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Die Mär vom Ur-Heidi | NZZ

Die Mär vom Ur-Heidi

In der Sendung «Kulturplatz» im Schweizer Fernsehen wurde kürzlich die Behauptung aufgestellt, Johanna Spyri habe sich zu ihrem «Heidi» von der Erzählung eines vergessenen deutschen Autors inspirieren lassen. Was hat es mit diesem «Ur-Heidi» auf sich, das der Germanist Peter Büttner entdeckt haben will?

Sieglinde Geisel
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Etwas rätselhaft und fast unnahbar, so hat Hannes Binder in Peter Stamms «Heidi»-Bearbeitung Johanna Spyris Titelheldin gezeichnet. (Bild: Hannes Binder / Nagel & Kimche)

Etwas rätselhaft und fast unnahbar, so hat Hannes Binder in Peter Stamms «Heidi»-Bearbeitung Johanna Spyris Titelheldin gezeichnet. (Bild: Hannes Binder / Nagel & Kimche)

Mit germanistischer Forschung schafft man es selten ins Fernsehen. Für den Beitrag in der Sendung «Kulturplatz» des Schweizer Fernsehens in der vergangenen Woche kam denn auch vieles begünstigend zusammen: die Plagiatsdebatten im Fall Hegemann, die von den Medien gern geschürte Sorge um die wunde Schweizerseele und ein Werk, das jedem vertraut ist. Wenn es um die Authentizität von « Heidi » geht, steht viel auf dem Spiel, gerade auch deshalb, weil Heidi eine mythische Figur geworden ist: der Inbegriff des unverdorbenen, glücksfähigen Kindes, das wir alle so gern in uns hätten. Am schönsten wäre es, wenn es Heidi wirklich gegeben hätte. Ein Landammann etwa wollte Johanna Spyri in Maienfeld seinerzeit mit einem unbekannten Kind an der Hand gesehen haben. Solche Gerüchte geisterten seit je durch die Spyri-Forschung, meint Regine Schindler, freie Mitarbeiterin des Johanna-Spyri-Archivs im Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien. Doch alles spreche dafür, dass Heidi eine erfundene «Wunschgestalt» von Johanna Spyri sei, die in Zürich selbst unter Heimweh nach dem Hirzel gelitten habe, auf dem sie aufgewachsen sei.

Ein Plagiat?

Der in Zürich lebende deutsche Germanist Peter Büttner behauptet nun, Johanna Spyri habe für Figur und Geschichte des «Heidi» eine Vorlage benutzt, auf die er zufällig in der Bibliothek der Universität Frankfurt am Main gestossen war: «Adelaide, das Mädchen vom Alpengebirge». Schon der Titel der Erzählung des westfälischen Schriftstellers Hermann Adam von Kamp (1796–1867) habe ihn sofort an Johanna Spyris «Heidi» denken lassen. Die Lektüre der knapp dreissig Seiten langen Erzählung bestätigte ihn in seiner Vermutung: Adelaide ist ein Kind, das beim Grossvater auf der Alp lebt, dann die Heimat verlassen muss, in der Fremde Heimweh bekommt und wieder zurückkehrt. Hier finde sich bereits die Handlungsstruktur von «Heidis Lehr- und Wanderjahre». Büttner wendete sich mit seinem Fund ans Schweizer Fernsehen, das darin eine schlagzeilenfähige Geschichte witterte – und nun steht also der Verdacht im Raum, Heidi habe «einen deutschen Vater». Man sei für den Besucheransturm aus der Schweiz bestens gewappnet, heisst es auf der Homepage des Stadtarchivs von Mühlheim an der Ruhr mit leisem Triumph, wo der Nachlass des längst vergessenen Hermann Adam von Kamp aufbewahrt wird.

Um eine Plagiatsdebatte gehe es ihm keinesfalls, betont Büttner. Spyri habe zwar Kamps Erzählung als «Vorlage» benutzt – doch um ein Abschreiben handle es sich nicht. Büttner beruft sich auf den unverbindlicheren Begriff der «Intertextualität». Doch der Nachweis der Verwandtschaft von Texten ist ein weites, spekulatives Feld – es reicht von unbewusster Inspiration über die Bearbeitung und Weiterentwicklung von Stoffen (wie etwa bei Kellers «Romeo und Julia auf dem Dorfe») bis zum handfesten Plagiat. Mag Johanna Spyri auch nicht abgeschrieben haben, so ist Büttner doch davon überzeugt, dass sie Kamps Geschichte unmittelbar vor der Niederschrift des «Heidi» gelesen haben müsse.

In der Tat ist die Entstehung von Johanna Spyris «Heidi» ungewöhnlich: Für ihren Kinderroman, der bei der Publikation 1879 sofort einschlug und als einziges ihrer Werke überdauert hat, brauchte sie nur vier Wochen Schreibzeit. Regine Schindler verweist auf Spyris damalige Situation: Mit der literarischen Tätigkeit habe sie erst nach dem Tod der dominanten Mutter im Jahr 1876 richtig begonnen. Im Sommer 1879 war dann ihr einziger Sohn Bernhard von der Kur zurückgekommen, scheinbar geheilt von der Tuberkulose. Die Euphorie darüber habe die Niederschrift von «Heidi» beflügelt. Auf den Text von Hermann Adam von Kamp ist Regine Schindler bei den Recherchen zu ihrer 1997 erschienenen Spyri-Biografie allerdings nicht gestossen. Dass Johanna Spyri den Text gekannt hat, hält sie durchaus für möglich: Als der kleine Erzählband mit der Geschichte der Adelaide 1830 veröffentlicht wurde, war Johanna drei Jahre alt. Doch dass ihr Kamps Erzählung als Vorlage für «Heidi» gedient habe, hält Regine Schindler nach einem Vergleich der beiden Texte für ausgeschlossen. Dazu seien die Unterschiede zu gross; ausserdem müsse man den Zeitgeist bedenken. Geschichten über Auswanderer und Heimweh – die «Schweizer Krankheit», wie es damals hiess – seien im 19. Jahrhundert ein verbreiteter Topos gewesen, und die Namensähnlichkeit zwischen Adelheid (Heidi) und Adelaide könnte auf das bekannte, nach einem Alpengedicht von Friedrich von Matthisson komponierte Beethovenlied «Adelaide» zurückgehen.

Wenig Übereinstimmungen

Peter Büttner hat rund ein Dutzend Parallelstellen der beiden Texte in einer kleinen Konkordanz aufgelistet – eine bescheidene Ausbeute angesichts der Tatsache, dass Johanna Spyris «Heidi» den zehnfachen Umfang der Adelaide-Erzählung erreicht. Prüft man die Stichhaltigkeit der einzelnen Stellen, bleibt kaum etwas übrig. Zu allgemein sind die «Motive», die Peter Büttner in beiden Texten wiederfindet. Adelaide «pflückt Violen», Heidi «bricht eine ganze Schar von Blumen». Adelaide wird «glühend roth», während Heidis Wangen «in solcher Glut standen, dass sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes flammenrot durchleuchtete». Dass der Grund für die Gesichtsröte jeweils ein anderer ist (Scham hier, Hitze dort), stört Büttner genauso wenig wie der unterschiedliche Stil. Beide Mädchen springen und hüpfen gern – doch Luftsprünge und Hüpfen findet man auch bei Pippi Langstrumpf.

Eine einzige Stelle zeigt eine auffällige Übereinstimmung: Der Moment, als sowohl Adelaide als auch Heidi von einer männlichen Person einen Geldbeutel geschenkt bekommen. Beide fühlen sich davon überfordert. In Kamps Erzählung lautet die Stelle: «O, behalte du es lieber, sprach Adelaide. Ich gehe ja noch nicht kaufen. Und du gibst mir ja so viel. Hast mir noch neulich ein hübsches Mieder und ein Lämmchen gegeben. Behalte du nur das schöne Geld! – Nun ja, sprach der Grossvater, ich will's dir verwahren, bis du gross bist, und kaufen gehst.» Ein Mieder wäre in der Welt der fünfjährigen Heidi von Johanna Spyri zwar nicht denkbar, doch im Dialog findet sich tatsächlich eine Entsprechung: «Ich brauch' es gewiss nicht, Grossvater, versicherte Heidi [. . .]. – Nimm's, nimm's und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal brauchen können.»

Ein eigener literarischer Kosmos

Angesichts der Unterschiede wird diese pseudowissenschaftliche Erbsenzählerei jedoch absurd. Vom Geissenpeter oder von den beiden Grossmüttern etwa gibt es bei Kamp keine Spur, und kommt eine Figur doch in beiden Geschichten vor, ist sie nicht wiederzuerkennen. Die beiden Grossväter könnten gegensätzlicher nicht sein: Die zehnjährige Adelaide (übrigens kein Waisenkind) lebt bei ihrem frommen Grossvater, der sie «zu sich genommen» hat, «seitdem seine Frau gestorben war, und sie war seines Alters Trost und Freude». Der Alpöhi in «Heidi» gehört zu den komplexesten und unheimlichsten Gestalten der Kinderliteratur. Er habe den Hof seines Vaters verspielt, seine Eltern ins Grab und seinen Bruder an den Bettelstab gebracht und dann sei er nach Neapel ins Militär gegangen, so berichtet Dete der neugierigen Barbel auf dem Weg zur Alm. Zwölf Jahre wisse man nichts von ihm, und dann sei er desertiert, «es wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen, natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel». Weil es im Dörfli heisst, der Tod seines Sohnes (Heidis Vater) sei die Strafe für seinen Lebenswandel, will er mit niemandem mehr etwas zu tun haben.

Auch das Heimweh, das beide empfinden, ist nicht das gleiche. Bei der inzwischen sechzehnjährigen Adelaide, die mit ihrer Familie nach Amerika ausgewandert ist, genügt es, dass ihre Geschwister ihr ein Lied singen – «und schon hatte sie sich in der Gegend und in der Lebensart schicken gelernt», wie es in Kamps holprigem Deutsch heisst. Spätestens nach zwanzig Seiten «Heidi» bleibt kein Zweifel daran, dass man sich hier in einem ganz anderen literarischen Kosmos befindet.

Warum sollte eine begabte Schnellschreiberin die erbauliche Erzählung eines drittklassigen Schriftstellers zu Hilfe nehmen? Es sieht ganz danach aus, als habe das Fernsehteam von «Kulturplatz» die Mühe des Lesens gescheut. Wenn die These vom «Ur-Heidi» widerlegt worden wäre, hätte es für die Sendung keinen Anlass gegeben, und so opferte man offenbar lieber die Objektivität und blendete die Gegenargumente weitgehend aus. Was bleibt nun vom Sturm im Wasserglas? Ein Einblick in das Funktionieren der Medien – und eine neue Lust auf Johanna Spyris Original-«Heidi».