(Translated by https://www.hiragana.jp/)
Fall Deniz Yücel: Ein Versuch, die AfD zu verstehen - WELT
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Debatte
  3. Kommentare
  4. Fall Deniz Yücel: Ein Versuch, die AfD zu verstehen

Meinung Fall Deniz Yücel

Ein Versuch, die AfD zu verstehen

Chefkorrespondent
Mit diesen Worten meldet sich Deniz Yücel zurück

In dieser Videobotschaft wendet sich Deniz Yücel zum ersten Mal seit seiner Freilassung an die Öffentlichkeit. Darin schildert er deren Umstände und bedankt sich bei allen Unterstützern.

Quelle: twitter.com/FreeDenizYuecel

Autoplay
Seit Monaten werden aus dem Zusammenhang gerissene Zitate aus alten Texten von Deniz Yücel verbreitet. Rechte werfen ihm damit vor, ein „Deutschenhasser“ zu sein. Ein Mangel an Ironie ist nicht zu übersehen.

Zugegeben, ich bin befangen. Am 16. Februar ist unser WELT-Kollege Deniz Yücel nach 367 Tagen aus dem Hochsicherheitsgefängnis Silivri in der Türkei entlassen worden. Für ihn selbst, seine Ehefrau, seine Familie und Freunde war diese Nachricht erfreulich.

Für alle, die sich unermüdlich für seine Freilassung eingesetzt haben (und das waren, quer durch das politische Spektrum, sehr viele), ein Grund für einen Autokorso. Dass es Menschen gibt, die sich über die Befreiung eines anderen Menschen aus ungerechter Haft unter unmenschlichen Bedingungen nicht freuen, ist für mich als Mensch menschlich schwer nachvollziehbar.

Aber es gibt in Deutschland zwei Gruppen, die über Deniz Yücels Entlassung nicht erfreut sind. Die einen sind Anhänger von Recep Tayyip Erdogans AK-Partei (AKP). Sie halten Deniz Yücel für einen „Terroristen“. Die anderen sind bei der AfD. Sie halten Deniz für einen „Deutschlandhasser“.

Am Tag nach Deniz Yücels Freilassung postete die Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag, Alice Weidel, auf Twitter und Facebook Folgendes: „Wenn die #Medien heute berichten, der ‚deutsche Journalist‘ Deniz Yücel sei freigelassen worden, dann sind das gleich zwei #Fakenews in einem Satz.“ Yücel sei „weder Journalist noch Deutscher“. Alice Weidel schlägt Deniz Yücel mit einer Klatsche sowohl die deutsche Staatsbürgerschaft als auch das Recht auf freie Berufsausübung ab.

Wie die türkische Regierung

Ähnlich hatte die türkische Obrigkeit argumentiert: Yücel sei erstens kein Journalist (sondern wahlweise ein „Vertreter der PKK“, „Terrorist“, „Unterstützer der Gülen-Bewegung“ oder „deutscher Agent“), zweitens ignorierte die türkische Justiz die Tatsache, dass er zwei Pässe besitzt, also auch deutscher Staatsbürger ist. Was dazu führte, dass Yücel über Monate nicht kontinuierlich vom deutschen Konsulat betreut werden konnte.

Alice Weidel begründet ihre Einschätzung jedoch anders als ihre türkischen Gesinnungsgenossen. Rot unterlegt liest man in ihrem Posting über Yücel die Behauptung: „Freut sich über ‚Deutschensterben‘ und wünscht Thilo Sarrazin zweiten Schlaganfall.“

Sascha Lehnartz
Sascha Lehnartz
Quelle: Claudius Pflug

Und, so Weidel weiter, „ein unser Land regelrecht hassender ,Journalist‘, der nicht nur einmal die Grenzen des guten Geschmacks verließ, sollte eigentlich keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Jemand, der Thilo Sarrazin einen zweiten Schlaganfall wünschte, damit dieser sein ‚Werk gründlicher verrichte‘, ist kein Journalist. In einem anderen Artikel in der ‚taz‘ freute er sich über das ‚Deutschensterben‘, das durch Einwanderer ermöglicht würde.“ Den „antideutschen Hassprediger Deniz Yücel“, so schließt Weidel ihren furiosen Vortrag, „als Journalisten zu bezeichnen, ist geradezu grotesk“.

Der Post fand unter Weidel-Fans im Netz ein tosendes Echo. Fragmente von Yücel-Texten wurden wild und wütend geteilt. Die Schriftstellerin Sibylle Berg wunderte sich auf Twitter: „besorgte bürger reagieren auf eine alte satire von deniz, (die sie bei erscheinen nie gelesen haben) wie eingepeitschte islam-fundis auf karikaturen (die sie vor instrumentalisierung nie gesehn haben). zeit für eine beiderseitige umarmung?“

Lesen Sie auch

Alice Weidels Partei hat den Vorstoß ihrer Fraktionschefin unterdessen aufgegriffen – die AfD im Bundestag bringt einen Antrag ein, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird „eine Missbilligung der unter I.d zitierten Äußerungen auszusprechen“. Unter „I.d“ zitiert der von Alexander Gauland und Alice Weidel unterzeichnete Antrag ausführlich Textpassagen aus Kolumnen von Deniz Yücel. Was dem Antrag eine wahrscheinlich nicht beabsichtigte Komik verleiht.

Anzeige

Ein gewisser Besinnungsprozess scheint unterdessen bei Frau Weidel stattgefunden zu haben, denn der Antrag verzichtet darauf, die ehrabschneidende Behauptung zu wiederholen, Yücel sei weder Deutscher noch Journalist. Stattdessen beantragt die AfD nun einen Bundestagsbeschluss, in dem es heißen soll: „Der Deutsche Bundestag begrüßt die Freilassung von Deniz Yücel aus politischer Willkürhaft.“ (Und Deniz gerade so: Yeah!)

Jede zu Unrecht bestehende Haft sei „ohne Ansehen der Person“ zu beenden. Es wird interessant sein, zu beobachten, wie die AfD diese plötzliche humanistische Kehrtwende ihren Anhängern vermitteln möchte. Denn in den Echokammern rechtskonservativer bis dumpfnationaler Kreise ist man sich weitgehend einig, dass der „Deutschenhasser“ Deniz Yücel in einem türkischen Knast bestens aufgehoben sei.

Es sind zwei Texte aus dem Frühwerk von Deniz Yücel, die zur Verfestigung dieses Urteils geführt haben. Spätestens seit seiner Verhaftung am 14. Februar vergangenen Jahres werden von interessierter Seite immer wieder aus ihrem Zusammenhang gelöste Bruchstücke dieser Texte willkürlich zitiert, um die angebliche vaterlandslose Gesinnung und die gescheiterte Integration des „Türken“ Deniz Yücel zu beweisen, der seinen deutschen Pass nicht verdiene.

Niederträchtige Kampagne

Dabei beweisen die kontextfrei herumgeschleuderten Zitate eigentlich nur eins. Entweder, die Lesekompetenz bei der AfD ist bedenklich gering. Oder die Partei hat gerade nichts Besseres zu tun, als auf dem Trittbrett der medialen Aufmerksamkeit für die Freilassung Deniz Yücels eine niederträchtige Kampagne gegen bestens integrierte Deutschtürken mit doppelter Staatsbürgerschaft zu fahren.

Bei den fragmentarisch zitierten Texten handelt es sich zum einen um eine auf Thilo Sarrazin gemünzte Formulierung, die selbst Deniz-Fans nicht zu den Glanzlichtern seines Schaffens zählen. Sie stand in einer Kolumne, die Yücel 2012 für die „tageszeitung“ (taz) schrieb, für die er bis 2015 arbeitete.

„Buchautor Thilo S., den man, und das nur in Klammern, auch dann eine lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur nennen darf, wenn man weiß, dass dieser infolge eines Schlaganfalls derart verunstaltet wurde, und dem man nur wünschen kann, der nächste Schlaganfall möge sein Werk gründlicher verrichten“. Der Presserat rügte die Formulierung, das Landgericht Berlin verbot die Weiterverbreitung der Kolumne, die „taz“ musste 20.000 Euro Entschädigung an Sarrazin zahlen.

Der Satz war ein Fehler. Deniz Yücel weiß das selbst. Es gibt in keinem anderen seiner Texte eine Stelle, wo er einen Menschen aufgrund einer Behinderung vorführt. Man kann diesen Satz nicht entschuldigen, höchstens versuchen zu erklären, wo der maßlose Zorn des Polemikers herkommen könnte, der ihn schrieb. Vielleicht hat er – das passiert den idealistischsten Satirikern – Humanität auf Kosten eines schlechten Gags geopfert.

Anzeige

Vielleicht sollte man aber auch den Kontext nicht vergessen. Denn die Polemik richtete sich mit Sarrazin gegen einen Autor, der in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ pauschal die Leistungsfähigkeit und Gleichwertigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund in Abrede gestellt hatte. Könnte schon sein, dass ein im hessischen Flörsheim geborener Deutscher mit türkischen Eltern das persönlich nimmt und deshalb zurückkeilt.

Ein anderer Fall ist die Kolumne „Geburtenschwund“, die unter dem Titel „Super, Deutschland schafft sich ab“ 2011 ebenfalls in der „taz“ erschien. Dass es sich dabei um eine Satire handelt, ist eigentlich jedem klar, der die Titelzeile liest. Der AfD nicht. Die zitiert den Text in ihrem Bundestagsantrag und will „volksverhetzende Äußerungen“ in ihm erkannt haben. Es folgen Textbruchstücke, die als Beleg für „extremen Deutschland- und Deutschenhass“ des Autors dienen sollen.

Dass der Text dazu nicht geeignet ist, da er nicht vorgibt, Überzeugungen seines Autors zu spiegeln, hat in der geschlossen ironiefreien AfD-Fraktion niemand bemerkt. Die AfD regt sich künstlich über einen Text auf, der vor dem Hintergrund der Demografie-Debatte den gerade auf der extremen Linken kultivierten deutschen Selbsthass auf die Spitze treibt. Dazu macht der Text sich deren Position scheinbar zu eigen und überzeichnet sie.

Es ist eine Satire, die 2011 übrigens in einer linken Tageszeitung erschienen ist. Das Milieu, das sich damals über den Text fast genauso echauffiert hat wie heute die AfD, bestand aus der schrumpfenden Zahl jener „taz“-Leser, die tatsächlich noch mit einem „Deutschland verrecke“-Aufnäher auf der Jacke herumrennen. Was diese trostlosen Ideologen mit jenen von der AfD eint, ist ihre ungetrübte Humorlosigkeit. Die AfD ist also entweder bösartig oder hermeneutisch unterqualifiziert.

Scharfzüngige Vorbilder

Was sie übersehen will: Die Polemik ist eine Textsorte, die Zuspitzungen und Grenzüberschreitungen nicht nur zulässt, sondern verlangt. Im deutschen Sprachraum wurde die Gattung von scharfzüngigen Geistern wie Lichtenberg, Heine, Börne und Tucholsky geprägt. In deren aufklärerischer, aber auch in der revolutionär-romantisch-idealistischen Tradition steht Deniz Yücel, weshalb ihm 2011 der Tucholsky-Preis für literarische Publizistik verliehen wurde.

Weil er ebenso leidenschaftlich streitet wie seine geistigen Ahnen, schießt er gelegentlich zu heftige Salven ab. Und genau wie sie leidet er gelegentlich an seinem Deutschsein. Etwas Deutscheres als einen Autor, der an seinem Deutschsein leidet, gibt es nicht.

Der „taz“-Autor Jan Feddersen, der jahrelang eng mit Yücel zusammenarbeitete und 2011 anlässlich der Verleihung des Tucholsky-Preises eine treffliche Laudatio auf ihn hielt, hat mal erzählt, dass man Yücel gut ärgern konnte, wenn man ihm sagte, man könne beim besten Willen nichts Türkisches an ihm entdecken. Wer mit Deniz Yücel nach seiner Entlassung sprechen konnte, durfte beruhigt feststellen, dass der hessische Singsang seiner Stimme auch nach einem Jahr in türkischer Haft nicht verschwunden ist.

Die hessische Eiche Deniz Yücel wird es nicht kratzen, wenn sich ein paar AfD-Wildsäue noch eine Weile an ihr schaben. Sie finden „Wildsau“ volksverhetzend? Hier die Nummer vom Deutschen Presserat: (030) 367 00 70

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema