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Kein mittlerer Weg für den Islam | NZZ
Interview

Kein mittlerer Weg für den Islam

Sadik al-Azm ist einer der profiliertesten progressiven Denker der arabischen Welt. Seit langem beobachtet er die islamistischen Strömungen; Christian H. Meier hat ihn zu seinen Einsichten befragt.

Christian H. Meier
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Kein mittlerer Weg für den Islam? Die volkstümliche Zaouia Sidi Ahmed ar Rquibi in Marokko bietet zumindest Türen zur Rechten und zur Linken. (Bild: Bruno Barbey / Magnum)

Kein mittlerer Weg für den Islam? Die volkstümliche Zaouia Sidi Ahmed ar Rquibi in Marokko bietet zumindest Türen zur Rechten und zur Linken. (Bild: Bruno Barbey / Magnum)

Sadik al-Azm, Sie haben ein halbes Forscherleben damit verbracht, die islamistische Ideologie zu analysieren und zu kritisieren. Was fasziniert Sie an dem Thema?

Islamisten sind symptomatisch für ein Malaise. Sie spiegeln die Versäumnisse der arabischen Moderne wider: für Entwicklung und Fortschritt zu sorgen, starke Volkswirtschaften zu schaffen et cetera. Der Islamismus ist eine Bewegung der Restauration, die komplett von der Moderne Abstand nimmt.

Ist das wirklich so? Islamisten nutzen doch alle Instrumente, die die Moderne ihnen zur Verfügung stellt.

Ja – weil sie jedes Mittel benutzen würden, um ihre Ziele zu erreichen.

Erklären Sie uns noch einmal: Welche Ziele sind das?

Die Repräsentanten des traditionellen Islams, etwa die Al-Azhar-Universität in Kairo oder die Zitouna in Tunis, haben in den letzten hundert Jahren die Kontrolle über fast alle Lebensbereiche verloren. Heute beschränken sich ihre Kompetenzen auf Heirat, Scheidung, Geburt, Tod und Erbrecht. Alle anderen Bereiche – Wirtschaft, Gesellschaft, Kunst, Medien – sind ihnen verloren gegangen. Nun schlagen sie zurück, um diese zurückzugewinnen. Daher ist die französische Bezeichnung für diese Leute auch recht treffend . . .

Im Französischen spricht man von Islamisten als «Integristen».

Während bei der englischen Bezeichnung – wie im Deutschen beim «islamischen Fundamentalismus» – die Betonung darauf liegt, zurückzukehren zu den Fundamenten, liegt der Fokus beim französischen «intégrisme» auf dem Ziel: alle Gesellschaftsbereiche wieder in die Scharia zu integrieren, wieder ihren obersten Herrschaftsprinzipien zu unterwerfen. Und um auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen: Ich interessiere mich für diese Entwicklung, aber ich habe auch Angst vor ihr. Angst vor der schleichenden Mittelalterlichkeit dieser Leute, ihren apokalyptischen Visionen. Letztlich ist es doch so: Wenn man die Scharia vollkommen ernst nimmt, landet man – unter den gegenwärtigen Bedingungen – beim «Islamischen Staat».

Aber es gab und gibt doch auch fortschrittlichere Auslegungen.

Es gab Revisionen und Neubetrachtungen, aber das kam immer nur von Einzelpersonen. Wenn es eine ernsthafte Reformation geben sollte, dann müsste sie von den traditionellen Zentren der islamischen Gelehrsamkeit ausgehen. Aber was wir stattdessen haben, ist auf der einen Seite die jihadistische Gegenrevolution. Und auf der anderen Seite sind es säkulare Intellektuelle, die über die Scharia und den Islam reflektieren, wie Nasr Hamid Abu Zaid in Ägypten oder Mohammed Arkoun in Frankreich.

Die sind alle tot.

Ja, aber ihr Erbe lebt. Oder Mohammad Shahrour in Syrien, der lebt auch noch.

Und dennoch glauben Sie nicht, dass diese Denker etwas bewirken?

Bis anhin sind sie marginal geblieben. Es sind alles Projekte von Individuen, die viele Debatten, Zuspruch und Widerspruch ausgelöst haben, die aber keinen Einfluss hatten auf die grossen Zentren des Islams wie die Azhar. Niemand dort hat solche progressiven Interpretationen der Scharia übernommen.

Warum? Liegt es nicht in ihrem Interesse?

Tief im Innern haben sie Angst: Angst vor dem Prozess der Säkularisierung der öffentlichen Sphäre – was etwas anderes ist als die Trennung von Staat und Moschee. Wenn man zwischen den Zeilen liest, sind sie besorgt: Was wird den Islam davor bewahren, genauso irrelevant zu werden wie das Christentum in Westeuropa? Der Islam würde komplett privatisiert und individualisiert werden – eine Form von Pietismus.

Machen wir im Westen also einen Fehler, wenn wir die Bedeutung progressiver Denker wie Abu Zaid oder Shahrour überschätzen?

Keiner von ihnen ist ein Martin Luther des Islams. Aber sie sind der Funken Hoffnung, den wir haben. Möglicherweise sind sie Vorläufer von etwas, das kommen wird, wie die Enzyklopädisten, die der Französischen Revolution den Weg bereiteten.

Wäre das Modell für eine Reform dann eher das von Ägyptens Präsident Abdelfatah Sisi, der Anfang des Jahres eine religiöse Revolution von den Azhar-Gelehrten forderte?

Da ist ja nicht nur er; auch Saudiarabiens kürzlich verstorbener König Abdullah hatte die Religionsgelehrten der Faulheit beschuldigt. Aber er hatte keine Reformation im Sinn. Er wollte, dass sie aktiv gegen das Denken und die Interpretationen der Jihadisten angehen. Was eine harte Nuss ist: Denn deren Denken bezieht sich doch überwiegend auf den Wahhabismus, die Staatsdoktrin Saudiarabiens. So gesehen, hat der saudische König die Gelehrten aufgefordert, sich selbst zu bekämpfen.

Apropos: Jahrelang predigten Experten den Niedergang des Jihadismus, und nun scheint er stärker denn je. Oder täuscht das?

Die Schärfe des gegenwärtigen Kampfes liegt daran, dass die Jihadisten das Gefühl haben, sie verteidigten ihre letzte Bastion. Wenn sie nun verlieren, dann ist es das gewesen: Der Islam wird den gleichen Weg nehmen wie das Christentum in Europa. Deshalb kämpfen sie so unerbittlich.

Wenn man sich ansieht, wie viele Anhänger der «Islamische Staat» gefunden hat, muss man konzedieren: Sie haben Erfolg.

Da spielen unterbewusste Faktoren eine Rolle. Die Angst, dass der Islam schrumpfen könnte. Und manchmal apokalyptische Ambitionen. Denken Sie an 1979, als eine Gruppe wahhabitischer saudischer Fundamentalisten die Kaaba in Mekka besetzte. Sie hatten eine apokalyptische Vision – wir sind am Ende der Zeiten angelangt – und einen Mahdi, einen Messias. Und Prophezeiungen, die sie in Überlieferungen gefunden haben: dass eine Armee kommen wird, um sie zu vernichten, aber dann geschieht ein Wunder, und die Erde wird sich teilen und die Armee verschlingen . . . Es gibt viele solcher Legenden im Glauben der Jihadisten, nicht nur die Huris.

Ist der Erfolg der Jihadisten, gerade bei so vielen jungen Menschen aus dem Westen, nicht verstörend für jemanden wie Sie, der unverdrossen für eine säkulare Weltsicht wirbt?

Es gab immer eine Kritik an der europäischen Moderne, die aus dem konservativen, rechten Spektrum kam – Spengler oder Heidegger. Sie alle sagen, dass es etwas Hohles an der europäischen Moderne gebe. Kein Heldentum. Es gibt nur noch Antihelden anstelle von Helden. T. S. Eliot hat die Moderne in seinem berühmten Gedicht ein «wüstes Land» genannt. An einer anderen Stelle nennt er moderne Menschen «the hollow men, the stuffed men». Vielleicht macht dies junge westliche Menschen empfänglich für fundamentalistische Ideologien. Es bedeutet ihnen etwas, es füllt ihr Leben aus. Es gibt sozioökonomische Gründe dafür, dass Menschen in den Jihad ziehen. Aber ich glaube, psychologischen Faktoren wird oftmals nicht genügend Bedeutung beigemessen.

Sadik al-Azm, mehr als vier Millionen Syrer sind mittlerweile vor dem Krieg in ihrer Heimat geflohen. Sie sind seit einiger Zeit offiziell einer von ihnen.

Ja, meine Frau und ich sind seit 2012 offiziell als politische Flüchtlinge in Deutschland anerkannt. Ich habe nie geplant, mein Leben als Intellektueller im Exil zu verbringen. Aber nun ist es so geschehen.

Haben Sie Hoffnung für Syrien?

Nicht für die unmittelbare Zukunft. Ich glaube, es wird eine Periode der Anarchie geben, in der Warlords das Sagen haben. Wenn Asad abtritt oder stirbt, wäre ich nicht überrascht, wenn sie sich auf Damaskus stürzen würden – so, wie es in Afghanistan mit Kabul geschehen ist. Um ehrlich zu sein, ich befürchte das sogar. Wenn der Westen, wenn Obama helfen wollen, dann sollten sie dafür sorgen, dass es für Syrien ein Arrangement gibt wie das Abkommen von Dayton 1995 für Bosnien. Sie müssen Asad dazu zwingen, an den Verhandlungstisch zu kommen, und ihn und die anderen dort so lange einschliessen, bis weisser Rauch zu sehen ist. Dann könnte eine Art von Zivilverwaltung installiert werden, und aus Asad würde ein zweiter Milošević. Das ist das Best-Case-Szenario. Aber wir sollten nicht warten, bis in Syrien ein Massaker wie in Srebrenica geschieht.