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Der Fall Claas Relotius: Wie das SPIEGEL-Sicherungssystem an Grenzen stieß - DER SPIEGEL
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Der Fall Relotius Wie das SPIEGEL-Sicherungssystem an Grenzen stieß

Im SPIEGEL überprüfen Ressortleiter und Dokumentare jeden Text des wöchentlichen Magazins, bevor er publiziert wird. Sie verlassen sich neben eigenen Quellenrecherchen auf die grundlegende Integrität von Autoren - was im Fall Relotius das Problem war: Mehrere Fallbeispiele machen klar, dass das System an einem Betrüger versagte.
Foto: imago/ CHROMORANGE

Jeder Text, der im wöchentlichen SPIEGEL erscheint, ob gedruckt oder digital, wird vor seiner Veröffentlichung von vielen Kollegen gelesen: von mindestens einem Ressortleiter und einem Chefredakteur, von Mitarbeitern in Lektorat und Rechtsabteilung. Das Herz der Qualitätskontrolle aber ist die hauseigene Dokumentation. Die gut 60 Kollegen - Physiker, Historiker, Biologen oder auch Islamwissenschaftler - stellen sicher, dass Namen, Daten und Fakten stimmen, sie verifizieren jedes Wort und jede Zahl. Kaum ein anderes Medium betreibt so viel Aufwand, um den Anspruch einzulösen: Was wir schreiben, das stimmt. In Zeiten von Fake News ist die Dokumentation ein Pfund, mit dem der SPIEGEL gern wuchert.

Wie kann es also sein, dass ein Autor Teile seiner Geschichte einfach erfindet und damit durchkommt? Der Fall Relotius zeigt die Grenzen und Schwächen des Sicherungssystems.

Die Arbeit der Dok - wie wird ein Text geprüft?

Das Verhältnis von Redaktion und Dokumentation, intern die Dok genannt, ist im SPIEGEL in den "Grundsätzen der Zusammenarbeit" festgehalten, spezielle "Verifikationsrichtlinien" legen Details fest. Die Arbeit der Dok beginnt in der Regel, wenn die Redakteure ihren Text fertig geschrieben haben und der Ressortleiter ihn für gut, relevant und verständlich empfunden hat. Zunächst werden alle überprüfbaren Sach- und Personenangaben gecheckt. Das geschieht mithilfe einer Fülle von veröffentlichten Informationen, aus Datenbanken und Pressearchiven etwa. Aber auch von den Autoren selbst erwartet die Dokumentation, dass sie schriftliches Material, das sie bei der Recherche verwendet haben, zur Verfügung stellen, also beispielsweise Akten, die der Redakteur exklusiv besorgt hat, Briefe oder E-Mails. Als verifiziert gilt, was mit zuverlässigen Quellen bestätigt ist. Beschreibt der Redakteur etwa, dass er auf einer Reise in Tansania am Wegesrand Kakteen sieht, dann prüft die Dok: Gibt es dort überhaupt Kakteen? Antwort: nein! Schreibt der Autor: "Am 16. Februar 2016, einem nebelkalten Tag in München..." - dann prüft die Dok anhand alter Wetteraufzeichnungen, ob der besagte Tag nicht womöglich ein strahlend schöner, ungewöhnlich warmer war. Auch Zeitbezüge werden geprüft, etwa die Länge einer Bahnfahrt, die der Journalist beschreibt. Örtliche Beschreibungen können mithilfe von Google Earth und Google Street View gecheckt werden. Die Dok prüft auch innere Widersprüche im Text und ob Zitate stimmen - sofern sie schon öffentlich gemacht wurden.

Die Akribie der Dok zeigt sich an einer Zahl: Eine Diplomarbeit von 2008 kommt auf 1153 Änderungen durch die SPIEGEL-Dokumentation in nur einem Heft. Zieht man Rechtschreibfehler und Stilkorrekturen ab, blieben 599 korrigierte Fehler und weitere 400 Ungenauigkeiten. Die Dok spricht jede einzelne mit dem Autor durch, oft müssen dann Sätze oder gar ganze Absätze wieder aus dem Text gestrichen werden. Der Dokumentar prüft auch nach, ob der Autor die Korrektur tatsächlich gemacht hat - oder ob er sich aus einem bestimmten Grund dafür entscheidet, dies nicht zu tun. Und sie markiert, welche Fakten schlicht nicht verifiziert werden konnten, auch weil womöglich die Zeit schlicht zu knapp war. Ein harter Faktencheck ist im Sinne der Redakteure, er bewahrt sie vor Fehlern und im Zweifel auch vor juristischem Ärger.

Wo liegen die Grenzen der Faktenchecker?

Nicht prüfen kann die Dok naturgemäß Dinge, die ein Reporter vor Ort exklusiv recherchiert hat und die bisher unbekannt, also nirgendwo berichtet wurden. Wo Journalisten mit den Protagonisten ihrer Geschichte allein sind, wo sie Vieraugengespräche mit ihren Informanten führen, endet der Zugang der Dok: "Informanten der Redaktion, die Objekt einer Geschichte sind, dürfen nur nach Absprache mit der Redaktion befragt werden", heißt es in den Verifikationsrichtlinien. Die Dokumentation prüft auch keine Reisekostenbelege und Spesenabrechnungen von Autoren oder checkt nach, ob sie wirklich in dieser Stadt oder jenem Hotel waren, ob die Kilometer auf ihrem Mietwagen zusammenpassen mit den Stationen einer Reise, die ihr Text beschreibt. Nicht nur wäre der Aufwand kaum zu bewerkstelligen. Die Dok hat dazu auch kein Mandat. Ihre Aufgabe ist die Textkontrolle, nicht die Personenkontrolle.

Das bedeutet: Bei heiklen investigativen Recherchen, die auf einer Fülle von Daten und schriftlichem Material beruhen, wie etwa bei den Enthüllungen zu "Football Leaks", ist die Arbeit der Dokumentare paradoxerweise einfacher als bei Reportagen, die von Beobachtungen und Empfindungen des Redakteurs leben. Noch schwieriger wird ihre Arbeit, wenn die Journalisten allein unterwegs sind oder gar aus Ländern berichten, in denen keine freie Presse existiert, die beim Faktencheck zugrunde gelegt werden könnte. Oft ist auch die Zeit zwischen Textabgabe und Veröffentlichung so knapp, dass sich die Dokumentare auf die wesentlichen Fakten beschränken müssen.

Diese Grenzen und Schwächen der Dokumentation hat Claas Relotius, wie sich an einigen Beispielen zeigen lässt, gezielt genutzt und das in ihn gesetzte Grundvertrauen missbraucht. Die Dokumentation hat er dabei sogar instrumentalisiert, um seine Geschichten dort faktenstärker und detailreicher zu machen, wo sie ihm helfen konnte.

In der Regel kennen SPIEGEL-Autor und SPIEGEL-Dokumentar einander aus der Zusammenarbeit gut. Wo es an eindeutigen Quellen und Belegen fehlt, fragt der Dokumentar, woher die Informationen stammen und wie der Autor an sie gekommen ist. Wird dieses "Making of", die Rekonstruktion des Rechercheweges, stets bereitwillig oder sogar unaufgefordert geliefert, klingt sie plausibel und stimmen die überprüften Fakten im Text, schafft das Vertrauen. Ein Autor wie Relotius, zu dessen Texten es keine Beschwerden von Protagonisten oder andere Beanstandungen gab - vermutlich wohl auch deshalb, weil viele seiner Geschichten im Ausland spielen, wie man nun sagen muss - genießt dabei naturgemäß ein größeres Vertrauen. Die Sympathien, die aus dieser Nähe entstehen, lassen sich kaum ausblenden, ebenso wenig die Gefahren.

Welche Rolle spielen Ressortleiter und andere Vorgesetzte?

Das Verhältnis zwischen Dok und Redaktion ist auf Spannung angelegt, die Dok soll als Störfaktor im System wirken. Allzu oft kollidiert das mit zeitlichem Druck und dem Rückhalt, den Ressortleiter ihren Autoren geben wollen. Dok-Chef Hauke Janssen beschreibt den Dokumentar als "natürlichen Feind" des Journalisten, weil er ihm nicht blind glauben darf, zugleich soll er dessen bester Freund sein - im Sinne von kritischem Feedback im gemeinsamen Interesse: auf Schwachstellen in der Argumentation und blinde Flecken der Recherche hinweisen, den Text verbessern, wo sich den Lesern Fragen stellen könnten. Grundsätzlich nicht angelegt sind Routinen, die darauf zielen, die persönliche Integrität von Redakteuren durch Dokumentare zu überprüfen. Letztere seien keine interne Stasi, sagt man beim SPIEGEL.

Die grundsätzliche Führung der Redakteure, die Begleitung der Themenrecherche und die journalistische Abnahme des Textes liegt bei den Ressortleitern und anderen Vorgesetzten. Bis hin zur Chefredaktion wird in Artikel redigierend und hinterfragend eingegriffen. Die Dok begleitet diesen Prozess. Zu beurteilen, ob ein Mitarbeiter akkurat und verlässlich arbeitet, ist aber nicht allein ihre Kernaufgabe, sondern vor allem auch die von Vorgesetzten. Insofern stellt der Fall Relotius nicht nur die Dok vor Fragen, sondern die generellen Abläufe und Sicherungsinstanzen quer durch die verschiedenen Führungsebenen des SPIEGEL - hiermit wird sich in den kommenden Monaten eine Kommission beschäftigen, die Chefredaktion und Geschäftsführung einsetzen werden (mehr dazu hier).

Sie wird die Probleme rund um die knapp 60 Artikel, die von Relotius im SPIEGEL erschienen sind, überprüfen. Bisher beruhen die Erkenntnisse über Manipulationen und Fälschungen weitgehend auf seinem eigenen Geständnis, das ebenfalls zu hinterfragen sein wird - wie aufwendig die Untersuchung der Kommission ablaufen wird, ist schon jetzt an folgenden drei Fällen abzusehen, die beispielhaft für das Versagen der Sicherungssysteme an einem Betrüger stehen.

Beispiel 1: "Die letzte Zeugin", erschienen im SPIEGEL am 3.3.2018

Der Text beschreibt die Amerikanerin Gayle Gladdis, die durch die USA reist, um dabei zuzusehen, wie Menschen durch Giftspritzen getötet werden.

"An einem späten Januarabend, der Himmel über Joplin, Missouri, ist ohne Mond, verlässt eine kleine zierliche Frau ihr Haus, um einen Mann, den sie nicht kennt, sterben zu sehen. Sie verriegelt die Tür, dreht den Schlüssel dreimal um, dann geht sie eine menschenleere Straße entlang, zum Busbahnhof. Sie besorgt sich ein Greyhound-Ticket für 141 Dollar nach Huntsville, Texas, und zurück. Sie hat nur eine Handtasche und einen leichten Rucksack mit einer Bibel, einer Zahnbürste und ein paar Keksen als Proviant dabei. Gayle Gladdis, 59, eine Frau mit schulterlangem Haar und Perlenohrringen, plant, nicht länger als 48 Stunden unterwegs zu sein, um das Böse aus der Welt zu schaffen."

Gayle Gladdis, so sagt es zumindest Relotius, gibt es. Aber Relotius hat sie nur einmal getroffen, für 20 Minuten vor dem Gericht, in dem die Hinrichtung stattfindet. Er war nie bei ihr zu Hause, die Einstiegsszene an der Haustür hat er erfunden, wohl auch ihre Biografie: Dass ihr Ehemann früh an Krebs starb, dass ihr einziger Sohn, ein Polizist, und ihr vierjähriger Enkel Opfer eines Überfalls auf eine Tankstelle wurden. Auch auf ihrer Busreise nach Texas hat Relotius sie nie begleitet. Und doch beschreibt er, dass sie ihre Fäuste im Bus so fest auf ihrem Schoß gegeneinander presst, bis ihre Fingerknochen weiß werden. Dass sie im Bus vorne sitzt, weil ihr auf den langen Fahrten immer schlecht wird. Es sind diese unaufgeregten Details, die seinen Texten die Kraft gaben.

Es gibt ein Foto, das angeblich Gayle Gladdis zeigt, Relotius hat es selbst gemacht, vor dem Gefängnis. Das Bild wurde sogar im SPIEGEL gedruckt. Auch dem Dokumentar hat Relotius die Bilder vorab gezeigt, als Beleg für ihre Existenz - ihren richtigen Namen wolle sie aber im Text nicht lesen.

Überprüfen ließen sich das Datum und der Ort der Hinrichtung, die die angebliche Gayle Gladdis an jenem Tag besuchte, Name und Biografie des Hingerichteten stimmten, soweit sie sich anhand veröffentlichter Berichte verifizieren ließen. Es handelte sich um einen Serienkiller mit eigenem Wikipedia-Eintrag.

Die Szene an der Haustür dagegen hätte sich ebenso wenig verifizieren lassen wie vieles andere, was Relotius mit Gladdis erlebt, was er erzählt bekommen und beobachtet haben will. Seine Beschreibung der Hinrichtungszelle beruht auf einer Beschreibung der Wächter, Relotius sagt, er selbst habe den Hinrichtungstrakt nicht betreten.

Dem Dokumentar und seiner Ressortleitung erzählte Relotius, er habe Gladdis auf einer Recherche kennengelernt, ein Ehepaar, das er ursprünglich habe begleiten wollen zur Hinrichtung, habe den Kontakt hergestellt. E-Mail-Verkehr gibt es dazu nicht.

Die Geschichte ist, wie viele, bei denen Relotius Manipulationen zugegeben hat, eine geschickte Vermischung real prüfbarer Ereignisse und Personen und hinzugedichteter Biografien, Handlungsstränge und Szenen. Um solchen Fälschungen nicht aufzusitzen, müsste die Dokumentation grundsätzlich in Zweifel ziehen, ob der Journalist den Protagonisten seiner Geschichte überhaupt getroffen hat. Das rührt an das Basisvertrauen in die Redlichkeit eines Journalisten - Relotius wurde immer vertraut, und mit jedem Preis ein bisschen mehr, das wurde hier zum Verhängnis.

Beispiel 2: "Ein Kinderspiel", erschienen im SPIEGEL vom 23.6.2018

Für seine mit dem Reporterpreis 2018 ausgezeichnete Reportage interviewt Relotius einen jungen Syrer, der Baschar al-Assad vor sieben Jahren mit einem Graffito beleidigte - und damit den Syrienkrieg mit ausgelöst haben soll, so schreibt es Relotius. Die Geschichte hat ein ungewöhnliches Format: Relotius hat den Jungen in der Stadt Daraa aufgespürt, wo er heute gegen Assads näherrückende Truppen kämpft. Doch weil er selbst nicht nach Syrien gelassen wird, interviewt Relotius ihn schließlich per WhatsApp, mal mit, mal ohne Kamera - so wird es zumindest im Text beschrieben.

Im Text ist zu lesen, wie der Junge das Mobiltelefon mehrfach an - und später wieder ausmacht, es ist ein wesentlicher Teil der Dramaturgie dieses Textes. Und sie ist erfunden. Die Szene, wie der junge Syrer sich, mit laufender Handykamera, "in den Staub vor einer alten, halb zerstörten Mauer" setzt, auf die er vor sieben Jahren sein Graffito gemalt hat und auf der heute nur noch Einschusslöcher zu sehen sein sollen - es hat diese Szene nicht gegeben. Das hat Relotius eingestanden. Auch biografische Details seien im Text enthalten, "die ich nicht immer weiß", hat Relotius eingeräumt, etwa wann und wie der Junge zur syrischen Armee gekommen ist. Auch die eindrückliche Beschreibung, wie der Syrer mit der Kamera in der Hand durch die zerstörte Stadt läuft, stimme nicht: "Er steigt über ihre Trümmer, filmt Autowracks und Häuser wie Gerippe, kilometerweite Ruinen. Er führt vorbei an einem ausgebrannten Krankenhaus, an einem zerbombten Kindergarten, an Leichen in einem Flussbett", "er verscheucht einen streunenden Hund, "Jalla, imschi!", dann schwenkt er weg." Er habe, sagt Relotius, stattdessen viele Fotos von ihm geschickt bekommen.

Ebenso erfunden ist eine Passage, in der es heißt, Mouawiya habe einen Link zu einem YouTube-Musikvideo geschickt, das er nach dem Giftgasanschlag von Ghuta, im August 2013, jede Nacht gehört habe. Es ist das Lied "Get Lucky" von Daft Punk und Pharrell Williams. Den Link, gesteht Relotius, hat er nie geschickt bekommen. Es sind, wie man es wohl nun nennen sollte, klassische Relotius-Fälschungsszenen.

Die Jury des Reporterpreises lobte den Text als "von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert."

Doch die Quellenlage ist, so viel ist jetzt bekannt, keineswegs klar. Die Dokumentare konnten zwar Daten und Fakten prüfen, auf die der junge Syrer angeblich verwiesen hatte, den Giftgasanschlag von Ghuta etwa. Aber bei den Live- Videogesprächen per WhatsApp waren sie nicht dabei, die angeblich bei den Gesprächen anwesende Übersetzerin wurde als Quelle nicht gefragt, die Nachricht mit dem Link zu dem besagten Lied nicht geprüft. Das Vertrauen der Dokumentation war an dieser Stelle wieder groß, und es war zu leicht, sie zu täuschen. Relotius, so erzählen es Dokumentare, habe immer authentisch berichtet, welche Schwierigkeiten bei der Recherche aufgetaucht waren. Er habe sich nie gebrüstet, wie toll die Dinge liefen, habe sich für Hinweise auf Faktenfehler bedankt, die Hilfe von Fotografen gelobt. Der bescheidene Auftritt machte ihn am Ende offenbar unverdächtig, zu dick aufzutragen oder schlicht zu lügen.

Beispiel 3: "Löwenjungen", erschienen im SPIEGEL am 18.2.2017

Auch dieser Text gehört zu den großen Relotius-Stücken und er zeigt, wie es Relotius gelingen konnte, den kritischen Blick im Haus abzulenken.

Die Brüder Nadim und Khalid sind 12 und 13 Jahre alt, als sie der IS verschleppt. Sie werden gefoltert, umerzogen und mit Sprengstoffwesten nach Kirkuk geschickt, um Ungläubige und sich selbst in die Luft zu jagen. Einer von ihnen, Nadim, zögert und überlebt.

Relotius hat ihn besucht, er hat den Arzt, der Nadim psychologisch betreut, im Gefängnis getroffen. Beide Personen gibt es, und Relotius hat es geschafft, zu ihnen in das Hochsicherheitsgefängnis der Autonomen Region Kurdistan zu kommen, nahe der Stadt Dschamdschamal. Doch was Nadim ihm erzählt, reicht Relotius offenbar nicht. "Ich habe nicht genug Zeit mit dem Jungen gehabt", sagt er, und habe deshalb mit Details "ausgeschmückt", Gleiches gilt für die Person des Arztes. Weil es an Details fehlte, habe er beide Charaktere "notgedrungen aus meiner Sicht weitererzählt." Welche und wie viele Details Relotius erfunden hat, ist noch unklar. Doch es gibt in dem Text eine Szene, in der Nadim auf dem Boden seiner Zelle sitzt und Verse des Koran zitiert. "Nadim hat keinen dieser Verse vergessen. Er sagt sie nacheinander auf, wie schüchterne Kinder Gedichte aufsagen, zu Boden sehend, atemlos." Es folgen einzelne Suren und Verse in deutscher Übersetzung. Ob Nadim die Koransuren kennt, wisse er nicht, räumt Relotius jetzt ein. Er habe mit ihm nicht darüber gesprochen.

Der Dokumentarin aber, die seinen Text prüft, schreibt Relotius Mitte Februar 2017 per E-Mail, die Suren habe der Übersetzer im Gefängnis notiert und ins Englische übersetzt. Er, Relotius, habe sie anschließend ins Deutsche übersetzt. "Da das aber ein sensibles Thema ist und wir uns nicht so gut auskennen wie andere, wäre es gut, wenn du die Verse noch mal gegenchecken könntest. Im Netz werden die Stellen zum Teil auch etwas unterschiedlich übersetzt."

Er, der sich die Szene nach eigenen Angaben nur ausgedacht hat, lenkt den Blick der Dokumentare auf die Übersetzung, er wirkt dabei akribisch und pedantisch. Die kritische Distanz der Dokumentation hat er damit offenbar gebrochen. Er verweist in seiner Mail auch auf Widersprüchlichkeiten in den Presseberichten über die Attentate der beiden Jungen, etwa unterschiedliche Altersangaben, darauf, dass Nadim nicht bloß zwei Kilo Sprengstoff am Körper trug sondern neuneinhalb Kilo, wie die Polizei vor Ort angebe. Er habe mit dem Geheimdienst und der Polizei in Kurdistan gesprochen, schreibt Relotius. Schriftliche Belege?

Keine. Das Video vom Marktplatz, das zeige, wie Nadim von der Moschee wegrennt, auf die er einen Anschlag verüben soll, "ist im Internet nicht zu finden", schreibt Relotius. "Die kurdische Polizei hält es unter Verschluss, ich habe es aber vor Ort ansehen dürfen." Ob das stimmt oder nicht? Die Dokumentare glauben es dem vermeintlich vertrauenswürdigen, detailgenauen Kollegen. Und: Der größte Teil seiner Geschichte ist schließlich selbst erlebt, also nur bedingt prüfbar.

Wie also lässt sich, nach allem, was wir bisher wissen, ein solcher Fall künftig verhindern?

Der Dokumentar korrigiert Flüchtigkeitsfehler, deckt Irrtümer und Missverständnisse auf, identifiziert falsche Zusammenhänge und Verwechselungen. Er schützt das Haus vor Schlampigkeit und vermeidbaren Fehlern, aber kriminelle Energie unterstellt er nicht. Wo der Autor der einzige Augen- und Ohrenzeuge ist, ist er selbst und allein verantwortlich - das ist bisher das Prinzip. Es wird nun zu hinterfragen sein. Wie prüft man die Integrität eines Kollegen oder einer Kollegin mit bestem Leumund? Das System hat gegenüber einem Betrüger versagt, und dies muss Folgen haben. Auch damit wird sich die Kommission befassen und Vorschläge vorlegen.

Fest steht schon jetzt, dass es erstens ein größeres Maß an kritischer Distanz auch gegenüber Autoren geben muss, deren Texte bisher nicht von außen beanstandet wurden oder die sogar Preise um Preise gewonnen haben. Es wird nach dem Fall Relotius nicht mehr reichen zu vertrauen, dass Dinge schon richtig sein werden, wenn sie sich nicht verifizieren lassen und der Autor bisher nicht als schlampig aufgefallen ist. Zweitens wird vermutlich die Bringschuld von Redakteuren größer werden, ihre Recherchen besser zu dokumentieren, vom Selfie mit Protagonisten bis hin zu handschriftlichen Notizen oder Ton- und Videoaufnahmen. Drittens müssen Redaktion - Ressortleiter und Chefredakteure eingeschlossen - mehr Verständnis dafür entwickeln, dass Dokumentare auch dann nicht locker lassen, sich an Details und Kleinigkeiten festbeißen, wenn sie den Text eines im Haus hoch geschätzten Kollegen auf dem Tisch haben.

Das sind die offensichtlichen Schlüsse aus dem Fall Relotius. Es werden nicht die letzten sein. Die Kommission wird öffentlich berichten.

red