(Translated by https://www.hiragana.jp/)
Zum 90. Geburtstag Richard von Weizsäckers: Offener Brief an eine moralische Instanz - WELT
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Deutschland
  4. Zum 90. Geburtstag Richard von Weizsäckers: Offener Brief an eine moralische Instanz

Deutschland Zum 90. Geburtstag Richard von Weizsäckers

Offener Brief an eine moralische Instanz

Staatsmann, Mahner, großer Deutscher: Richard von Weizsäcker hat die Bundesrepublik wie kaum ein anderer geprägt. Heute wird der einstige Bundespräsident 90 Jahre alt. Der Verteidigungsminister gratuliert auf WELT ONLINE und erklärt, warum wir Weizsäckers Stimme weiter brauchen.

Die deutsche Geschichte geht weiter" lautet der Titel eines Ihrer vielen Bücher, Titel, die nicht lediglich Ausdruck von Koketterie, sondern tatsächlich perspektivisch sind, lieber Richard von Weizsäcker. Wir Deutschen achten auf Ihr Wort, und wir sind dankbar, dass Sie uns Perspektiven aufzeigen.

Als Menschen sind wir geschichtliche Wesen. Wir stürzen ins Leere, wenn wir uns nicht mehr zu erinnern vermögen. Sie riefen bereits früh dazu auf, auf die Weisheiten der Geschichte zu hören und aus unseren Fehlern Lehren zu ziehen. Ihre beeindruckende Rede zum 40. Jahrestag des 8. Mai 1945 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages ist dafür allzu beredtes Beispiel.

Wir müssen Maßstäbe finden, sagten Sie damals, und Sie haben sich selbst an diese Vorgabe gehalten. Maßstäbe kann aber nur finden, wer um seine Herkunft und Prägungen weiß: Geborgenheit in der Familie, Pflege der Tradition, Verwurzelung in Heimat und Glauben sowie Streben nach Erkenntnis - all dies zeichnet Sie aus.

Wissen ohne Gewissen, so hat einst der große französische Schriftsteller François Rabelais an der Schwelle zum 16. Jahrhundert geschrieben, ist der Seele Ruin. Wir Deutschen haben im 20. Jahrhundert auf leidvolle Weise diese Erkenntnis gewinnen können.

Der Mensch, der sich zum Gott erhebt, wird als Teufel enden. Hybris und Nemesis sind Schwestern. Ihre Generation hat, noch am Ende ihrer Jugend, die Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges als Soldat unmittelbar erleben müssen. Und Ihrer Generation ist es maßgeblich zu verdanken, dass die Bundesrepublik aus den Trümmern des Reiches zu einem vorbildhaften demokratischen Gemeinwesen erstehen konnte.

Jedes Gemeinwesen braucht, auch dies haben wir gelernt, Solidarität, Verantwortungsbereitschaft und Bürgersinn. Der Staat ist kein abstraktes Etwas. Er wirkt am besten, wenn alle dazu beitragen.

Einer trage des andern Last - dies war nicht von ungefähr ein Motto des Evangelischen Kirchentages, in dessen Präsidium Sie über Jahre mitwirkten. Als evangelischer Christ haben Sie politisches Handeln immer geprüft und geschärft an der Instanz des Gewissens, und als Politiker und Staatsmann haben Sie die Bindung politischen Handelns an die Normen und Werte des Grundgesetzes auf vorbildliche Weise gelebt. Sie sind - ein hohes Wort - durchaus eine moralische Instanz.

Sie haben uns gezeigt, dass Versöhnung nur gelingt, wenn wir aufeinander zugehen und den Nachbarn mit seiner Geschichte, seinen Erfahrungen, aber auch mit seinen Ängsten und Sorgen ernst nehmen. Nur wenn wir uns der gemeinsamen Geschichte stellen, können wir gemeinsam Politik für Deutschland, Europa und die Welt gestalten.

Ihre Auslandsbesuche haben neue Horizonte eröffnet, und Sie waren immer auch Unterricht in gelebter europäischer Geschichte. Ich denke hier etwa an Ihren Beitrag zur Verständigung mit unserem Nachbarn Polen oder zur Aussöhnung mit Frankreich nach 1945.

Anzeige

Gute Außenpolitik dient den nationalen Interessen, und sie entspricht der Verantwortung für die internationale Sicherheit und den Frieden in der Welt. Dass dafür Streitkräfte, modern und leistungsstark, benötigt werden, haben Sie immer erkannt und auf eindringliche Weise im Jahr 2000 mit dem Bericht der von Ihnen geleiteten Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" bekräftigt.

Wenn heute dem wiedervereinigten Deutschland auf der ganzen Welt Vertrauen und Verständnis entgegengebracht wird, so ist dies nicht zuletzt auch das Verdienst Ihres politischen Wirkens.

Lieber Richard von Weizsäcker: Wir wissen, was wir Ihnen verdanken. Und wir wissen gewiss, dass wir Sie auch in Zukunft brauchen: mit Ihrer Stimme, Ihrem Rat und Ihren Anstößen, ermahnend und ermunternd zugleich. Alles Gute zum Geburtstag!

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema