(Translated by https://www.hiragana.jp/)
Ein Dirigent als Dompteur - WELT
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. WELT am SONNTAG
  3. Ein Dirigent als Dompteur

WELT am SONNTAG

Ein Dirigent als Dompteur

Er ist nicht nur Dirigent, sondern bekennender Pferdenarr: Enoch zu Guttenberg müht sich seit einem Jahr, das Lenken einer Kutsche zu erlernen - eine tierische Herausforderung

Wenn Enoch zu Guttenberg den Taktstock gegen die Kutschergerte austauscht, hat nicht mehr er, der Dirigent, das Kommando, sondern Fritz Hacker, der Landwirt. "Geh wech dou ... der glane Finga ... du den glana Finga da wech" - seit Beginn der Lehrstunde prasselt das Kritik-Stakkato auf Guttenberg ein, unnachgiebig und in tiefstem Fränkisch.

Guttenberg, Herr über einen 150 Mann starken Chor samt Orchester, lenkt in seiner Freizeit lieber Pferde. Seit einem Jahr versucht der Baron, bei Bauer Fritz das Kutschefahren zu lernen. "Das ist viel schwieriger als der Führerschein", sagt Guttenberg, der Pferdenarr. Schon als Kind saß er im Sattel, später war er passionierter Springreiter. Da war der Wunsch, einmal auch eine Pferdekutsche lenken zu können, fast zwangsläufig. Erst recht für einen wie Enoch zu Guttenberg, der die Herausforderung liebt und das Unberechenbare.

Der Baron hält die Zügel der beiden Haflinger Otto und Stasi konzentriert in der Hand und murmelt leicht belustigt: "Ich versteh' kein Wort." Doch der kleine Bauer kennt kein Erbarmen und bellt: "Lass a weng logga, du den glana Finga endlich wech und gib dem Oddo ans draff, damit er a ziechd!"

Seit Stunden regnet es rund um das oberfränkische Dorf Guttenberg Bindfäden; die Kälte kriecht unaufhaltsam unter die dicke Lodenkluft des Barons. Das macht keine gute Laune, genauso wenig wie die vergeblichen Versuche, den störrischen Otto in eine Linkswendung zu drehen. Und dazu immer wieder Bauer Fritz mit seinem Gemecker: "Die Finga, bass auf dei Finga auf, soch i!" Dem Baron reicht es schließlich. Heftig poltert er zurück: "Fritz, gib jetzt endlich a Ruh, wir haben heut ka Fahrstund!" Dann etwas versöhnlicher: "Das üben wir alles nächstes Mal in Ruhe, heut sind wir ja nur spazieren fahren." Fritz fügt sich, aber es fällt ihm sichtlich schwer.

Rhythmisch klappern die Hufe auf dem Asphalt, machen ihre eigene Musik. Die langen Lederzügel klatschen auf den Rücken der Haflinger leise den Takt dazu. Guttenberg lässt den Blick schweifen. Seine Miene entspannt sich. "Kein Mensch unterwegs ... Ist es nicht schön, wie der Nebel in den Wäldern und auf den Wiesen hängt?" sagt der Dirigent zufrieden und lenkt die brav trottenden Pferde durchs Dorf Richtung Stall. "Bei diesem Anblick vergesse ich alle Sorgen." Ein freundschaftlicher Knuff von links - der Fritz will nicht vergessen werden.

Zurück im Schloss, seit 1340 Familiensitz der Guttenbergs, werden heißer Kaffee und Vanille-Kipferl serviert. Schlichtes Ambiente außen, doch innen voller Seele. An den Wänden hängen prächtige Gemälde, überall stehen Familienfotos in Silberrahmen und frische Blumen. Eine auffallend elegante ältere Dame in Öl blickt aus der Ahnengalerie huldvoll herab.

"Meine Großmutter Elisabeth war eine außergewöhnliche Frau", sagt Enoch zu Guttenberg und schmunzelt: "Als sie 96 war, haben wir ihr den Führerschein abgenommen. Da war sie ganz schön sauer." Die Mutter des Barons ist ähnlich aktiv. 80 Jahre ist sie alt und ständig auf Reisen. Allein. Bis nach Indien. "Ihre Augen werden immer schlechter, deshalb möchte sie noch so viel wie möglich sehen." Es klingt stolz und traurig zugleich, als ihr Sohn das erzählt.

Enoch zu Guttenberg, dessen erste Ehe nach kurzer Zeit geschieden wurde, ist Spross einer politisch profilierten Familie, deren Stammbaum in das Jahr 1149 zurückreicht. Der Urgroßvater hatte im fränkischen Bad Neustadt Kurbetriebe erworben; heute ist das Rhön-Klinikum der zweitgrößte deutsche Krankenhaus-Konzern. Großvater Guttenberg war im Widerstand gegen die Nazis aktiv, der Vater CSU-Mitglied und engagierter Außenpolitiker in der großen Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger.

Zum Entsetzen des Vaters, der seinen Stammhalter lieber in der Politik gesehen hätte, studierte der junge Enoch Musik und Komposition und gründete vor 35 Jahren die Chorgemeinschaft Neubeuern. Was auch immer die Guttenbergs tun, sie tun es aus Überzeugung und mit Leidenschaft. Heute ist der Chor ein international gefragtes Ensemble, dessen Mitglieder noch immer hauptsächlich aus dem oberbayerischen Dorf Neubeuern stammen. Wer trotz ihrer Erfolge von einem "Bauernchor" spricht, den belehrt der Maestro, dessen musikalischer Lehrer und Mentor Karl von Feilitzsch war, eines Besseren: "Es gibt Chöre, die sind vielleicht technisch besser oder haben die schöneren Stimmen. Aber es gibt keinen, der glaubwürdiger ist."

Anzeige

Viel gerühmt ist des Barons Virtuosität, aber ebenso umstritten. "Von beißender Boshaftigkeit bis zu frenetischem Jubel kenne ich alles." 1988 bekam er den Deutschen Kulturpreis, und dennoch sagen viele, er leiste sich die Musik nur als Hobby. Solche Sprüche machen den Dirigenten wütend. Schließlich gibt Enoch zu Guttenberg rund 70 Konzerte weltweit pro Jahr, mal als Gastdirigent, mal mit seinem Chor und Orchester, das den Namen "Klangverwaltung" trägt. "Wir heißen wie Beamte, aber toben auf der Bühne", erklärt er. Gerade bereitet der 56-Jährige für sein Ensemble eine Asien-Tournee vor. Sogar im Wiener Musikverein, neben der New Yorker Carnegie Hall der berühmteste Konzertsaal der Welt, hat Guttenberg die "Matthäus-Passion" aufführen dürfen, ein Ritterschlag in der Musikszene. Und dort spielte er bereits zum dritten Mal.

"Ich will meine Herkunft nicht verleugnen, aber es gibt leider sehr viele Neider. Ständig muss ich Klischees bedienen, die ich gar nicht erfülle. Auf meine Leistung wird zuletzt geachtet." Und er zitiert Albert Einstein: "Das Erfinden der Kunst der Fuge ist die größere geistige Leistung als das Finden der Relativitätstheorie."

Guttenberg scheint ein sehr nachdenklicher Mann, der sich gern in einen Gedanken hineinsteigert, um diesen dann enthusiastisch zu interpretieren. Es ist bekannt, dass er vor Konzerten schon mal politische Reden hält. "Was die Umwelt anbelangt, da haben wir den Ast, auf dem wir sitzen, längst abgesägt." Deshalb möchte er mit seiner zweiten Ehefrau, einer 32-jährigen Musikerin, auch keine Kinder mehr. "Das wäre verantwortungslos."

Der Baron selbst engagiert sich, wo er kann. Er kultiviert Steinbrüche und stellt dem Bund für Umwelt und Naturschutz, den er mitgründete, eigenen und aufgekauften Boden für Projekte zur Verfügung. Zudem ist er Gründungs- wie Vorstandsmitglied von Artists United for Nature, einem Zusammenschluss hochkarätiger Künstler aller Sparten, der sich für die Rettung des Regenwaldes stark macht.

Philipp-Franz, einer der beiden Söhne aus erster Ehe, führt Vaters grünen Gedanken in der Steiermark fort. Dort arbeitet der 30-Jährige als Forstwirt und Ökologe. Bruder Karl-Theodor, 31, zog es in die Politik: Mit 63 Prozent eroberte er den Wahlkreis Kulmbach per Direktmandat, jetzt ist er Bundestagsabgeordneter.

Zwischen den drei Männern besteht eine sehr enge Bindung. "Nach der Scheidung habe ich 25 Jahre allein gelebt und meine Buben hatten mich für sich. Wir waren unzertrennlich", erinnert sich der 56-Jährige und schmunzelt. "Dass ich dann eine so junge Frau geheiratet habe, hat dem Älteren erst gar nicht gepasst, wo er doch fast zur selben Zeit eine ebenso junge Frau geheiratet hat. Aber zum Glück hat sich das gelegt."

Kennen gelernt hat Enoch zu Guttenberg seine Ljubka vor sechs Jahren. Die attraktive 32-Jährige ist halb Italienerin, halb Bulgarin und hat als Dirigentin gerade einen wichtigen Wettbewerb in Italien gewonnen. Nebenbei studiert sie Theologie und liebt das Kutschefahren wie er. Der 56-Jährige ist sichtlich stolz auf seine talentierte Frau. "Sie hat ein Wahnsinns-Temperament", schwärmt er und hebt viel sagend die Augenbrauen. "Kein Wunder, bei den Vorfahren."

Der Zusammenhalt des jahrhundertealten Familien-Clans ist groß. So oft es geht, besuchen sich die Verwandten. Guttenberg, der drei Schwestern hat, ist 15facher Onkel und wie jedes Jahr wird Weihnachten gemeinsam auf dem Schloss gefeiert. Im Kreis seiner Nichten und Neffen wird der leidenschaftliche Dirigent dann vielleicht an die eigene Kindheit denken. Wie er als Jugendlicher elf Mal die Schule wechseln musste. "Ich war kein Musterschüler, habe mich nur für Musik und Pferde interessiert", erinnert er sich. Ironie des Schicksals: Jedes Mal, wenn Guttenberg zu spät zum Unterricht kam, mussten alle Mitschüler aufstehen und "Meister Jakob, schläfst du noch?" singen. Was als Strafe seines Lehrers gedacht war, bereitete dem kleinen Enoch schon damals jede Menge Spaß.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant