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Literatur "Welt“-Literaturpreis

Zeruya Shalev verkörpert das säkulare Israel

Leitender Feuilletonredakteur
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Sie ist die Stimme Israels: Zeruya Shalev
Quelle: dapd
Der "Welt“-Literaturpreis 2012 geht an die Schriftstellerin Zeruya Shalev. Mit großer erzählerischer Kraft schildert sie, wie sich Staat und Gesellschaft Israels seit der Gründung verändert haben.

Solche Szenen erlebt das Berliner Concorde-Hotel nicht alle Tage: Sitzt da, mitten in der kalten Pracht der durchgestylten Lobby, eine attraktive Frau um die Fünfzig, die sich nicht nur dank ihrer Schlankheit etwas Mädchenhaftes bewahrt hat - und sofort verändert sich die Atmosphäre. Denn Zeruya Shalev tut ganz und gar nicht das, was der Dekor hier vorzugeben scheint, sie hält nicht Hof, sie zelebriert kein Literatentum. Sie zieht einfach Menschen an.

Sie ist sofort der Mittelpunkt einer gut gelaunten, gesprächigen Gruppe, wobei sie eher zuhört, als das große Wort zu führen. Aber wo Zeruya Shalev auftritt (oder eben nicht auftritt, sondern einfach Platz nimmt, sich niederlässt) entsteht sofort eine dieser Inseln der Familiarität, des herzlichen Austauschs, wie man das in dieser Ungezwungenheit noch immer viel zu selten hierzulande erlebt. Diese kommunikativen Grade erklimmt die mitmenschliche Temperatur eher in mediterranen Breiten.

Ein lebhafter kleiner Atoll inmitten steifer Repräsentativität, fröhlich, farbig, nicht ganz leise und überhaupt nicht gemessen oder gar gedrückt: Das ist es, was Zeruya Shalev mit ihrer warmherzigen Art sofort in die Einschüchterungsarchitektur des Nobelschuppens am Kurfürstendamm verpflanzt. Ein Stück Südfrankreich, Portugal, Ligurien. Ein Stück Israel. Mitten in preußisch Berlin. Mann, tut das gut. Macht also nichts, dass der zum Termin herbeigeeilte Journalist erst einmal gar nicht zum Zuge kommt.

Küsschen hier, Umarmung dort

Da schnattert nämlich gerade die beliebte Schauspielerin Maria Schrader, die noch unbedingt ein paar Details für die Lesung heute Abend mit der gefeierten Autorin besprechen muss.

Da unterbricht nachhaltig die momentan so im Aufwind befindliche Verlegerin Elisabeth Ruge den Business Talk, denn sie will vor ihrem nächsten Rendezvous noch unbedingt den Gast aus Jerusalem begrüßen.

Da kann auch der Ex-Verlagsleiter Arnulf Conradi seine norddeutsche Sprödigkeit für einen Moment hinter sich lassen und mischt sich charmant ins Gespräch.

Und nun noch die Betreuer vom Berlin-Verlag! Sie alle umlagern Zeruya, bringen Neuigkeiten, fragen, wie es geht. Quirlig, wirblig geht es zu an diesem herbstlichen Vormittag, Küsschen hier, Umarmung dort.

Eine Freundin Berlins, ein geliebtes und geschätztes Mitglied der großen, internationalen Literatur-Familie ist in der Stadt, und da will man natürlich dabei sein, Hallo sagen, teilhaben an dieser ungezwungenen Geselligkeit, die nur da entsteht, wo Menschen sich gegenseitig gelten lassen.

Erzählgewitter gehen nieder

"So sorry", bittet die Umringte, als endlich Ruhe einkehrt und das Interview beginnen kann. Aber wieso denn Entschuldigung? Einen besseren Einstieg kann es ja gar nicht geben, keinen besseren Anschauungsunterricht für das, wofür Zeruya Shalev auch literarisch steht, nämlich für Gespräch, für "herrschaftsfreien Diskurs", für jenes Reden miteinander, dringlich, expressiv und wortgewaltig, das noch jedes ihrer Bücher zu einem Intensitätserlebnis der besonderen Art hat werden lassen.

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Ob sie in ihrem Roman "Liebesleben", der sie vor zwölf Jahren bei uns bekannt machte, von einer Frau erzählt, die ihrer Amour fou zu einem älteren Mann erliegt, ob sie in "Mann und Frau" turbulente Szenen einer Ehe gestaltet, oder ob sie jetzt, in ihrem jüngst veröffentlichten Roman "Für den Rest des Lebens", das über drei Generationen ausgespannte, ganz spezielle Unglücklichsein einer israelischen Familie vor uns ausbreitet: Immer ist es ein wahres Erzählgewitter, das in Dialogen und inneren Monologen der Figuren über den Leser hereinbricht.

Kein Schriftsteller der Gegenwart kann so kunstvoll Kleists Diktum von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden umsetzen, kann so eindrucksvoll Hoffen und Bangen, Zögern und Zagen, dann aber auch Aufschwung, Überwindung, Selbstermächtigung zur Sprache bringen wie Zeruya Shalev.

Wie schafft man das, wo kommt das her, auf welche Weise wird es zum Markenzeichen einer so imposanten literarischen Karriere wie der ihren?

Opfer bringen für Israel

"Wahrscheinlich ist das schon ein Muster meines eigenen Erlebens und Empfindens", gibt die Schriftstellerin bereitwillig Auskunft.

"Schreiben ist für mich ein konfliktreicher, äußerst dynamischer Prozess. Fünf volle Jahre habe ich an ,Für den Rest des Lebens‘ gearbeitet, an diesen über 500 Seiten, die ja ihrerseits so viele Verwerfungen verhandeln. Immer wieder habe ich die Geschichte umgeschrieben, mich der Entwicklung meiner Figuren angepasst, die mich mitunter selber überraschte. Am Anfang war da nur die Mutter und Großmutter, die stirbt. Die im Bett liegt und ihr Leben, ihre Kinder, ihre eigenen Eltern Revue passieren lässt. Die aus der angeblich so heroischen, aber wenn man genau hinguckt, eben auch so lebensverhindernden Gründerzeit Israels stammt: Chemda, eine Frau, die bereit war, jedes Opfer für ihr junges Land, für Israel, zu bringen, und die darüber ihre Schriftstellerberufung vernachlässigte, ihrer Rolle als Mutter nur ungenügend gerecht werden konnte. Doch dann treten ihre Kinder an das Bett. Und ich zeige, wie sie, wie auch die anderen Personen in diesem Buch um ihr Glück kämpfen. Wie Chemdas Tochter Dina um die Adoption eines weiteren Kindes kämpft, wie Chemdas Sohn Avner für das Recht der Palästinenser auf Bildung und soziale Gerechtigkeit kämpft. Wie seine ferne Geliebte Talia darum kämpft, in der familienfixierten israelischen Gesellschaft eine Frau zu sein, die keine Familie und keine Kinder will. Und wie diese Kämpfe um das jeweilige individuelle Glück sich gegenseitig in die Quere kommen, aber wie sie sich auch anregen, befruchten, bestätigen. Im kommunikativen Austausch aller miteinander und mit sich selbst."

Lebensumfeld Jerusalem

Und dann kommt Zeruya Shalev, die sich viel Zeit nimmt für ihre Antworten, die anders als so viele Autoren von Weltrang keine vorgestanzten Formulierungen vorträgt, sondern sich wirklich auf jede Frage einlässt - dann kommt Zeruya Shalev natürlich auch auf ihr Land und Lebensumfeld zu sprechen. Auf Jerusalem.

"Ich spüre jeden Tag, wie ein Stück meines Jerusalems schwindet, wie Freunde und Verwandte, die der permanenten Bedrohung nicht mehr gewachsen sind, weggehen, und wie ich auch selbst mich immer wieder frage, ob ich hier weiter leben kann. Und das tue ich nicht erst, seit ich selbst bei einem Anschlag schwer verletzt worden bin. Aber noch bin ich da, und noch gibt es das Jerusalem, das ich meine. Nicht nur das historische, in dem jeder Stein eine Geschichte erzählt, nein, vor allem das plurale, sozial gemischte, in dem die christlichen Kirchenglocken läuten und der Muezzin die Stunden ausruft. In dem alle Weltsprachen irgendwo gesprochen werden, nicht zuletzt das Deutsch jener ‚Jeckes’, die nicht weit von unserem Haus ihr Viertel hatten. Und in dem natürlich vor allem wir, die Juden, jeder auf seine Weise, säkular oder religiös, leben können, obwohl, ich gestehe es, die Religiösen, die Orthodoxen, auf dem Vormarsch sind und die Atmosphäre auf eine ungute Weise immer stärker verändern, hin zur Verhärtung und Verstocktheit, was mir sehr zu schaffen macht. Aber auch das muss man aushalten, man muss Vielfalt aushalten können, und man muss auch dafür kämpfen, dass Vielfalt, vielfältige Glücksmöglichkeiten nebeneinander existieren können. Denn wie sagt Ihr Bertolt Brecht so schön: ‚Wer kämpft, kann verlieren; wer nicht kämpft, hat schon verloren’."

Eine traurige Kämpferin

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Wer Zeruya Shalev so sprechen hört, mag sich wundern, dass ihre Stimme überhaupt nichts Militantes, Verkniffenes bekommt. Eher scheint sie nachdenklich, um nicht zu sagen melancholisch. Wenn sie eine Kämpferin ist, dann eine traurige. Traurig darüber, dass sie kämpfen muss, auch um ihr Bild von Israel. Und so beschaffen ist auch ihre Kritik.

Auf keiner Seite ihres Buches "Für den Rest des Lebens" erhält die Schilderung der problematischen Seiten der israelischen Gesellschaft jenen Zug von herablassender Genugtuung, den deutsche "Gesellschaftskritiker" so gern anschlagen. Immer ist diese Kritik eher stockend vorgebracht, schließt die eigene Person mit ein.

„Es ist ja wahr, ich sehe Israel als eine große Familie, und wenn ich in ,Für den Rest des Lebens’ über diese eine, sehr spezielle Familie schreibe, dann meine ich auch Israel. Wenn Avner, der Anwalt der Entrechteten, an einer Stelle sagt: ,Bei uns passiert alles im großen Stil, aber nur in der Einbildung, große Träume und kleine Taten‘, dann denkt er natürlich zunächst einmal an seine Eltern und Geschwister. Aber er denkt auch an sein Land. Und so denke auch ich manchmal: Wir haben diesen Hang, in Mythen über uns zu sprechen. Doch die Mythen sind entzaubert. Der Heroismus der Gründerjahre mit seinen Versagungen ist entzaubert. Der Mythos von Israel als Obdach für die ganze Judenheit ist entzaubert. Davon geblieben ist nur der eine, brennende Wunsch: Wir wollen überleben."

Vielfalt zulassen

Von diesem Überlebenswillen kündet das gesamte, weit gespannte Erzählwerk der großartigen Schriftstellerin Zeruya Shalev. Es kündet mit den Mitteln seiner Sprachmagie davon, aber auch mit seiner literarischen Umsetzung jener Geisteskräfte, die Israel groß gemacht haben: der Fähigkeit, Vielfalt, Kritik und Selbstkritik zuzulassen, der Fähigkeit, mit sich selbst und mit den anderen im Gespräch zu bleiben, Brücken auf-, nicht abzubrechen. Für dieses nimmermüde, mutige Unterfangen bekommt Zeruya Shalev den "Welt"-Literaturpreis 2012.

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