(Translated by https://www.hiragana.jp/)
Sie kamen in der Nacht - DER SPIEGEL
Zum Inhalt springen
Zur Ausgabe
Artikel 2 / 47

SPIEGEL-AKTION Sie kamen in der Nacht

aus DER SPIEGEL 45/1962

Die ersten kamen am Freitag, dem 26. Oktober 1962, kurz nach 21 Uhr ins Haus, und danach kamen sie, Welle um Welle, aus Karlsruhe, aus Wiesbaden, aus Bonn, aus Hamburg.

Sie kamen mit dem Verdacht, es sei Landesverrat begangen worden, landesverräterische Fälschung und aktive Bestechung. Sie durchsuchten die Häuser von Rudolf Augstein, Claus Jacobi, Johannes K. Engel, Conrad Ahlers und Hans Schmelz. Sie nahmen mit, was ihnen bedeutsam erschien, und gaben die Häuser wieder frei. Sie nahmen Johannes K. Engel und Hans Dieter Jaene fest und gaben sie wieder frei. Sie verhafteten Rudolf Augstein, Claus Jacobi, Conrad Ahlers, Hans Schmelz und, acht Tage nach Beginn der Aktion, Hans Detlev Becker.

Sie durchsuchten, wenige Stunden bevor das SPIEGEL-Heft 44 abgeschlossen war, das Bonner Büro, und sie besetzten alle fünf Etagen der Hamburger Zentrale, und hier blieben sie. Sie besetzten - zum Zwecke einer »Durchsuchung« - die Chefredaktion und die Besenkammern der Putzfrauen, die Bibliothek und den Konferenzraum, das Archiv und die Kulturredaktion, die Toiletten wie die Feuertreppen, die Rechtsabteilung wie die Buchhaltung, das Photolabor wie die Vertriebsabteilung, die Werbeabteilung wie die Wirtschaftsredaktion. Sie besetzten 2933,8 Quadratmeter Büroraum, sie besetzten den Arbeitsplatz von 209 Mitarbeitern, und da blieben sie - am Sonnabend, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch. Da waren sie noch am Wochenende. Erst am Mittwochnachmittag gaben sie wenigstens die Räume in der siebenten Etage, die Fernschreib- und die Telephonzentrale wieder heraus.

Sie kamen am Freitag und begannen ihre Aktion, für die es in der Geschichte der Bundesrepublik keine Präzedenz und kein Beispiel gibt, wohl aber dies: eine Erklärung. Sie kamen und begannen ihre Aktion, die inzwischen jedenfalls zu einer Koalitionskrise und zu einer Regierungskrise, im Vokabular der Kommentatoren sogar zu einer Staatskrise geführt hat.

Sie kamen unangemeldet. Aber so ganz unangemeldet kamen sie auch wieder nicht. Die Nebengeräusche ihrer Maschinerie knickten und knackten seit fast zwei Wochen in jedes Telephongespräch, zuweilen schüttelte es die Verbindungen durcheinander, mitunter löschte ein ungeschickter Griff ihrer Techniker zwanzig Telephongespräche auf einen Schlag. Der Fernmelde-Techniker von Mix & Genest, für den es in der Hamburger Zentrale fast unausgesetzt Arbeit gibt, die komplizierten Telephon-, Wechselsprech- und Konferenz-Anlagen in Ordnung zu halten, war in seiner Fachmann-Ehre keineswegs getroffen. Er lokalisierte den Schaden mit Entschiedenheit: »Das muß an der Post liegen.« Dagegen stellte die Oberpostdirektion Hamburg auf Befragen klar, daß »postseitig nichts Außergewöhnliches vorliege«.

Am vorletzten Mittwoch blockierten sie aus ihrem Versteck dem Bonner Büro die Leitungen bis auf eine einzige, letzte. Es war an jenem gleichen Mittwoch, dem 24. Oktober, an dem der Bundesverteidigungsminister auf einem parlamentarischen Abend beim Bundespräsidenten eine Probe dessen gab, was er unter »glossierend-ironischer Form« (so Oberst Schmückle) versteht: sein Votum, der Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid gehöre ins Gefängnis, der Hamburger Innensenator Schmidt sei reif fürs Zuchthaus und der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Jahn, müsse aufgehängt werden.

Die Befehle zur vorläufigen Festnahme der SPIEGEL-Leute tragen das Datum vom Dienstag, dem 23. Oktober. Am Donnerstag, dem 25. Oktober, wurde nach Erledigung der Kleinen Anfrage wegen »Onkel Aloys« per Abstimmung im Bonner Bundestag festgestellt, daß sich Verteidigungsminister Strauß nicht pflichtwidrig verhalten habe - der Termin der abschließenden Fibag-Debatte war von der CDU/CSU-Fraktion auf diesen Termin gegen die Meinung der SPD durchgesetzt worden, die an jenem Tag, im Zenith der Kuba-Krise, andere Themen für wichtiger hielt.

Am darauffolgenden Freitag, dem 26. Oktober (der »Kölner Stadtanzeiger« fand, wie viele andere: »Es ist unmöglich, zwischen diesen Terminen keinen Zusammenhang zu sehen"), wurden die Schatten länger, zeichneten sich die ersten Konturen der Aktion gegen den SPIEGEL ab.

Es begann eine Aktion, von der zumindest im Ausland der Eindruck entstand, erst die Resultate der Durchsuchung sollten nachträglich legitimieren, was da getrieben wurde - mit den Worten des »Guardian": »Die noch immer andauernde Besetzung der Zeitungsbüros hat den Verdacht genährt, daß die Bundesanwaltschaft zu wenig Material für ihre Zwecke besitzt und hofft, in den Archiven der Zeitung einen Grund für das Einschreiten zu finden.«

Natürlich mußte alles in größter Heimlichkeit geschehen, natürlich durften nur die Zuverlässigsten eingeweiht werden. Der Bundesjustizminister Wolfgang Stammberger, der oberste Justizbeamte der Bundesrepublik, gehörte nicht zu denen, die informiert wurden. Er hat deswegen seine Entlassung verlangt.

Auch der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, in dessen Amtsbereich die Maßnahmen gegen das Bonner Büro des SPIEGEL fielen, Willi Weyer, wartet noch heute auf die Informationen, um die er den Bundesinnenminister gebeten hat.

Weyers Düsseldorfer Innenministerium, das nach dem Gesetz über die Einrichtung eines Bundeskriminalamtes »unverzüglich« von der Aktion hätte informiert werden müssen, bekam am Freitagabend vor Beginn der Aktion aus Bonn so ungenaue Mitteilungen, daß man die angekündigten Maßnahmen zunächst für »die übliche KP-Sache« hielt. Es war das Bonner Innenministerium, das erst am späten Abend des Freitag in Düsseldorf Weyers Staatssekretär, den CDU-Mann und Kanzler-Neffen Dr. Ludwig Adenauer, anrief und Andeutungen über die bevorstehende Aktion machte.

Am Nachmittag, gegen 15.30 Uhr, war bereits der Leiter des Landeskriminalamts, Dr. Wenzki, informiert worden, freilich mit dem Bemerken, daß er den Innenminister nicht zu informieren brauche. Alle diese Mitteilungen aus Bonn betrachtet Weyer - er ist nicht der einzige, dem das Verfahren »nicht gefällt« - als »unzureichend«.

In der Wohnung des Hamburger Innensenators Helmut Schmidt erschien am Freitag gegen 20.30 Uhr der Ministerialdirigent Toyka aus dem Bundesinnenministerium und teilte mit, daß eine Aktion gegen den SPIEGEL in Gang gesetzt werde. Schmidt machte zwar sofort »schwere politische Bedenken« geltend und sah in dieser Aktion »eine außerordentliche Belastung der Debatten um die Notstandsgesetzgebung«, telephonierte aber mit dem Hamburger Kriminaldirektor Dr. Land und wies ihn an, die von den Bonnern erbetene Amtshilfe zu gewähren. Indes, Dr. Land war bereits unterrichtet.

Und bald schon standen sie ringsum, fröstelnde Passanten, in den Hauseingängen, fuhren sie in ihren Limousinen ums Hamburger Pressehaus herum oder blickten von außen in den verschlossenen Kassenraum der benachbarten Garage, in der nur noch das erleuchtete Zierfisch-Aquarium in grünlichem Licht schimmerte. In Pantoffeln schlich sich der Garagen-Pächter an die Herren heran, die auf seine Fische starrten und deren Absichten er gründlich mißdeutete, und schlug einem von ihnen mit Macht auf die Schulter: »Nun machen Sie mal, daß Sie von der Tankstelle verschwinden.« Sie verschwanden.

Aber ihr Interesse für Autos und Autofahrer blieb. Bereits um 18.30 Uhr hatten sie am Freitag in Düsseldorf den Anzeigen-Mann Erich Fischer festgenommen, den Leiter des Düsseldorfer Verlagsbüros, als er, die Sonntagsbraten-Ente unterm Arm, zu seinem Mercedes ging, den er auf dem Parkplatz des Bankhauses Trinkaus in der Königsallee abgestellt hatte. »Fischer wollen Sie heißen?« fragten die Herren von der Sicherungsgruppe Bonn, da konnten sie nur höhnisch lachen: »Geben Sie doch zu, daß Sie nicht Fischer sind.«

»Wenn ich ein Geständnis ablege, kriege ich dann weniger?« fragte Fischer, aber die zwei Herren waren durchaus nicht zum Scherzen aufgelegt, und waren es gewiß um 20 Uhr noch weniger, als sie sich auf der Polizeiwache nach anderthalb Stunden der Erkenntnis nicht länger verschließen konnten, daß Fischer wirklich Fischer war. Die Sonntagsente durfte nach Hause gebracht werden.

Blumenkohl und Mohrrüben, die Johannes K. Engel, 35, einer der beiden SPIEGEL-Chefredakteure, mit sich führte, mußten länger warten. Engel hatte am Freitag, kurz nach 21 Uhr, die Hamburger Zentralredaktion verlassen und war eben dabei, die Tür seines Mercedes aufzuschließen, der vom Tankwart bereitgestellt worden war, als er von zwei Beamten festgenommen wurde - »wegen Verdachts des Landesverrats«. Das Gemüse durfte er noch in seinem Wagen ablegen, seinen Aktenkoffer aber mußte er mit in den schwarzen Wagen nehmen, in dem er fortgeschafft wurde.

Erst vierundzwanzig Stunden später - Engel war inzwischen im Justizgebäude am Sievekingplatz, im Polizeipräsidium am Berliner Tor und wieder im Justizgebäude festgehalten worden, hatte die Durchsuchung seines Büros mit angesehen und hatte die Postkarte von Tante Tilly und die Visitenkarte eines Hamburger Baby-Hotels zurückerhalten, die, unter anderem, in seinem Haus sichergestellt worden waren - stand Engel wieder als freier Mann an seinem Wagen. Haftgründe, wurde ihm vom Richter mitgeteilt, bestünden nicht.

Während der Zeit, in der solche Gründe bestanden hatten, hatten die Polizisten mehrmals etwas spendiert, um Engel nicht hungern zu lassen: Es gab Fruchtlimonade in der Nacht, Käsebrötchen und Nescafé zum Frühstück, Würstchen mit Salat zum Mittag. Am Samstag gegen Mitternacht brachte Engel seinen Blumenkohl nach Hause, rechtzeitig genug für das Sonntagsessen.

Da er aber weiter als Beschuldigter gilt, ist seine Entlassung mit Auflagen verbunden worden. Seine Freiheit ist eingeschränkt. Chefredakteur Engel hat sich daher fürs erste beurlaubt.

Einige Zeit, nachdem Johannes K. Engel festgenommen worden war, fahndete die Hamburger Polizei noch immer nach einem Fahrzeug mit dem Kennzeichen HH-SV 100, in dem sich nach ihrer Ansicht befinden sollten: ein Mann namens Rudolf Augustin, einer namens Johannes Engel und einer namens Claus Jacobi.

Wen die wohlinformierte Polizei wohl gemeint haben könnte, als sie nach Rudolf Augustin suchte, hatten sich einige »Bild«-Reporter, die den Polizeifunk abhörten, schnell zusammengereimt. Warum die Polizei den SPIEGEL-Herausgeber und die beiden SPIEGEL-Chefredakteure in jenem Wagen vermutete, wird dagegen einstweilen Geheimnis der Polizei bleiben: Das Kraftfahrzeug gehört Werner Dolata, wohnhaft Hamburg-Billstedt, Kleingartenverein Horner Brook, Kolonie Goldkoppel, Parzelle 175.

Dolata, von Beruf Polier, hatte am Freitagabend in der Nähe der Garage, In der einige SPIEGEL-Leute tagsüber ihren Wagen abstellen, eine Polier-Besprechung, die gegen 22 Uhr zu Ende war. Dolatas Wagen war in der Nähe des Pressehauses geparkt. Da der Polier ohne Mantel und außerdem sehr hungrig war, lief er mit einem Kollegen zu seinem Fahrzeug. Offenbar erweckten die beiden Laufenden bei herumstehenden Polizisten den Eindruck, sie seien flüchtige SPIEGEL-Redakteure.

Als Dolata zu Hause ankam, stoppte gleich hinter ihm ein zweites Fahrzeug ohne Polizei-Kennzeichen, und zwei Kriminalbeamte stiegen aus. Sie forderten Dolata auf, sein Fahrzeug unverschlossen und seine Aktentasche im Fahrzeug zu lassen: es käme gleich ein weiterer Polizist, der Fahrzeug und Tasche in Obhut nehmen würde.

Dolata wurde aufgefordert, mit zur Wache zu kommen, als er sich jedoch weigerte, verhandelten die Kriminalisten mit ihm in seiner Wohnung. Es stellte sich dann bald heraus, daß der Polier keinerlei Verbindung mit dem SPIEGEL hatte. Die enttäuschte Polizei verhängte über Dolata zum Schluß ein Strafmandat von fünf Mark - wegen zu schnellen Fahrens.

Den SPIEGEL-Chefredakteur Claus Jacobi, 35, vermuteten die Polizisten derweil nicht nur in Dolatas Wagen, sondern noch an anderer Stelle: An der Wohnungstür des SPIEGEL-Redakteurs Ernst Hess ("Peter Brügge") in der Hamburger Hochallee klopften kurz nach 21 Uhr zwei Herren und wünschten Chefredakteur Jacobi zu sprechen. Hess, eben der Badewanne entstiegen, versicherte fröstelnd durch einen Türspalt, Jacobi oder dessen Anschrift seien ehestens in der Redaktion des SPIEGEL zu finden.

Da die Besucher dem halbnassen Hess unbehaglich wurden - einer hatte, nach Vertretermanier, seinen Fuß in den Türspalt gestellt -, drängte er sie hinaus und alarmierte übers Telephon die Funkstreife: Grund genug für die Kriminalbeamten, sich unauffällig zu entfernen.

Nach einer halben Stunde war noch immer keine Funkstreife da, aber nach fünfunddreißig Minuten kamen dafür gleich zwei, mit höflicher Entschuldigung: Es hätte an diesem Abend besonders viele Verkehrsunfälle gegeben. Und: In dringenden Fällen empfehle es sich, die Nachbarn um Hilfe zu bitten.

Als die Funkstreifenleute die Hess-Geschichte hörten, rieten sie, den Chefredakteur Jacobi sofort durchs Telephon vor den falschen Kriminalbeamten zu warnen. Sie waren Ohrenzeugen der langen Versuche, eine Verbindung mit dem SPIEGEL zu bekommen. Aber es gab um diese Zeit keine Telephonverbindung mehr zum SPIEGEL. In der Zentrale saßen Kriminalbeamte, und die waren zweifellos echt.

Der erste, der sie am Freitagabend hatte kommen sehen, war der Pförtner des Hamburger Pressehauses am Speersort, und sie gefielen ihm nicht: »Meine Herren, Sie können doch hier nicht einfach so eindringen. Was soll denn das? Kommen Sie von St. Pauli? Wollen Sie hier was demolieren?« Die Antwort war kurz: »Das geht Sie nichts an.«

Dem Pförtner der SPIEGEL-Redaktion sagten sie immerhin doch, was sie wollten: »Wir möchten Herrn Augstein sprechen.«

»Herr Augstein ist nicht da. Ich kann Sie Herrn Jacobi melden. Wer sind die Herren?«

»Melden Sie uns mal an.«

Sicherheitshalber gingen sie gleich zu Claus Jacobi mit. Ihm wurde mitgeteilt, daß er wegen Verdachts des Landesverrats vorläufig festgenommen werde. Außerdem wurde ihm ein Durchsuchungsbefehl zur Kenntnis gegeben, der das Dienstsiegel des Bundesgerichtshofs trug - er richtete sich gegen den »Verlagsleiter Rudolf Augstein«. Dem SPIEGEL-Chefredakteur Jacobi, der noch mitten in der Arbeit für das Heft steckte, wurde mitgeteilt, daß wegen dieser Durchsuchung die gesamte Redaktion unverzüglich geräumt werden müsse.

Zumindest das Zimmer von Claus Jacobi ist an jenem Abend in Jacobis Gegenwart durchsucht worden. Gegen Mitternacht wurde Anneliese Jacobi durch das Geräusch eines vorfahrenden Kraftwagens geweckt. Sie sah durch ihr Schlafzimmerfenster, wie mehrere Männer mit einer Taschenlampe durch den Garten kamen. Erst durch ein gewohntes Pfeifsignal ihres Mannes beruhigt, kam sie herunter. Ihr Mann war in Begleitung von drei Kriminalbeamten, von denen einer aus dem benachbarten Bad Segeberg kam, die beiden anderen von der Sicherungsgruppe Bonn. Anneliese Jacobi mit Blick auf die Begleitung ihres Mannes: »Wolltest du wirklich, daß ich dir öffne?« Claus Jacobi: »Guck bloß nicht so böse, die Männer können nichts dafür.«

Die Haussuchung begann im Obergeschoß, im Schlaf-, Gäste- und Kinderzimmer des Jacobi-Hauses. Frau Jacobi fragte ihren Mann: »Wie kommt denn das alles?« Aber sofort warnten die Beamten den Chefredakteur: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß darüber nicht gesprochen werden darf.«

Die Matratzen wurden hochgehoben, und die Beamten leuchteten unter die Betten. Sie öffneten den Schreibtisch von Anneliese Jacobi und sammelten einen Teil ihrer Privatpost ein, sie schüttelten Bücher aus, holten behutsam die Wäsche aus den Schränken und ordneten sie ebenso behutsam wieder ein, sie widmeten ihr Augenmerk den Spielsachen der beiden Jacobi-Kinder. Die schlafenden Kinder wurden von den Eltern abwechselnd von einem Zimmer ins andere getragen, damit alle Betten, auch die Kinderbetten, untersucht werden konnten.

Keller, Garage und auch der Ponystall, in dem das Stroh polizeilich zu prüfen war - es wurde nichts ausgelassen. Die Durchsuchung dauerte etwa zwei Stunden. Gegen zwei Uhr morgens hatte sich auf Jacobis Schreibtisch ein Berg von Papieren angesammelt, die von polizeilichem Interesse schienen: Privatbriefe, alte Manuskripte, Notizen: Jedes Stück wurde quittiert.

Als Anneliese Jacobi die Stimme ihres Mannes das nächste Mal hörte, war es Sonntag morgen. Er rief aus dem Hamburger Untersuchungsgefängnis an und teilte mit, er sei verhaftet.

Am Freitagabend, als die Beamten der Sicherungsgruppe Bonn - der Exekutive des Bundeskriminalamts Wiesbaden - und die Beamten der Hamburger Kriminal- und Bereitschaftspolizei die unverzügliche und vollständige Räumung sämtlicher Redaktionsräume verlangten, war der SPIEGEL 44/1962 noch nicht fertig. Es arbeiteten noch außer der Chefredaktion die Redaktion Deutschland II, die Wirtschaftsredaktion, die Sportredaktion, die Bildredaktion, das Archiv und, vor allem, sämtliche Redakteure des Ressorts »Chef vom Dienst«, denen unter anderem die minuziöse Schlußredaktion des Heftes übertragen ist.

Sie waren es denn auch - zunächst Dr. Heinz Pohle, der stellvertretende Ressortleiter, danach, sobald er vom Abendessen zurückkam, Johannes Matthiesen, Leiter des Ressorts »Chef vom Dienst« -, die sich mit aller Energie weigerten, einem Räumungsbefehl, der ihnen nur mündlich zur Kenntnis gegeben wurde, nachzukommen. Sie weigerten sich auch noch, als ihnen von der Polizei, die inzwischen durch uniformierte Beamte verstärkt worden war, unmißverständlich deutlich gemacht wurde, daß es Mittel gebe, die Räumung durchzusetzen, notfalls mit Gewalt.

Aber der Widerstand nützte. Der Hauptkommissar, der die Arbeit der Sicherungsgruppe leitete, mußte auf dringenden Vorhalt von Matthiesen einsehen, daß sein Vorgehen das Erscheinen der nächsten SPIEGEL-Ausgabe verhinderte. Er mußte einräumen, daß er nicht angewiesen worden sei, das Erscheinen des SPIEGEL zu verhindern. Als ihm klargemacht wurde, daß er im Begriff sei, eben das zu tun, gab er nach. Er bestand zwar weiter auf der Räumung der Redaktionsräume, gestattete aber einer kleinen Zahl von Mitarbeitern - genau: zehn-, ihre Arbeit fortzusetzen, bei geöffneten Türen und in Gegenwart von Beamten, die in jedem Zimmer postiert wurden. Die Telephonzentrale wurde besetzt, die Benutzung auch der Hausapparate verboten.

Ein SPIEGEL-Redakteur hatte derweil die Deutsche Presseagentur (dpa) um Recherchen gebeten. Und über die Wechselsprechanlage hörte Chef vom Dienst Matthiesen plötzlich die Stimme von Leo Brawand, dem Leiter des Wirtschaftsressorts und stellvertretenden Chefredakteur: »Ich habe die zwei letzten Seiten jetzt gelesen und gehe nach Hause. Ich bringe sie Ihnen vorbei.« Leo Brawand hatte von der Aktion nichts gemerkt. Die Räume der Wirtschaftsredaktion liegen in einem anderen Stockwerk, das die Polizei noch nicht besucht hatte.

Es war die Frau von Leo Brawand, der es nach einigen Versuchen gelang, den Rechtsanwalt Dr. Josef Augstein in Hannover zu erreichen, den Bruder des SPIEGEL-Herausgebers, und ihn zu informieren, daß durch eine Polizeiaktion das Erscheinen der nächsten SPIEGEL-Ausgabe behindert, wenn nicht verhindert werde.

Als die Polizei in Brawands Räume kam, waren sie dunkel und leer. Brawand, der sich in einem Schrank aufhielt, hörte die Worte: »Hier haben sie auch schon dicht gemacht.« Dann wurde er eingeschlossen. Er brauchte eine Viertelstunde, ehe er mit Brieföffner und Büroschere das Türschloß ausgebaut hatte. Einem Hamburger Reporter, der ihn später fragte, was er wohl im Schrank gesucht habe, antwortete er: »Ich gehe immer in den Schrank, wenn ich nachdenke.«

Wenngleich mit einigen Stunden Verspätung, wenngleich mit einigen Ungenauigkeiten, die unter anderen Umständen nicht verziehen worden wären - eine Buchseitenzahl ist falsch -, brachte das Chef-vom-Dienst-Ressort derweil den SPIEGEL 44/1962 zum Abschluß. Jedem Boten, der eine Korrekturseite vom Ressort im sechsten Stock zur Setzerei der Auerdruck-GmbH im ersten Stock brachte, wurde ein Beamter mitgegeben. Nach dem zwanzigsten Gang verzichteten die Begleiter und ließen den Boten unbewacht pendeln.

Sie hatten ohnehin das Gefühl, bei den Setzern - einem Berufszweig hochqualifizierter Facharbeiter, deren Bürgersinn nicht einmal im Dritten Reich angenagt werden konnte - unwillkommen zu sein.

Gegen 23 Uhr drohte der Hauptkommissar, Mißmutäußerungen der Setzer müßten aufhören, »sonst wird der Betrieb hier endgültig eingestellt«. Als Matthiesen in die Setzerei ging, um Frieden zu stiften, fand sich allerdings niemand, der etwas von Muh- und Buh-Rufen gehört hatte.

Nachts um drei Uhr aber geschah, was nicht nur nach Ansicht des SPD-Juristen Dr. Adolf Arndt »einwandfrei im Widerspruch zum Verfassungsgesetz« steht.

Der Hauptkommissar erschien beim Chef vom Dienst Matthiesen: »Der neue SPIEGEL kann erscheinen unter der Bedingung, daß uns die Druckfahnen sämtlicher Artikel und Meldungen des nächsten Heftes vorgelegt werden. Es muß gewährleistet werden, daß der SPIEGEL im neuen Heft keine weitere Straftat begeht.«

Matthiesen: »Meines Wissens gibt es in Deutschland keine Vorzensur. Ich lege gegen diese Forderung Protest ein.«

Hauptkommissar: »Gut, wenn Sie protestieren, werden wir die Fahnen beschlagnahmen und dem Ermittlungsrichter zusenden.«

Matthiesen: »Wie würde es gehandhabt werden, wenn ich Ihnen die Fahnen aushändige?«

Hauptkommissar: »Dann würde ich sie durchsehen.«

Matthiesen hielt es für wichtig, alles zu vermeiden, was in der prekären Lage - eine Andruckverzögerung von zwei Stunden schien ohnehin unvermeidlich - die Fertigstellung des Heftes gefährden könnte. Andererseits: Das Grundgesetz, Artikel fünf, Absatz eins, war auf seiner Seite: »Eine Zensur findet nicht statt.« Chef vom Dienst Matthiesen entschied sich: »Ich bleibe bei meinem Protest.«

Hauptkommissar: »Dann werden die Fahnen beschlagnahmt.« Sie wurden in einen Umschlag gesteckt, versiegelt, und das Siegel wurde vom Hauptkommissar und von Matthiesen abgezeichnet.

Die Sendung ging durch Kurier an den Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes. Der Hauptkommissar zu Matthiesen: »In Ihrem Interesse müssen Sie dafür sorgen, daß diese Fahnen jede Zeile enthalten, die im nächsten SPIEGEL erscheint. Sie machen sich sonst der Begünstigung schuldig.«

MdB Dr. Arndt: »Eine Beschlagnahme zum Zwecke der Zensur ist ein Bruch der Verfassung, ebenso eine polizeiliche Vorprüfung einer noch nicht erschienenen Zeitschrift.«

Gegen fünf Uhr früh, am Sonnabendmorgen des 27. Oktober, war die Arbeit am SPIEGEL-Heft 44/1962 abgeschlossen, so gut es unter den erschwerenden Umständen möglich gewesen war. Gegen fünf Uhr früh auch lehnte sich Rudolf Augstein, der inzwischen 39jährige Gründer und Herausgeber des SPIEGEL, zurück. Das Blatt war fertig geworden. Rudolf Augstein hatte zugesagt, sich am Sonnabendmittag dem Ermittlungsrichter der Bundesanwaltschaft zu stellen. Er wollte versuchen, noch etwas zu schlafen.

Sein Haus war bereits am Freitagabend von den Beamten durchsucht worden, in Gegenwart von John Jahr, der jahrelang Augsteins Mitverleger des SPIEGEL gewesen war und nach wie vor Augsteins Hausnachbar geblieben ist. John Jahr fuhr danach - im Smoking, die Verlobung seiner Tochter Angelika war gefeiert worden - zum Pressehaus, um sich einen Überblick zu verschaffen. Auskünfte wurden ihm verweigert, aber was er sah, genügte ihm. Er fand Rudolf Augstein.

Dort saßen sie inzwischen, der SPIEGEL-Herausgeber, der Verlagsdirektor des Hauses, Hans Detlev Becker, der Justitiar des SPIEGEL-Verlags, Graepel, und der Bruder des Herausgebers, Dr. Josef Augstein, der aus Hannover herübergekommen war.

Dr. Josef Augstein, der an diesem Abend eben noch mit seinem Bruder wegen der Bonner Tagesereignisse telephoniert hatte - wegen der Kleinen Anfrage um »Onkel Aloys« und wegen der abschließenden Fibag-Debatte -, durfte in Hannover erste Nachfragen der dpa wegen der Aktion gegen den SPIEGEL noch für baren Unsinn halten. Erst die Anrufe von Frau Brawand und eigene Recherchen nötigten ihn, Unglaubliches für glaubhaft zu nehmen. Es war Dr. Josef Augstein, der seinen Bruder informierte. Hans Detlev Becker: »Langsam bildete sich so etwas wie eine Situation heraus.«

Rechtsanwalt Dr. Augstein fuhr daraufhin zunächst in den SPIEGEL, wo ihm unkontrollierter Kontakt mit der Redaktion nicht erlaubt wurde, obwohl weder seine Freiheit noch die der arbeitenden Redakteure durch irgendeinen Rechtsakt beeinträchtigt worden war. Er fuhr darauf zum ermittlungsführenden Ersten Staatsanwalt Dr. Buback ins Hamburger Polizeipräsidium und legitimierte sich als bevollmächtigt. Es wurde ihm mitgeteilt, die Bundesanwaltschaft ermittle gegen Rudolf Augstein wegen des Verdachts des Landesverrats. Von einem Haftbefehl war nicht die Rede. Dr. Augstein teilte dem Beamten mit, daß sich sein Bruder in wenigen Stunden den Ermittlungsbeamten zur Verfügung stellen werde.

Am Sonnabend um zwölf Uhr mittag fuhr Rudolf Augstein zum Polizeipräsidium. Danach besuchte er in Begleitung einiger Beamter sein Büro. Am Nachmittag wurde er in Hamburg verhaftet.

Am Nachmittag wurde Hans Dieter Jaene in Bonn freigelassen.

In Bonn hatte die Aktion gegen den SPIEGEL genau zur gleichen Zeit begonnen wie in Hamburg: am Freitagabend um 21 Uhr - abgesehen davon, daß den Nachbarn des SPIEGEL-Büros und den Nachbarn von Hans Dieter Jaene in Oberpleis schon einige Zeit vorher Wagen und Zivilisten aufgefallen waren, die ihr Desinteressement etwas überdeutlich darzustellen versuchten.

Hans Dieter Jaene, 38, stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Bonner Büros, wurde um 21 Uhr von Beamten der Sicherungsgruppe Bonn aus dem Hause geholt. Er durfte im eigenen Wagen ins Bonner Büro fahren. Hans-Roderich Schneider, den sie um 21.30 Uhr aus seiner Wohnung holten, durfte es nicht. Er mußte den Wagen der Kriminalpolizei benutzen.

Vor dem Bonner Büro wartete Landgerichtsrat Oberle von der Bundesanwaltschaft und teilte mit, daß eine Untersuchung der Büroräume angeordnet worden sei. Grund: Verdacht des Landesverrats. Von Landgerichtsrat Oberle wurde aber ausdrücklich mitgeteilt, als strafbare Handlung werde die Veröffentlichung der Titel-Geschichte über Foertsch (SPIEGEL 41/1962) angesehen; es werde einzig und ausschließlich nach Beweismitteln zu dem Foertsch-Artikel gesucht. Alles andere interessiere nicht im geringsten.

Die Arbeit der Beamten schien zunächst gegen 0.30 Uhr in der Nacht abgeschlossen. Sie war nicht eintönig verlaufen und gewiß nicht ohne eine Art von Herzlichkeit. Ein Beamter hatte sich zur Lektüre der Foertsch-Titel-Geschichte zurückgezogen, um den inkriminierten Gegenstand überhaupt erst kennenzulernen, ein anderer erkundigte sich, ob es wohl zweckmäßig sei, VW-Aktien abzustoßen, wieder ein anderer war erst dann davon abzubringen, die rund 4000 Drucksachen des Bundestages durchzuforsten, als er darüber aufgeklärt worden war, daß diese Materialien jedermann zugänglich seien.

Die Beamten fanden während ihrer konzentrierten Arbeit Gelegenheit, das Photokopiergerät des Bonner Büros zu bewundern - Kommentar: »Und wir haben noch so ein altes« -, und sie fanden Gelegenheit, nach den Etatansätzen für das Bundeskriminalamt zu suchen, nachdem sie bei ihrer Durchsicht auf den Haushaltsplan gestoßen waren.

Während der Durchsuchung kamen die ersten Telephonanrufe von Journalisten, die gehört hatten, daß irgend etwas im SPIEGEL-Büro los sei. Da Jaene auferlegt worden war, keine Auskünfte zu geben, verhielt er sich der Anweisung entsprechend: Er erklärte den Anrufern, daß er keine Auskunft geben könne, da er von Herren der Sicherungsgruppe umgeben sei, die gerade das Büro durchsuchten.

Nach Abschluß der ersten Durchsuchung fuhr Jaene, immer noch im eigenen Wagen, aber wieder in Begleitung von Polizisten, zum Bundeskriminalamt, wo er - nach langem chinoisem Höflichkeitsstreit, wer von beiden die einzige aus dem Automaten aufgetriebene Coca-Cola-Flasche zur Erfrischung trinken sollte - von Landgerichtsrat Oberle vernommen wurde. Nach Abschluß der Vernehmung wurde er gebeten, sich freiwillig so lange zur Verfügung der Sicherungsgruppe zu halten, bis seine Angaben geprüft worden seien, voraussichtlich bis Sonnabend mittag.

Die Freiwilligkeit war eine Courtoisie. Oberle erklärte, anderenfalls müsse er bedauerlicherweise Hans Dieter Jaene vorläufig festnehmen. Immerhin: Jaene durfte gegen vier Uhr in der Nacht noch einmal nach Hause, Rasierzeug und Zahnbürste zu holen, und immerhin: Der Freiwillige Jaene wurde trotz aller Freiwilligkeit in eine Zelle eingeschlossen. Um 8 Uhr gab es Frühstück und Zeitungen.

Am Sonnabendmittag wurde Jaene noch einmal vernommen, diesmal vom Untersuchungsrichter des Bundesgerichtshofs im Bonner Landgericht. Von Landgerichtsdirektor Dierks, der bereits im Zusammenhang mit seinen Maßnahmen wegen der »Quick«-Veröffentlichung um den Kommando-Bunker in Marienthal (Ahrtal) attackiert worden war, erfuhr Jaene, daß mangels dringenden Tatverdachts ein Haftbefehl gegen ihn nicht erlassen werde. Jaene sei ein freier Mann und könne sagen und tun, was er verantworten könne.

Die Räume des Bonner Büros, einschließlich Aktenkeller, Sekretariat und Archiv, sind offenbar zweimal gründlich durchsucht worden. Materialien, die den Beamten für ihre Ermittlung wichtig schienen, wurden - gegen detaillierte Quittung - sichergestellt und abtransportiert. Die Aktion in Bonn wurde, mit nur kurzer Unterbrechung in der Nacht, hintereinander erledigt und einstweilen abgeschlossen. Dann waren die Bonner Mitarbeiter, ihre Arbeitsräume und ihre Telephone wieder frei. Nur zwei Namen waren zunächst auf der Fahndungsliste nicht abgehakt: Conrad Ahlers, einer der stellvertretenden Chefredakteure und verantwortlicher Redakteur der Foertsch-Titelgeschichte, und Hans Schmelz, Mitglied der Bonner Redaktion des SPIEGEL.

Auf einem Weg, über den - einschließlich des Bundesjustizministers Stammberger - die deutsche Öffentlichkeit bis zum Wochenende nichts Zuverlässiges erfahren konnte, war inzwischen die spanische Polizei zu Hilfsdiensten gewonnen worden, um Conrad Ahlers, 40, in die Hand zu bekommen, der am Strand von Torremolinos bei Malaga die erste Woche eines immer wieder verschobenen Erholungsurlaubs soeben hinter sich gebracht hatte.

Schon am ersten Ferienabend im Badeort Torremolinos war ihm und seiner Frau ein kriminalistisches Rätsel aufgegeben worden, dessen mögliche tiefere Bedeutung ihnen erst viel später zu Bewußtsein kam: Ihr Koffer, den sie beim Abflug in Hamburg nicht abgeschlossen hatten, war nun plötzlich abgeschlossen und mußte vom Hoteldiener mit Gewalt geöffnet werden.

Die Schlüssel fanden sich im Innern des Gepäckstückes, wo sie seit dem Tage des Kaufs unbenutzt in einem Fach gesteckt hatten. Das Ehepaar Ahlers zerbrach sich vergebens den Kopf, welcher Zauberkünstler es fertiggebracht haben mochte, bei einer der Zwischenlandungen in Düsseldorf, Brüssel und Madrid die Schlüssel mit einzuschließen.

In der Nacht von Freitag auf Sonnabend, den 27. Oktober, zu einer Zeit, da man auch in Spanien zu schlafen pflegt, fuhren in einer schwarzen Limousine zwei schwarzuniformierte Polizeidiener aus Malaga am Hotel vor und ließen sich vom schlaftrunkenen Hausknecht zur Terrassentür des ebenerdigen Ahlers-Appartements führen. Sie klopften, und Ahlers öffnete im Pyjama.

Es war drei Uhr. Drei Stunden zuvor hatten Männer der Sicherungsgruppe Bonn sein Haus in Sasel bei Hamburg gründlich durchstöbert und eine gehbehinderte Tante, in deren Obhut die Kinder zurückgeblieben waren, sogar in den Keller getragen, damit sie die korrekte Arbeit der Kriminalisten auch dort bezeuge.

Die Polizisten in Torremolinos hatten nur einen Schmierzettel bei sich, auf dem man für sie in großen Blocklettern die Namen von Ahlers und Frau aufgeschrieben hatte.

Die mit derart kümmerlichen Unterlagen versehenen Polizisten gestikulierten, man möge sich anziehen, und wendeten diskret den Rücken, damit auch die Señora dem Befehl Folge leisten könne.

Versuche, das Mißverständnis aufzuklären, um das es sich nach Ansicht von Conrad Ahlers nur handeln konnte, scheiterten an Sprachschwierigkeiten.

Mit allem Gepäck und ohne Abmeldung beim Hotel wurden die beiden Ferienreisenden ins zwölf Kilometer entfernte Malaga gefahren, im Polizeipräsidium durchsucht und in eine übelriechende Arrestzelle ohne jegliche Möblierung gesperrt. Gründe wurden nicht angegeben. Unter vielerlei spanischen Entschuldigungen nahmen die Polizisten dem Delinquenten Ahlers Gürtel und Krawatte, damit ihm - wie sie andeuteten - keine Möglichkeit zum Selbstmord bleibe.

Auf ihren Mänteln hockend, erwarteten die beiden Ferienreisenden den Morgen, an dem die kuriose Situation sich ihrer Meinung nach klären würde. Kurz nach neun öffnete ein Polizist, reichte Heilwig Ahlers ihren Paß und wies stumm zur Tür. Draußen bekam sie das Gepäck, aber noch immer keine Erklärung.

Ein Kommissar, der sich schließlich mit Hilfe eines englisch radebrechenden Amtsdieners zur Rede stellen ließ, erklärte unbestimmt, man habe seine Anweisungen von oben, von Madrid.

Die Frau des SPIEGEL-Redakteurs nahm eine Taxe, mietete sich im Hotel »Miramar« von Malaga ein und verlangte ein Telephongespräch mit der Deutschen Botschaft in Madrid. Die Verbindung kam nicht zustande.

Statt dessen gelang es, den Früchte-Importeur Emil Küstner an den Apparat zu bekommen, dem in Malaga die konsularische Vertretung der Bundesrepublik anvertraut ist. Küstner hörte sich den Bericht über das Mißgeschick der Familie Ahlers an und versicherte, es sei ungemein schwierig, in Spanien am Sonnabend Affären wie diese aufzuhellen.

Minuten darauf traten drei Polizisten ins Hotel »Miramar« und holten das freigegebene Gepäck wieder ins Präsidium. Heilwig Ahlers begleitete sie. Auf einem Flur des Polizeigebäudes traf sie mit ihrem Mann zusammen. Polizisten führten ihn gerade in ein Büro, das ihm als neuer Arrestraum zugewiesen war, da die Zelle offenbar nun doch nicht mehr als angemessen empfunden wurde.

Über den Grund für seine Festnahme war Conrad Ahlers sich nach wie vor im unklaren. Seine Frau lief ins nahe Caféhaus und richtete neuerlich einen Hilferuf an den Konsul, der sich jetzt bereit erklärte, binnen 30 Minuten im Präsidium zu sein, nach zwei Stunden kam und mit dem Polizeichef parlierte, der auch von nichts wußte.

Weit davon entfernt, wegen der unmotivierten Zwangsmaßnahmen gegen zwei Touristen aus der Bundesrepublik Protest anzumelden, erwirkte Konsul Küstner immerhin, daß die Spanier für Ahlers ein Feldbett im Arrestraum aufstellten.

Weitere Versuche, am Sonnabendmittag zur Deutschen Botschaft durchzukommen, schlugen fehl. Am Nachmittag hatte Heilwig Ahlers zum erstenmal Glück: Am anderen Ende meldete sich das deutsche Archäologische Institut in Madrid.

Eine Stunde darauf wurden ihr von dort Namen und Telephonnummern eventuell zuständiger Botschaftsangehöriger ins Hotel »Miramar« übermittelt. Unter den Genannten war auch der Leiter der Konsularabteilung der Deutschen Botschaft, Christian Feit, ein ehemaliger Studienkollege ihres Mannes, und der Militärattaché Achim Oster, mit dem Conrad Ahlers, als er noch Pressechef im Amt Blank war, freundschaftlich zusammengearbeitet hatte. Oster war aber nicht zu erreichen. Legationsrat Feit war es, von dem die erschöpfte Frau Ahlers am Sonnabend um 20 Uhr schließlich erfuhr, daß die spanische Polizei nicht grundlos zugegriffen habe: Er erzählte ihr am Telephon von der Polizei-Aktion gegen den SPIEGEL, über die zu diesem Zeitpunkt auch schon die spanischen Abendzeitungen berichteten.

Feit fragte Heilwig Ahlers, ob sie und ihr Mann nach Deutschland wollten. Für diesen Fall möge sie eilends versuchen, zusammen mit dem deutschen Konsul in Malaga der spanischen Polizei eine entsprechende Erklärung an die Hand zu geben. Konsul Küstner kam zum Präsidenten und brachte einen bereits vorbereiteten Revers, wonach sie und ihr Mann Spanien »freiwillig und auf eigenen Wunsch« verlassen wollten. Der unverändert unter Arrest stehende Conrad Ahlers unterschrieb sofort. Trotzdem mußte der widerrechtlich festgenommene SPIEGEL-Redakteur auch noch die Nacht bis zum Abflug in spanischem Gewahrsam verbringen: Ahlers übernachtete in seinem Arrestraum.

In einem von Frau Ahlers bezahlten Taxi begab man sich am folgenden Sonntagmorgen um sieben Uhr in Begleitung zweier spanischer Polizisten zum Flugplatz. Ein spanischer Kriminalbeamter übernahm es, die Touristen auf dem Linienflug von Malaga nach Madrid zu bewachen.

In Madrid warteten Feit und ein weiterer Herr von der Deutschen Botschaft, um bis zum Start der planmäßigen Super-Constellation der Lufthansa den Wachdienst im Flughafen-Restaurant zu übernehmen. Feit grüßte von Achim Oster, der sich entschuldigen ließ und, wie man merkte, schon Einzelheiten über den Freitagabend im SPIEGEL gehört hatte. Da Ahlers erfahren hatte, man werde ihn in Frankfurt erwarten, seine Frau jedoch nach Hamburg heimzufliegen wünschte, nahm er eine Tasche mit Rasierzeug und Übernachtungs-Utensilien an sich. Aber die Vertreter der Botschaft fanden auch dies bedenklich und brachten die Tasche ins Cockpit zum amerikanischen Flugkapitän John Vincent, der an jenem Sonntag die Maschine LH 173 von Madrid nach Frankfurt flog.

Dazu Werner Ebert, Chef der Constellation-Flotte der Lufthansa: »Der Pilot war der Meinung, es seien wichtige Papiere in der Mappe, diplomatische Papiere. Man hatte ihm nicht gesagt, was los war.«

Pünktlich um 15.20 Uhr hob die Maschine sich vom Boden und brachte den SPIEGEL-Redakteur in den engeren Bereich der deutschen Justiz, in den - wie am Montag sogar der Sprecher des Bundesjustizministeriums, Oberstaatsanwalt Thiesmeyer, in Bonn einräumte - ihn auch ein schlichtes Telegramm jederzeit hätte holen können.

Von welcher Dienststelle oder Einrichtung des Bundes die Drähte nach Madrid gezogen wurden und welche Art von Recht für die Amtshilfe der spanischen Polizei denkbar wäre - darüber begann man offenbar sogar im Bundesjustizministerium erst nachzudenken, als der SPIEGEL-Mann Ahlers, nach kurzem Aufenthalt in Godesberg, bereits im Untersuchungsgefängnis Ahrensburg in Holstein saß.

Der Pressechef der Deutschen Botschaft in Madrid, Hans Kästner, konnte nach der Abreise von Ahlers vor deutschen und internationalen Korrespondenten noch frisch erklären, man habe Interpol bemüht - eine Verlautbarung, die ein Sprecher von Francos Außenministerium dem gleichen Kreis von Korrespondenten auch am Dienstag vergangener Woche ausdrücklich bestätigte, obwohl sie den Schluß nahelegte, die Statuten der »Internationalen Kriminalpolizei-Organisationen« in Paris seien mit Füßen getreten worden.

Artikel drei dieser Interpol-Statuten bestimmt:

▷ »Jede Betätigung oder Mitwirkung in Fragen oder Angelegenheiten politischen, militärischen, religiösen oder rassischen Charakters ist der Organisation strengstens untersagt.«

Das Bundesjustizministerium dementierte denn auch die Erklärung aus der spanischen Hauptstadt. Da Interpol so etwas nicht dürfe, könne es auch nicht Interpol gewesen sein.

Oberstaatsanwalt Thiesmeyer, der Sprecher des Bundesjustizministeriums, am Montag vor der Bundespressekonferenz: »Ich weiß, daß es sich hier nicht um eine Auslieferung oder um eine Interpol-Sache handelt, und ziehe persönlich den Schluß daraus, daß er (Ahlers) dann nur freiwillig zurückgekommen sein kann.«

Bundespressechef von Hase ging darauf so weit, einen wahren Offenbarungseid der Ahnungslosigkeit zu leisten: »Wir tappen in dieser Sache völlig im dunkeln ... Wir können Ihnen nur etwas Falsches sagen.«

Bundesanwalt Lösdau komplettierte am letzten Freitag in Karlsruhe den Kreis der Institutionen und Behörden, die es nicht gewesen sein sollen: Weder Interpol, noch eine Fahndung der Bundesanwaltschaft, noch der militärische Abschirmdienst (MAD), noch der Bundesnachrichtendienst (Gehlen), noch die Deutsche Botschaft seien wirksam geworden, um Ahlers heimzuholen. Niemand, überhaupt niemand will es gewesen sein.

Lösdau: »Was in Spanien geschah, kann ich nicht sagen.«

Bundesjustizminister Stammberger hatte vor Journalisten im Bundeshaus immerhin noch Raum für Vermutungen gelassen, indem er alle Möglichkeiten bis auf den MAD klar verneinte, einer Frage, ob der es nicht gewesen sei, jedoch auswich: Dazu kann ich nichts sagen.«

Da eine Meldung, wonach der Sündenbock Volkmar Hopf, Staatssekretär bei Franz-Josef Strauß, auch die Verantwortung für die Behandlung von Ahlers übernommen habe, nicht dementiert wurde, hielt sich hartnäckig das Gerücht, es sei eben doch der MAD gewesen.

Dazu erinnerte man sich, daß einer der Gründer des neuen Abschirmdienstes der jetzige Mann des Bundesverteidigungsministeriums in Madrid war, der Oberst Achim Oster, ein Sohn des Canaris-Generals Oster, Schützling von Josef Müller ("Ochsensepp") und Parteifreund von Franz-Josef Strauß. Osters Kommentar: »Ich habe nichts zu verbergen, kann mich aber im Moment nicht äußern.«

Auch Hans Schmelz kam freiwillig aus dem Ausland zurück, freilich unter komfortableren Umständen. Er kam aus Budapest, wo er zusammen mit dem SPIEGEL-Redakteur Ferdinand Simoneit ein SPIEGEL-Gespräch mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Gyula Kallai geführt hatte.

Bereits am Sonntag, dem 28. Oktober, um 14.30 Uhr waren Beamte der Sicherungsgruppe Bonn, in der Schmelzschen Wohnung am Thomasberg erschienen und hatten um die Genehmigung gebeten, ihren Durchsuchungsbefehl zu vollstrecken, bevor Schmelz zurück sei. Herr Schmelz habe, sagten sie, in Hamburg angerufen und mitgeteilt, er käme am Sonntag zurück, sie könnten aber nun nicht länger warten.

Frau Schmelz erklärte sich einverstanden, und drei Stunden später war es geschafft, wie überall: korrekt. Für das Mitgenommene gab es präzise Quittungen.

Am Dienstagabend um 23.20 Uhr wählte Hans Schmelz, 45, von Wien aus die Godesberger Nummer der Sicherungsgruppe: »Ich bin der SPIEGEL-Redakteur Hans Schmelz: Schule, Marta, Emil, Ludwig, Zeppelin«. Schmelz bat um Bescheid, bei welcher Stelle er sich einfinden solle, und erhielt zur Auskunft: Bad Godesberg. Er versprach, am Mittwochabend einzutreffen: »Dann heizt mir man schon die Zelle.«

Er fuhr mit Simoneit im Wagen die 1100 Kilometer von Wien bis zu seiner Wohnung in Thomasberg ohne Unterbrechung durch und fragte am Mittwochabend, 21.23 Uhr, noch einmal in Godesberg an, ob er gleich kommen solle oder ob die Geschichte noch bis zum Morgen Zeit hätte. Er sollte gleich kommen, und er kam. Um 22.10 Uhr meldete er sich bei den Beamten in der Godesberger Friedrich-Ebert-Straße 1. Simoneit, der ihn begleitet hatte, erhielt die Auskunft, daß gegen Schmelz ein Haftbefehl vorliege.

Wen die Bundesanwaltschaft für ihre Ermittlungen zu brauchen glaubte, war einstweilen gefunden - jedenfalls soweit es sich um SPIEGEL-Angehörige handelte. Verhaftet waren Rudolf Augstein, Claus Jacobi, Conrad Ahlers und Hans Schmelz. Die Arbeit der Ermittlungsbeamten mochte vorangehen. Die Arbeit der SPIEGEL-Redakteure konnte es nicht.

Der Durchsuchungsbefehl vom 23.10.1962, auf Antrag des Generalbundesanwalts vom Ermittlungsrichter des Bundesgerichts angeordnet gegen Person, Wohnung, sonstige Räume und sämtliche Geschäftsräume des Beschuldigten Rudolf Augstein in Hamburg und Bonn, hatte sich praktisch als eine Aussperrung erwiesen.

»Die angeordnete Durchsuchung ist erforderlich«, begründete der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs, Oberlandesgerichtsrat Buddenberg, »da zu vermuten ist, daß sie zur Auffindung von Beweismitteln führen wird, die für die Untersuchung von Bedeutung sind oder der Einziehung unterliegen«. Und: »Die Durchsuchung ist auch zur Nachtzeit zulässig«.

Der Paragraph 104 der Strafprozeßordnung gestattet nächtliche Durchsuchung »nur bei Verfolgung auf frischer Tat oder bei Gefahr im Verzug«. Falls wirklich »Gefahr im Verzug« - zu deutsch: Gefahr bei Verzögerung - für gegeben erachtet wurde, bleibt bisher unaufklärbar, wieso ein am Dienstag, dem 23. Oktober, ausgestellter Durchsuchungsbefehl erst am Freitagabend, am 26. Oktober, vollstreckt wurde. Zu prüfen sein wird ferner, ob die Räumung sämtlicher Zimmer zur Durchführung dieser Maßnahme erforderlich gewesen ist, und vor allem, ob es erforderlich gewesen ist, daß den Angehörigen des Nachrichtenmagazins, gleichgültig ob Verlag oder Redaktion, der Zutritt zu ihren Arbeitsplätzen auch noch am fünften Tag nach Beginn der Aktion verweigert wurde.

In der Pressekonferenz, die von der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe am vergangenen Freitag gegeben wurde, erklärte der Bundesanwalt Loesdau, es sei deswegen notwendig gewesen, die Aktion gegen den SPIEGEL nachts zu beginnen, weil in den Nachmittagsstunden des Freitag versehentlich ein Mann festgenommen worden sei, der dem Verleger Augstein sehr ähnlich gesehen habe. Unglücklicherweise sei dieser Mann beim SPIEGEL-Verlag beschäftigt gewesen, so daß man sich habe entschließen müssen, die Aktion noch am Freitagabend in die Wege zu leiten.

Ohne Zweifel handelt es sich dabei um den um 18.30 Uhr vorübergehend festgenommenen 53jährigen Verlags-Angehörigen Erich Fischer, der mit dem 38jährigen SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein nicht die geringste Ähnlichkeit hat (vergleiche Abbildungen Seite 78).

Bundesanwalt Loesdau meinte, diese Panne könne wohl als »verzeihlich« gelten.

SPIEGEL-Leser wissen, daß die letzten Hefte einen Umfang erreicht haben wie bisher noch nie in den fünfzehn Jahren seit Bestehen des Blattes. SPIEGEL-Leser wissen vielleicht, daß die Auflage des SPIEGEL bei den letzten Heften die Halbmillionengrenze überschritten hat. Es ist klar, daß zur redaktionellen Bewältigung der Ausgaben, daß für die Verlagsarbeit, für Druck, Vertrieb und Versand, die Fünftagewoche keine Sekunde zuviel hat.

Jede Stunde, in der den Angehörigen des Verlages der Zutritt zu ihren Arbeitsplätzen unmöglich gemacht wurde, gefährdete die ordnungsgemäße Herstellung des Heftes.

Die Stunden aber summierten sich zu Tagen, die Tage rundeten sich zur Woche. Die Räume blieben versperrt mit Ausnahme einiger Zimmer im siebenten Stock, die immerhin am Donnerstag wieder bezogen wurden - am vorletzten Tag einer Arbeitswoche.

Schon am Montagmorgen, als sich die ausgesperrten Angehörigen des SPIEGEL-Verlages notgedrungen im Maschinensaal der Auerdruck GmbH versammelten, hatte der Verlagsdirektor Hans Detlev Becker ("Sie arbeiten nicht für 'Al Capone'! Sie arbeiten für Rudolf Augstein") ausgerufen: »Es geht uns zu langsam.«

Zwar war den Verlagsangehörigen erlaubt worden, Wunschlisten mit einer Aufzählung dessen einzureichen, was sie unbedingt aus den Räumen herausgeschafft haben wollten. Aber es war zunächst einziger, bis an die Grenze physischer Leistungsfähigkeit strapazierter Staatsanwalt, der diese Anträge und das erbetene Material prüfte.

Schon am Montag äußerte der Constanze-Verleger John Jahr: »Ich war in dieser Aktion von der ersten Minute an dabei. Ich war dabei, als die Wohnung von Herrn Augstein untersucht wurde, meine nachbarliche Wohnung ... Ich kenne also den Ablauf der Dinge einigermaßen genau, und ich bin im Laufe des gestrigen Tages nach Rücksprachen mit zahlreichen meiner Kollegen zu der Überzeugung gekommen, daß man hier versucht, mit unlauteren, unzulässigen und ungesetzlichen Mitteln ein Zeitschriftenobjekt mundtot zu machen, und daß man versucht, den Verlag wirtschaftlich zu schädigen.«

Einem anderen, sachverständigen Beobachter, dem »Zeit«-Verleger Dr. Gerd Bucerius, riß schon am Sonntag der Geduldsfaden: »Am Sonntagnachmittag bin ich beim SPIEGEL vorstellig geworden und habe mir den Staatsanwalt herausgebeten, den einzigen, der da war. Der Mann war sichtlich am Ende seiner Kräfte, der Schweiß stand ihm auf der Stirn, er war total erschöpft, er sagte: 'Ich bin hier völlig allein und muß sämtliche Akten durchsehen'. Darauf habe ich ihm gesagt: Wenn Sie eine solche Aktion unternehmen, dann müssen Sie sich einen Generalstabsplan machen, dann können Sie nicht mit einem Herrn kommen, dazu brauchen Sie ein Dutzend Staatsanwälte, so viel gibt es mindestens in Deutschland...

»Nach einigem Hin und Her verwies er mich an die Bundesanwaltschaft, und ich habe am selben Nachmittag die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe angerufen, einen ebenfalls sehr liebenswürdigen Bundesanwalt bekommen, der offenbar gar keine Ahnung davon hatte, welchen Apparat er in Bewegung gebracht hatte, und er sagte: 'Ja, mein Gott, wenn das so ist, will ich gleich mal morgen sehen, ob wir nicht ein paar mehr Staatsanwälte bekommen und die Sache etwas beschleunigen können'. Denn - Untersuchung hin und her, Landesverrat ist ein schwerer Vorwurf, das muß geklärt werden - der Apparat muß trotzdem weiterlaufen, solange der Mann nicht verurteilt ist.«

Von einer Verstärkung war am Montag nichts zu merken, am Dienstag nicht und nicht am Mittwoch. Ob sie eingetroffen ist oder nicht - die Räume blieben versperrt. Das Nachrichten-Magazin DER SPIEGEL blieb, von Amts wegen, lahmgelegt.

Wie dieser Sachverhalt zu beurteilen ist, formuliert Gerhard F. Cramer, der selbst Generalstaatsanwalt gewesen ist und gegenwärtig das Land Hamburg beim Bund vertritt: »Kein Strafverfahren darf ja über den Zweck der Feststellung der strafrechtlichen Tatbestände hinausgehen und In unnötiger und unangemessener Weise in die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen eingreifen.«

Daß die vorliegende SPIEGEL-Ausgabe 45/1962 erscheinen kann, ist nicht zuletzt die Folge jener spontanen und kollektiven Welle von Hilfsbereitschaft die dem betroffenen Verlag von seinen bestürzten Nachbarn entgegengebracht wurde.

Richard Gruner, mit 25 Prozent an der Verlagsgesellschaft beteiligt, stellte schon Freitag nacht seine Geschäftsräume für das zur Verfügung, was im Jargon der Notlage »Gefechtsstand« genannt wurde. Verlag und Redaktion von »Zeit« und »Stern« nahmen tagelang die schwere Beeinträchtigung ihrer eigenen Arbeit in Kauf und liehen soviel Räume wie irgend möglich, stellten ihre Telephone zur Verfügung und, nicht zuletzt, ihr Kasino.

John Jahr gab Räume in der »Constanze« her; der Verlagsleiter des »Hamburger Echo«, Wilhelm Reimers, dessen Mitarbeiter bereits am Freitag durch die SPIEGEL-Aktion selber schwer behindert worden waren, räumte ganze Zimmerfluchten für SPIEGEL-Notquartiere frei, und umliegende Hamburger Firmen, die mit Presse nichts zu tun haben, boten nach Kräften ihre Zimmer an.

Streitbare Fürsorge verdichtete sich zu einer Art Volksbewegung. Protestanrufe an die fünf Tage lang von der Polizei besetzte Hamburger SPIEGEL-Nummer häuften sich mitunter bis zur Erschöpfung diensthabender Beamter, von denen einer schließlich nur noch matt erwiderte: »Kinder, nun laßt doch endlich den Quatsch!«

SPIEGEL-Freunde aus Wittlaer bei Düsseldorf erboten sich, für die »verhafteten Herren« eine »Kaution in beliebiger Höhe« zu leisten. Auf dem Konto des Verlages gingen Markbeträge für noch nicht gelieferte Hefte ein; die Post brachte von mehreren Seiten den Vorschlag ins Haus, in der nächsten Woche nur ein leeres Heft zum erhöhten Preis auszuliefern - eine gewaltige Auflage werde garantiert.

In Stuttgart begann der CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Kurt-Georg Kiesinger, nachdem er die Schließung der Hamburger Redaktionsräume als »eine sehr massive Tat« apostrophiert hatte, in seiner Landespressekonferenz unaufgefordert für Conrad Ahlers zu sprechen: »Ich würde dem Mann so etwas nicht zutrauen! Dazu kenne ich ihn charakterlich zu genau.« Ebenfalls für Ahlers gab in Frankfurt der »Rundschau«-Verleger und Chefredakteur Gerold eine Ehrenerklärung ab: »...bin insbesondere bereit, vor jedem Gericht unter Berufung auf konkrete Einzelheiten zu beschwören, daß Conrad Ahlers sich stets in Wort und Bild als loyaler Bürger unserer freiheitlichen Republik erwiesen hat...«

Im Namen der deutschen Verleger telegraphierte John Jahr ("Constanze«, »Brigitte") Protest an den Bundesjustizminister. Der Präsident des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger e.V., Hans A. Kluthe, folgte: »Erbitte bei SPIEGEL-Aktion Vermeidung aller Maßnahmen, die ... nach Beeinträchtigung der Pressefreiheit aussehen.«

Der Vorstand des Deutschen Journalistenverbandes, der Hessische Journalistenverband und der Vorstand der Bundespressekonferenz erhoben ihre Stimme; der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Döring, der stellvertretende SPD-Vorsitzende Herbert Wehner, die SPD-Abgeordneten Jahn und Arndt ("Ein solches Vorgehen ist Zensur und steht einwandfrei im Widerspruch zum Verfassungsgesetz"), der Landesvorsitzende der Deutschen Jungdemokraten in Baden-Württemberg, der Bundesvorstand des Bundesverbandes der Kriegsdienstverweigerer: Proteste an die Regierung und an die Justiz, Proteste in geschlossenen Zirkeln und in der Öffentlichkeit.

»DM«-Verleger Schweitzer ließ im Bundesgebiet ein Flugblatt anschlagen: »Wir protestieren im Namen des freien Staates, in dem wir leben. Und frei leben wollen!« Die Zeitschrift »Pardon« beeilte sich, in einer Auflage von 80 000 Exemplaren eine verbilligte Sondernummer zur SPIEGEL-Affäre auf den Markt zu bringen, und die Redaktion der Heidelberger Studentenzeitung »forum academicum« wandte sich an den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes Dr. Gebhard Müller.

In Stuttgart schickten der Hauptvorstand der Industriegewerkschaft Druck und Papier und die Deutsche Journalisten-Union aus einer Tagung eine Note an die Agenturen: »... halten es für ihre Pflicht, noch einmal darauf hinzuweisen, daß die Presse- und Meinungsfreiheit ein unentbehrliches und lebenswichtiges Element unseres demokratischen Staates ist, das wir mit allem Nachdruck verteidigen werden.«

Zeitungsleute und Zeitungsleser, Parteien, Gruppen und Einzelgänger reagierten, als sei in der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober eine Alarmglocke angeschlagen worden, und auch die Entscheidung von Kuba, die größte weltpolitische Krise der Jahre nach Kriegsende, vermochte nicht, die Berichterstattung über die Ereignisse im Hamburger Pressehaus von den Frontseiten der Tageszeitungen zu verdrängen.

In Berlin entschloß sich die »Gruppe 47« auf ihrer Jubiläums-Sitzung zu einem demonstrativen Schritt, dessen Formulierung weit über das hinausgeht, weswegen die Bundesanwaltschaft den SPIEGEL in Verdacht hat.

In den Großstädten der Bundesrepublik rotteten sich Studenten zusammen. 24 Stunden nach dem Anfang des Belagerungszustands im SPIEGEL zeigten sich auf der Stuttgarter Königstraße zwei Dutzend junge Männer und ein Studienrat, die den Mund mit Heftpflaster verklebt hatten. Am Dienstag setzten sich 100 Studenten auf dem kalten Pflaster der Frankfurter Hauptwache inmitten einer großen Menschenversammlung zu einem Sitzstreik nieder.

Schon am Wochenende nach dem Beginn der Aktion in Bonn und Hamburg hatten sich im Stadtgebiet von Frankfurt Unbekannte die Mühe gemacht, viele der CDU-Plakate für die bevorstehende Landtagswahl mit der ausgeschnittenen Kopfzeile DER SPIEGEL zu überkleben.

Am Berliner Steinplatz trafen sich am Mittwoch 700 Demonstranten mit Spruchbändern: »Mein Gott, was soll aus Deutschland werden?« - »Carl von Ossietzky 1931 - Augstein 1962?«

Protest-Telegramme des amerikanischen Soziologen David Riesman ("Die einsame Masse") von der Harvard-Universität, der Oxford-Professoren A. J. Ayer, Christopher Hill wurden verlesen. Telegramme von Norman Birnbaum und von Iris Murdock.

In Hamburg kam 24 Stunden später eine Podiumsdiskussion der »Neuen Gesellschaft« in der Universität nicht in Gang, weil auf die Ankündigung, es werde über die SPIEGEL-Aktion gesprochen, über tausend Menschen in den viel zu kleinen Saal wollten, »und draußen drängten sich in den Gängen, in der Vorhalle weitere Tausende« (Die Welt).

Einige Hundert Hamburger beschlossen daraufhin draußen, mit Transparenten ("Es lebe die deutsch-spanische Freundschaft« - »Kopf in den Sand, lieb Vaterland« - »Auf zum totalen Rechtsstaat") und Sprechchören vor dem Untersuchungsgefängnis am Sievekingplatz zu demonstrieren.

Eine Gruppe aufgebrachter Studenten riskierte es am Ende auch noch, in die von der Sicherungsgruppe Bonn besetzte Etage des Pressehauses hinaufzufahren. Vor der Glastür der SPIEGEL-Redaktion, hinter der mehrere übermüdete Kriminalbeamte wie im Schaufenster herumlehnten, rumorten sie noch nach Mitternacht, entfalteten ihre Transparente, diskutierten, - bis einer der Bonner den Kopf heraussteckte und flehte: »Meine Damen und Herren, wir sind bis jetzt mit allen gut ausgekommen, aber nun machen Sie bitte Schluß.«

Am vergangenen Freitag zogen nachmittags auch in München die Studenten durch die Stadt und protestierten mit Improvisierten Transparenten, Sprechchören, Reden. Ein Transparent mit den Namen Ossietzky und Augstein wurde hier verboten.

Am Freitag auch entschlossen sich 14 Professoren und Dozenten der medizinischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten an der Kölner Universität, in einem Brief dem Bundesjustizminister ihre Besorgnis über die staatlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit der SPIEGEL-Affäre anzuvertrauen.

Die Befürchtung, die Redaktion könne, durch Verhaftungen und polizeiliche Vorherrschaft in den Büros, verhindert sein, ein neues Heft herauszubringen, rief eine Reihe von Autoren unterschiedlichster Couleur auf den Plan, bereit, den SPIEGEL auf ihre Weise zu füllen.

Die in Berlin tagenden Schriftsteller der Gruppe 47 boten als erste an, notfalls den ganzen Inhalt zu liefern, wenn auch auf eine dem SPIEGEL-Leser ungewohnte Weise. Stern-Chefredakteur Henri Nannen, der politische Schriftsteller Dr. Rüdiger Altmann ("Das Erbe Adenauers"), der Schriftsteller Erich Kuby und der Fernseh-Frühschoppen-Gastgeber Werner Höfer, der schon das Schlußwort seines Frühschoppens vom 28. Oktober zu einem SPIEGEL-Plädoyer gemacht hatte, stellten für den schlimmsten Fall ihre Mitwirkung als Autoren in Aussicht.

Fremde mit Blumensträußen klingelten an den- Türen von wieder freigelassenen Redakteuren, und gutgemeinter Rat von Bekannten und Unbekannten verfolgte Rudolf Augsteins freie Mannschaft bis in den Schlaf.

In Pfrondorf, Kreis Tübingen, widmete ein evangelischer Pfarrer seine Sonntagspredigt dem Sturm auf den SPIEGEL. Rudolf Augstein, deutete der Pfarrer an, sei eingesperrt worden, weil er die Wahrheit sage.

Das Erzbischöfliche Ordinariat von Freiburg im Breisgau allerdings ließ durch seinen Generalvikar Föhr die schriftliche Anfrage eines SPIEGEL-Redakteurs zum Thema Kirchensteuer am 30. Oktober bereits ohne Anrede beantworten: »Wie aus der Presse bekanntgeworden ist, ist ein Verfahren wegen Verdachts landesverräterischen Verhaltens gegen den SPIEGEL eingeleitet. Angesichts dieser Tatsache lehnt unser Ordinariat jeglichen Kontakt mit dem SPIEGEL ab.«

So allerdings reagierte sonst kaum einer.

Es wurden, wie Verlagsdirektor Hans Detlev Becker es in der Betriebsversammlung formulierte, »Hände über Gräben« gereicht: Dr. Gerd Bucerius, der für den SPIEGEL beim aufsichtführenden Staatsanwalt und beim amtierenden Generalbundesanwalt intervenierte und der die Vertriebenen aus der SPIEGEL-Etage des Pressehauses in die Büros seines Stern- und Zeit-Verlages aufnahm, hatte mit Rudolf Augstein noch vor kurzem wegen eines Anteils am SPIEGEL harte gerichtliche Auseinandersetzungen geführt.

Und Ferdinand Freiherr von Stackelberg aus München, Anwalt am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, mit dem der SPIEGEL einen noch immer nicht abgeschlossenen, höchst diffizilen Rechtsstreit um Grundsatzfragen des Persönlichkeitsschutzes ausficht, übernahm schon am Wochenende nach der Polizeiaktion sofort die Vertretung seines Widersachers vor dem höchsten Gericht der Bundesrepublik.

Freiherr von Stackelberg war es denn auch, der bereits am Montag, dem 29. Oktober 1962, gegen das Verfahren Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht einlegte und den Erlaß einer Einstweiligen Anordnung beantragte: Das Bundesverfassungsgericht möge im Wege der Einstweiligen Anordnung verfügen, daß den Inhabern und Mitarbeitern des SPIEGEL-Verlags, soweit sie sich auf freiem Fuß befinden, das Betreten der Geschäftsräume in Hamburg und »die Erfüllung ihrer dienstlichen Aufgaben« gestattet werde.

Er stellte ferner den Antrag, festzustellen, »daß die Schließung und Vorenthaltung der ... Geschäftsräume durch den Generalbundesanwalt und das Bundeskriminalamt verfassungswidrige und daher die Anordnungen, auf denen die Maßnahmen beruhten, »nichtig« seien.

Freiherr von Stackelberg beanstandet in seiner Begründung, daß dem stellvertretenden Verlagsleiter Poppe - Rudolf Augstein und Verlagsdirektor Becker waren nicht erreichbar - ein »auf weißem Bogen ohne Kopf maschinengeschrieben es Schriftstück vorgelegte und »so schnell verlesen wurde, daß der stellvertretende Verlagsleiter Poppe der Verlesung nicht folgen konnte. Seine Bitte um Aushändigung zur Kenntnisnahme wurde abgelehnt«.

Nach der Begründung des Freiherrn von Stackelberg ist das Vorgehen gegen den SPIEGEL-Verlag verfassungswidrig, weil die Artikel 5, 13 und 14 des Grundgesetzes verletzt worden seien - durch die Ausübung einer Vorzensur für das noch nicht erschienene Heft (Artikel 5), durch die »Verschließung und Vorenthaltung der Geschäftsräume« (Artikel 13) und durch »einen rechtswidrigen Eingriff In den eingerichteten Gewerbebetrieb« und somit in das »Eigentum« des SPIEGEL-Verlages. (Artikel 14).

Freiherr von Stackelberg an das Bundesverfassungsgericht:

▷ »Es handelt sich in Wirklichkeit nicht

um eine ,Durchsuchung', sondern um eine Wegnahme der Geschäftsräume. Eine Durchsuchung hätte vorausgesetzt, daß mit ihr sofort bei der Besetzung der Räume begonnen worden wäre. Tatsächlich haben aber ... die besetzenden Beamten es bei der Besetzung, jedenfalls Im allgemeinen, bewenden lassen.«

▷ »Die Wahl der Nachtzeit für die Besetzung der Räume widerspricht Paragraph 104 StPO. Es lag weder eine Verfolgung auf frischer Tat noch eine Gefahr im Verzuge vor. Daß keine Gefahr Im Verzuge war, zeigt sich besonders daran, daß In der Nacht vom Freitag auf Sonnabend nur die Besetzung, nicht aber die Durchsuchung vorgenommen worden ist.«

▷ »Es lag auch keine 'gemeine Gefahr' im Sinne des Artikels 13 Absatz 3 Grundgesetz vor. Die gelegentlich erwähnte Foertsch-Titelgeschichte in Nr. 41 des SPIEGEL ist bereit am 8. Oktober, also vor drei Wochen, erschienen. Wenn wirklich Gefahr im Verzuge gewesen wäre, hätte jene Nummer des SPIEGEL beschlagnahmt werden müssen, und die beteiligten Redakteure hätten sofort zur Verantwortung gezogen werden müssen. In Wirklichkeit ist aber die inkriminierte Nummer des SPIEGEL heute noch im Handel frei käuflich.«

Und auf noch eine erstaunliche Unklarheit machte der Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof, Freiherr von Stackelberg, das Bundesverfassungsgericht aufmerksam: Der Durchsuchungs- und Beschlagnahmebefehl des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof begründet, daß Rudolf Augstein des Landesverrats »dringend verdächtig«, »ferner« aber auch »verdächtig« sei, »sich nach Paragraph 333 StGB strafbar gemacht zu haben«. Der Paragraph 333 StGB betrifft aktive Bestechung.

Freiherr von Stackelberg: Insbesondere fehle ein Bestochener, »ohne den eine aktive Bestechung überhaupt nicht strafbar ist«.

Es sind der Umfang und die Begleitumstände der einzigartigen Aktion gegen den SPIEGEL, die den Beobachtern, einschließlich sachlicher Gegner des SPIEGEL, Unbehagen machen - die Verhaftung von Rudolf Augstein und Claus Jacobi, die Umstände, unter denen Conrad Ahlers verhaftet wurde nicht weniger als die anhaltende Versperrung der Räume.

Am Freitag früh, acht Tage nach Beginn der Aktion, ist nach wie vor den Verlags- und Redaktionsangehörigen des SPIEGEL das Betreten ihrer Räume - abgesehen von einigen im 7. Stockwerk, 7,4 Prozent des Gesamtraums - und der Zugang zu ihrem Arbeitsgerät verwehrt gewesen. Am Freitag früh war die Buchhaltung von ihren Unterlagen ebenso abgeschlossen wie die Redaktion von ihren Abermillionen von Archivunterlagen, Hunderttausenden von Photos, Tausenden von Akten, Hunderten von Manuskripten, von ihrem Photolabor, ihren Handbibliotheken.

Keinem Verhafteten ist bis zum Freitag früh zugestanden worden, was einem Mörder nicht verweigert wird: unter vier Augen mit seinem Anwalt zu sprechen. Die Rechtsvertretung von Rudolf Augstein hat sein Bruder Dr. Josef Augstein übernommen. Die Rechtsvertretung von Claus Jacobi übernahm Rechtsanwalt Dr. Labin, die von Conrad Ahlers Rechtsanwalt Dr. Wandschneider, die von Hans Dieter Jaene der Rechtswahrer des Bundeskanzlers, Rechtsanwalt Professor Dahs, die von Johannes K. Engel Rechtsanwalt Graepel.

Beunruhigt von den Umständen der ausdauernden Aktion gegen den SPIEGEL, richtete der Hamburger Bürgermeister Dr. Nevermann am Freitagnachmittag, acht Tage nach Beginn der Aktion, an den Bundeskanzler ein Blitztelegramm:

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!

Seit nunmehr einer Woche werden nichtbeschuldigte Redakteure und Verlagsangestellte des »SPIEGEL« in weitestem Umfange in ihrer normalen Arbeit behindert. Die redaktionelle Herstellung der nächsten Ausgaben des »SPIEGEL« erscheint gefährdet. Ich sehe darin die bedenkliche Gefahr einer gesetzwidrigen Einschränkung der Pressefreiheit und damit eines Verstoßes gegen das Grundgesetz, Artikel 5, Abs. 1, Satz 2. Die letzte Ausgabe des »SPIEGEL« wurde offensichtlich einer Vorzensur unterworfen. Das bedeutet eine Verletzung des Grundgesetzes, Artikel 5, Abs. 1, Satz 3.

Ein ordnungsgemäßer Ablauf des Ermittlungsverfahrens erscheint mir unerläßlich. Wir nehmen es in Hamburg mit der Gesetzesmäßigkeit der Verwaltung sehr genau. Ich bitte die Bundesregierung, umgehend einen einwandfreien Ablauf des Verfahrens zu sichern, damit nicht der Senat gezwungen wird, die Rechtmäßigkeit der Tätigkeit von Bundesbeamten im Bereich des Landes Hamburg prüfen zu müssen.

Abschließend dort Ich mit aller Deutlichkeit betonen, daß meine Bedenken gegenüber gewissen Erscheinungen des Ermittlungsverfahrens in keiner Weise eine ordnungsgemäße Verfolgung der behaupteten Straftat behindern wollen und können.

Dem Hamburger Innensenator, Helmut Schmidt, schien es nach den ihm zugegangenen Informationen offenbar sogar notwendig zu prüfen, ob weitere Amtshilfeleistung, zu der er gebeten worden war, vertretbar sei. Er wendete sich am vergangenen Freitagnachmittag an den Bundesinnenminister Höcherl:

Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister!

Am Freitagabend letzter Woche hoben Sie mich unterrichten lassen, daß Sie gemäß § 4, Abs. 2, des Gesetzes über die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes aus schwerwiegenden Gründen angeordnet hätten, daß Beamte dieses Amtes im Gebiet des Landes Hamburg eine strafbare Handlung einiger Redakteure des »SPIEGEL« verfolgen sollen. Sie haben gleichzeitig um Amtshilfe bitten lassen. Diese Amtshilfe Ist gewährt worden.

Inzwischen Ist eine volle Woche vergangen, und immer noch werden nicht beschuldigte Redakteure und Angestellte des »SPIEGEL« darin behindert, ihrer normalen Arbeit nachzugehen.

Die Gefahr einer ungesetzlichen Einschränkung der Pressefreiheit ist nicht von der Hand zu weisen.

Ich fühle mich dafür verantwortlich, daß hamburgische Beamte nicht zur Amtshilfe bei gesetzwidrigen Amtshandlungen herangezogen werden. Ich bitte Sie zu prüfen, wie weit das Ihrer Aufsicht unterstehende Bundeskriminalpolizeiamt noch weiterhin hamburgische Amtshilfe benötigt.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr sehr ergebener gez. Schmidt (Senator)

Von »bestürzenden Umständen« in der Aktion gegen den SPIEGEL sprach der hessischen Ministerpräsident Zinn, und Göttinger Professoren und Studenten, nach ehrenhafter Tradition stets auf dem Plan, sobald sie das Recht gefährdet sahen, fragten in einem Offenen Brief: »Weshalb wurde die Polizeiaktion bei Nacht durchgeführt, obwohl der Durchsuchungsbefehl mehrere Tage vorher ausgestellt war?

»Warum wurden der zuständige Innenminister beziehungsweise Innensenator nicht rechtzeitig über die Aktion informiert?

»Weshalb wurde gegen den SPIEGEL vorgegangen, nicht jedoch gegen andere Presseorgane, die ebenfalls über den inkriminierten Gegenstand berichtet haben, so daß der Verdacht der Verletzung, des Gleichheitsgrundsatzes aufkommen muß?

»Weshalb wurden Redaktionsunterlagen und Archivbestände beschlagnahmt, die nicht unmittelbar mit dem inkriminierten Komplex zusammenhängen?

»Weshalb wurde nach der Durchsuchung der Redaktionsräume die Tätigkeit der SPIEGEL-Redaktion in einer Weise behindert, daß der Fortbestand der Zeitschrift gefährdet erscheinen muß?

»Weshalb wurde die Nummer 44 des SPIEGEL in eindeutiger Verletzung des Artikels 5 des Grundgesetzes einer Vorzensur unterworfen?«

Alle diese Fragen - alle - werden eines Tages beantwortet sein.

Das Hamburger Wochenblatt »Die Zeit": »SPIEGEL-Affäre, Staats-Affäre. Wie immer sie ausgeht: der Sieger wird nicht Franz-Josef Strauß heißen.«

Zur Ausgabe
Artikel 2 / 47