte. In der Tat kann das Wörterbuch einen solchen Beitrag leisten, es fokussiert aber nur die Ebene des Wortschatzes. Daneben müsste es auch eine «Variantengrammatik des Deutschen» geben, eine Grammatik also, die alle als standardsprachlich angesehenen grammatischen Varianten des Deutschen erfasst und Aufschluss darüber gibt, welche Unterschiede in der Verwendung dieser Varianten bestehen. Eine solche Grammatik kann auch eine wichtige sprachpolitische Funktion haben. Indem nämlich Unterschiede dokumentiert werden, werden sie auch wahrgenommen. Und das wiederum ist eine Voraussetzung dafür, dass das Schweizer Standarddeutsch als eine eigenständige Varietät des Deutschen anerkannt wird.