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Tief im Hades von Eiger und Mönch | NZZ

Tief im Hades von Eiger und Mönch

Am 1. August feiert die Jungfraubahn 100 Jahre und wird damit im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehen. Wir haben mit dem Streckenwärter auf dem höchstgelegenen Schienenstrang Europas dem «Innenleben» der Bahn nachgespürt.

Hanspeter Mettler
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Zahnstange, Schienen, Schwellen, Tunnelwand – Streckenwärter Toni Jundt entgeht kein Detail. (Bild: Adrian Baer / NZZ)

Zahnstange, Schienen, Schwellen, Tunnelwand – Streckenwärter Toni Jundt entgeht kein Detail. (Bild: Adrian Baer / NZZ)

Bei Bahnkilometer 6,42 (nach alter Zählung 6,29, siehe oberes Bild) hält Toni Jundt inne und richtet seine helle Lichtquelle auf die unverkleidete Tunnelwand. Plastisch aus dem Fels herausgearbeitet, erscheinen drei Gesichter. Sie sind eine Hinterlassenschaft der Mineure, die hier vor über hundert Jahren, 1909, den Tunnel Richtung Jungfraujoch durch das Mönch-Massiv gesprengt haben. Kein Passagier der Jungfraubahn bekommt die Köpfe aus Stein je zu Gesicht, die Züge fahren einfach vorbei. Den Angestellten der Jungfraubahn (JB) sind die Skulpturen, knapp drei Kilometer unterhalb der Station Jungfraujoch, hingegen wohlvertraut, beinahe eine Legende.

Jede Woche ein Kontrollgang

Toni Jundt, 37 Jahre alt, ist Vizechef der «Bahndienst-Rotte» der Jungfraubahn. Diese ist für den einwandfreien Zustand der Geleise (und ausserhalb des Tunnels der Böschungen) verantwortlich. Als Streckenwärter ist er einer jener, die den Tunnel einmal pro Woche begehen. In Augenschein genommen wird dabei vieles: der Zustand der Geleise, besonders genau der komplizierten Zahnstangenweichen, der Kabelkanäle, der Signale und nicht zuletzt der Tunnelwand und -decke. Sind Steine locker, die auf das Trassee fallen könnten? Sitzen alle Schrauben fest, die Zahnstange und Schienen an den Schwellen festhalten? Sind die am ehesten bruchgefährdeten Schweissnähte des Geleises einwandfrei? Und ist mit der Beleuchtung alles in Ordnung? Nach dem katastrophalen Brandunglück mit 155 Toten im Tunnel der Bergbahn im österreichischen Kaprun im November 2000 wurde aus Sicherheitsgründen ein beleuchteter Handlauf auf der ganzen Tunnellänge von 7122 Meter installiert.

Zwischen den Stationen Eismeer und Jungfraujoch haben sich die Mineure vor über hundert Jahren an der Tunnelwand verewigt. (Bild: Adrian Baer / NZZ)

Zwischen den Stationen Eismeer und Jungfraujoch haben sich die Mineure vor über hundert Jahren an der Tunnelwand verewigt. (Bild: Adrian Baer / NZZ)

Es ist Abend auf dem Jungfraujoch. Eben ist der letzte Zug talwärts Richtung Kleine Scheidegg abgefahren. Den bereits eingestiegenen Fahrgästen waren die Angestellten der Restaurants nachgeeilt, nachdem sie ihre Arbeitsplätze binnen Minuten aufgeräumt hatten. Übernachtet wird nicht hier oben, sondern im Tal. Es war ein ganz gewöhnlicher Betriebstag der Jungfraubahn. In Kürze, am 1. August, wird es hier ganz anders zugehen. Dann wird bis in die Nacht gefeiert – die vielleicht berühmteste Eisenbahn der Welt wird hundert Jahre alt. Viele hundert Gäste werden da sein, der Rede der Verkehrsministerin zuhören, das Feuerwerk und die Illumination der Strecke durch einen Lichtkünstler miterleben.

«Extrem spannende Arbeit»

Begonnen hat der Tag unserer Tunnelbegehung mit der Fahrt auf dem Führerstand aufs «Joch». «Balmer Andreas aus Wilderswil», stellt sich der Lokführer, einer von gut 40, vor. Seit zwei Jahren fährt der Maschinenzeichner bei der JB; zuvor hatte er als Postautochauffeur, Skipistenwart und Zugbegleiter bei der Wengernalpbahn (WAB) gearbeitet. «Immer im Tunnel, wie fühlt sich das an?», werde er öfters gefragt. «Und die Frauen im Dauer-Kunstlicht an der Migros-Kasse?», pflege er zu entgegnen. Nein, die Tätigkeit sei extrem spannend. Er arbeite in einem «super» Team. Verbunden seien die JB-Beschäftigten im Übrigen im tiefen Respekt vor dem, was Bahn-Erbauer Adolf Guyer-Zeller (1839–1899), Textilunternehmer aus Zürich, und seine Bauequipen vor über hundert Jahren geplant und verwirklicht haben. Man könne so oft durch den Tunnel fahren, wie man wolle – immer wieder entdecke man Neues, etwa interessante Strukturen im Fels. Der JB-Tunnel ist unverkleidet; der Fels ist so gut, dass es nach dem Aussprengen keiner weiteren Befestigungsmassnahmen bedurfte.

Mit Toni Jundt treten wir aus der hell erleuchteten Bergstation in den finsteren Tunnel. Talwärts, die übliche Richtung, ist die Inspektion in dünner Luft weniger kräfteraubend. Immerhin starten wir auf 3454 Meter über Meer. Gleich zu Anfang geht es mit 25 Prozent Gefälle steil bergab. Dann folgt eine gut drei Kilometer lange, mit 6,6 Prozent Neigung eher flache und schnurgerade Strecke durch den Mönch, die früher im Adhäsionsbetrieb befahren wurde.

Das auf Rot stehende Einfahrsignal der Station Eismeer auf der Ostseite des Eigers ist von Anfang an gut sichtbar, will aber einfach nicht näher kommen. Als es doch geschafft ist, treffen wir dort auf einen Triebwagen mit vorgestelltem Werkstattwagen. Mitarbeiter der Technischen Dienste installieren eben eine neue Speiseleitung am Fahrdraht. Die Jungfraubahn fuhr von Anfang an elektrisch; der Rauch von Dampflokomotiven wäre den Fahrgästen im engen Tunnel nicht zuzumuten gewesen. Der Strom, Fahrspannung 1125 Volt, stammt aus dem JB-eigenen Kraftwerk Burglauenen im Tal der Schwarzen Lütschine. Manchmal muss von den Bernischen Kraftwerken zugekauft werden. Produziert wird auch im Betrieb: Drei talwärts fahrende Züge könnten eine aufwärts fahrende Komposition mit Energie versorgen, klärt uns ein Techniker auf.

Die Arbeit an der Fahrleitung ist fertig. Nun müssten sie das gleiche Prozedere auch noch in der 1,3 Kilometer weiter talwärts gelegenen Station Eigerwand ausführen, das könne schon drei Uhr morgens werden, erklären die Monteure. Ob wir mitfahren wollten? Nein, natürlich nicht. Wir, Herr Jundt, der Berichterstatter und der Fotograf der NZZ, müssten den Tunnel inspizieren, das gehe nur zu Fuss.

Auf der Fortsetzung unseres Marsches, nun wieder 25 Prozent steil und bei 2 Grad im Tunnel an diesem schwülen Tag angenehm kühl, plötzlich ein rätselhaftes Rauschen. «Das ist ein Schwall Abwasser vom Jungfraujoch, der im dicken Rohr neben dem Trassee in die ARA von Grindelwald fliesst», erläutert Jundt. Keine Bagatelle übrigens, denn jährlich befördert die JB rund 700 000 Fahrgäste. Seit dem letzten Winter gibt es noch ein zweites, dünneres Rohr: Mit 180 bar Druck wird von der Station Eigergletscher Trinkwasser aufs Joch gepumpt. Früher musste, was nicht direkt auf der Bergstation aus Schnee gewonnen werden konnte, durchwegs mit Wassertransportwagen hochgefahren werden.

Toni Jundt, Metallbauschlosser mit unverkennbarem Berglerschritt aus Bönigen am Brienzersee, kam schon in jungen Jahren mit den Bahnen der Jungfrauregion in Kontakt. Sein Vater sömmerte jeweils Vieh auf der Wengernalp. Seit drei Jahren arbeitet Jundt bei der JB, zuvor war er beim Fahrbahnunterhalt der Berner-Oberland-Bahnen (BOB) beschäftigt, mit denen er heute fast täglich zur Arbeit fährt. Die Anreise sei bezahlte Arbeitszeit, erfahren wir.

Hinaus in die Eigernordwand

Dann folgt unser letztes Abenteuer im Tunnel. Bei Kilometer 3,8 erreichen wir das Stollenloch; hier wurde beim Bau ausgebrochenes Felsmaterial hinausbefördert. Eine schüttere Holztüre gibt uns den Weg frei hinaus in die Eigernordwand. Nicht weit östlich führte 1938 die Route der Erstbesteiger Heckmair, Vörg, Kasparek und Harrer vorbei zur Schlüsselstelle des Hinterstoisser-Quergangs. Berühmt geworden war das Loch anlässlich der Tragödie der vierköpfigen Bergsteigergruppe um Toni Kurz zwei Jahre zuvor. Von hier aus versuchten Retter dem frei im Seil hängenden Kletterer Hilfe zu bringen – umsonst, alle vier starben.

Das Begehen des Jungfraubahntunnels ist, darauf wird auf Warntafeln hingewiesen, streng verboten. Ob er noch nie auf illegale Wanderer im Tunnel getroffen sei, fragen wir Jundt. Nein, das sei noch nie vorgekommen, bestätigt er die Aussagen auch anderer JB-Mitarbeiter. Höchstens Tiere verirrten sich einmal dorthin. Kurz darauf hören wir im Betriebsfunk mit, wie der Lokführer des letzten Zuges einen «Munggen» im Tunnel oberhalb der Station Eigergletscher meldet. Es gebe eine Weisung der Bahndirektion, hatte uns Andreas Balmer erklärt, Tiere in solchen Fällen zu schonen. Sie würden um den Zug herum auf die Talseite gescheucht, wo sie dann Richtung Tunnelportal das Weite suchen könnten. Uns dreien bleibt derlei selbstredend erspart; auf der Leitstelle ist man über unseren Standort stets im Bild. Unbehelligt treten wir nach viereinhalb Stunden mit weichen Knien, Jundt natürlich ausgenommen, ans Licht hinaus. Bleibt noch der überwiegend im Freien verlaufende Streckenteil bis zur Kleinen Scheidegg, knappe zwei Kilometer.