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„Spiegel“ prüft Leyendecker-Recherche über Bad Kleinen - WELT
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Wirtschaft Todesschuss von Bad Kleinen

„Spiegel“ rollt 26 Jahre alte Recherche neu auf

Spiegel-Verlag, Ericusspitze, Hafencity, Hamburg, Deutschland [ Rechtehinweis: picture alliance/Bildagentur-online ] Spiegel-Verlag, Ericusspitze, Hafencity, Hamburg, Deutschland [ Rechtehinweis: picture alliance/Bildagentur-online ]
Das Gebäude des Spiegel-Verlags an der Ericusspitze in der Hamburger Hafencity. Nach Relotius kommt das Magazin nicht zur Ruhe
Quelle: picture alliance
Fast drei Jahrzehnte nachdem der „Spiegel“ exakt beschrieb, wie der Terrorist Wolfgang Grams in Bad Kleinen „ermordet“ wurde, wird die damalige Berichterstattung intern kritisch durchleuchtet. Der verantwortliche Reporter ist eine Berühmtheit.

Relotius ist an allem schuld. So zumindest raunt der Flurfunk in der Hamburger „Spiegel“-Zentrale, wenn es darum geht, die aktuelle Berichterstattung über das Haus zu erklären. Ausgerechnet zum ersten Jahrestag der Veröffentlichung des Skandals um den Geschichtenerfinder Claas Relotius wurden erneut Zweifel an der Seriosität einer „Spiegel“-Recherche gestreut. Diesmal geht es um eine Story, die 26 Jahre zurückliegt.

Doch anders als bei Relotius, einem Reporter aus dem Gesellschaftsressort, in dessen Texten die Wahrheit wortwörtlich in Schönheit starb, steht jetzt ein investigatives Schwergewicht im Mittelpunkt: Hans Leyendecker, fast zwei Jahrzehnte in den Diensten des Nachrichtenmagazins und seit 1997 Enthüllungsspezialist bei der „Süddeutschen Zeitung“.

Hans Leyendecker
Hans Leyendecker gilt als Autorität des investigativen Journalismus
Quelle: picture alliance/dpa

Der heute 70-jährige Leyendecker gilt als Autorität – auch in Fragen der journalistischen Moral und Ethik. Über den Fall, den man beim „Spiegel“ gerne noch länger unter Verschluss gehalten hätte, hatte zuerst der Publizist Gabor Steingart in seinem E-Mail-Newsletter „Morning Briefing“ berichtet. Steingart, der selber lange beim „Spiegel“ gearbeitet hat, warf in Bezug auf die Hamburger Redaktion direkt die Frage auf: „Nachrichtenmagazin oder Märchenbuch?“

Es geht um die Berichterstattung von Hans Leyendecker zum Fall Bad Kleinen im Jahr 1993. „Der Todesschuß. Versagen der Terrorfahnder“ titelte das Magazin am 5. Juli jenes Jahres zu dem Anti-Terror-Einsatz, bei dem neun Tage zuvor der RAF-Terrorist Wolfgang Grams und ein GSG-9-Beamter gestorben waren. Der Autor beschrieb eine „Tötung wie eine Exekution“ und berief sich auf einen Zeugen aus den Reihen des Einsatzkommandos.

„Märchen vom aufgesetzten Kopfschuss“

In der Folge trat Rudolf Seiters (CDU) als Bundesinnenminister zurück, Generalbundesanwalt Alexander von Stahl wurde in den Ruhestand versetzt. Die Staatsanwaltschaft stellte später fest, Grams habe Suizid begangen. Das Oberlandesgericht Rostock äußerte später „grundsätzliche Zweifel“, ob Leyendecker „überhaupt jemals in Kontakt mit dem behaupteten Informanten … gestanden hat“.

Nun wird die damalige Berichterstattung vom „Spiegel“ hinterfragt, und zwar durch die interne Aufklärungseinheit, die Anfang des Jahres als „Relotius-Kommission“ eingesetzt worden war. Die Nachforschungen zu der alten Geschichte hat der ehemalige Generalbundesanwalt Alexander von Stahl angestoßen, der die Vorgänge um Lügen-Reporter Relotius zum Anlass genommen hatte, sich in der Sache Bad Kleinen an Chefredakteur Steffen Klusmann zu wenden.

Damals hatte Reporter Hans Leyendecker im „Spiegel“ einen bis heute der Öffentlichkeit nicht bekannten Informanten zitiert, wohl einen am Einsatz beteiligten Beamten. Er lieferte eine extrem detaillierte Beschreibung des Todes des RAF-Terroristen Wolfgang Grams. Demnach war der Terrorist in wehrloser Lage von Elitepolizisten ermordet worden.

„Er (Grams, die Red.) lag da auf der linken Körperseite. Ein Kollege kniete auf ihm. (…) Die Arme waren gespreizt. Die Waffe lag etwa zwei Meter von ihm entfernt 20 Grad nach oben links. Grams hat keine Möglichkeit mehr gehabt, das Schießgerät zu erreichen. Nach etwa ewig langen 20 Sekunden ist dann der tödliche Schuß gefallen. Ein Kollege von der GSG 9 hat aus einer Entfernung von Maximum fünf Zentimetern gefeuert.“ So stand es im „Spiegel“.

Nach dem Tod von Wolfgang Grams suchen Polizisten auf den Gleisen des Bahnhofs von Bad Kleinen nach Spuren
Bad Kleinen im Jahr 1993. Nach dem Tod von Wolfgang Grams suchen Polizisten auf den Gleisen des Bahnhofs nach Spuren
Quelle: picture-alliance / dpa

Im Jahr 1993 löste die Beschreibung eine gesellschaftliche Diskussion über die Auflösung der Elitetruppe aus, heute rangiert die These von der angeblichen Hinrichtung längst als Verschwörungstheorie oder als „Märchen vom aufgesetzten Kopfschuss“. Denn seit Langem ist klar: Die Version eines staatsterroristischen Racheakts durch einen Bundesbeamten ist eine Legende, die in einer Reihe von Ermittlungsverfahren widerlegt wurde.

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Der für den Bericht verantwortliche Leyendecker übt sich bereits seit Jahren in Selbstkasteiung. Er bezeichnete zum Beispiel im Jahr 2012 die Darstellung von der vorsätzlichen Erschießung des Verdächtigen in einer Rekonstruktion mit dem Titel „Tunnelblick“ als „größten Fehler meines journalistischen Lebens“ und erklärte dies so: „Ich hatte die Aussage eines Zeugen, der dabei war. Das war ein Beamter, der behauptete, der Terrorist Grams sei von zwei Kollegen praktisch hingerichtet worden.“ In seiner Vernehmung bei der Staatsanwaltschaft habe dieser dann etwas ganz anderes behauptet.

Wenn man Leyendecker heute erreicht, meint er, in der Sache sei alles gesagt. Das mutet seltsam an, da die Antwort auf die entscheidende Frage offenbar selbst beim „Spiegel“ intern immer offenblieb: Wer war jener ominöse Zeuge, über dessen Identität der Enthüller seit mehr als zweieinhalb Jahrzehnten schweigt? Ist er am Ende eine Fiktion?

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Dafür, dass er sich erneut rechtfertigen muss, hat der investigative Rechercheur wenig Verständnis. Im Gespräch mit WELT AM SONNTAG weist Leyendecker jeden Zusammenhang mit der Relotius-Debatte von sich. Dort gehe es um Betrug, bei ihm um Quellenschutz – das sei ein fundamentaler Unterschied.

Und dennoch könnte der Journalist in Erklärungsschwierigkeiten kommen. Denn nach Informationen von WELT AM SONNTAG liegt den internen „Spiegel“-Ermittlern heute das Tonbandprotokoll eines Gesprächs vor, das Leyendecker nach dem Tod von Grams im Düsseldorfer „Spiegel“-Büro mit einem anonymen Anrufer führte. Diese Quelle spielte bislang in den Erklärungen Leyendeckers, zum Beispiel in seiner eigenen Rekonstruktion „Tunnelblick“, nie eine Rolle.

Ombudsstelle für „Hinweise auf Unregelmäßigkeiten“

Gegenüber WELT AM SONNTAG argumentierte er, er habe dieser Quelle wenig Gewicht beigemessen und auf eine Erwähnung verzichtet, weil er nicht vom Hauptzeugen der Geschichte ablenken wollte. Zugleich räumt er ein, dass die Aussagen des anonymen Anrufers in wichtigen Passagen denen seiner Hauptquelle sehr ähnlich seien. Beim Mysterium um die Berichterstattung zu Bad Kleinen sind plötzlich also zwei Leyendecker-Zeugen im Spiel. Einer, den nur Leyendecker kennt. Und ein anonymer, von dem es ein Tonband gibt.

Der Journalist schließt aus, dass es sich um dieselbe Person handelt. Den Bundesbeamten habe er getroffen. Die Stimmen seien nicht identisch. 26 Jahre später wird das an der Ericusspitze kritisch untersucht. Dabei mag die Frage mitschwingen, ob es sein könnte, dass sich Leyendecker ausschließlich auf den anonymen Anrufer bezogen hat, als er den Tod des Terroristen in dem Artikel so detailliert einem Bundesbeamten zuschrieb. Der Journalist weist derlei Überlegungen scharf und deutlich zurück.

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Der „Spiegel“ wollte sich auf Anfrage im Detail nicht äußern und auch die Existenz des Tonbandprotokolls nicht bestätigen. Eine Sprecherin teilte nur mit, die Recherchen seien nicht abgeschlossen. Man könne im Moment nicht mehr sagen. Für das Magazin droht die Frage zu entstehen, ob nicht nur ein Reporterstar der Gegenwart betrogen hat, sondern auch Investigativ-Idole der Vergangenheit nicht immer ganz seriös gearbeitet haben.

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Chefredakteur Klusmann kündigte jetzt die Einrichtung einer Ombudsstelle für „Hinweise auf Unregelmäßigkeiten“ an. Die Relotius-Kommission wird zur Dauereinrichtung. In der Redaktion hat sich bereits ein Name dafür eingebürgert: die „Wahrheitskommission“.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

Quelle: WamS

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