Wenn man von der Lautstärke des Theaterdonners ausgeht, ist die Sache erst mal erledigt. "Wer kein Wahrheitsministerium will, sollte auch kein Wahrheitsgesetz schaffen", heißt es in einer Pressemitteilung des Autorinnenverbands PEN Berlin. Blitze zucken in die Richtung der Koalitionsunterhändler von Union und SPD, wegen des Papiers einer Arbeitsgruppe, über das zuerst die Bild-Zeitung groß berichtete.
Darin heißt es, dass die staatsferne Medienaufsicht zukünftig "unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze" verstärkt vorgehen soll. Das Team Freiheit, hier vertreten durch den PEN Berlin, erhebt Einspruch, denn, um dessen Vorsitzenden Deniz Yücel zu zitieren: "Die Freiheit des Wortes umfasst auch die Freiheit des ahnungslosen, bescheuerten, provozierenden, umstürzlerischen, frevlerischen, scheußlichen, geschmacklosen oder dummen Wortes." Zu Deutsch: Keinen Schritt weiter, das bleibt hier alles so, wie es ist.
Aber wie ist es eigentlich? Folgt man dem PEN Berlin, ist der Status quo eigentlich okay: "Die existierenden Verbote von Beleidigung, übler Nachrede oder Verleumdung sind nach Dafürhalten von PEN Berlin ausreichend, um die Rechte natürlicher und juristischer Personen zu schützen." Weiter sollte man demnach auch nicht gehen, denn: "Die Ausdehnung des Volksverhetzungsvorwurfs und die inflationäre Verwendung der Formel 'Hass und Hetze' haben dem zivilisierten Miteinander nicht genutzt, sondern geschadet."
Man kann hier nun allerhand anmäkeln, etwa dass neben der Formel "Hass und Hetze" ziemlich sicher Hass und Hetze selbst dem zivilisierten Miteinander geschadet haben. Auch wäre ein schwarz-rotes "Wahrheitsgesetz" (von dem so noch nicht einmal die Rede war) noch kein orwellsches "Wahrheitsministerium". Vielmehr wäre es der zweifelhafte, aber eventuell auch verzweifelte Versuch einer gewählten Regierung, in ihrem Medium (Gesetze) ein seit der zweiten Inauguration Donald Trumps (und der ersten Machtübernahme Elon Musks) umso drängenderes Problem stärker anzugehen. Es stimmt: Die "Basis klarer gesetzlicher Vorgaben" möchte man erst mal sehen, bevor man die Sache für gut befindet. Die digitale Desinformation unter der Herrschaft der Plattformoligarchen sieht man aber bereits jetzt jeden Tag.
Die eine Frage ist nun, wie der Staat – noch dazu in diesem Diskursklima – wirksam gegen Informationsmanipulation vorgehen will, also Fake-News-Quellen austrocknen, Knotenpunkte der Desinformation zerschlagen und ganz allgemein dafür sorgen, dass Lügen die Wahrheit nicht komplett überwuchern. Wer soll da wo ermächtigt werden und wann wie durchgreifen? Das sind schwierige, fast unlösbare Fragen, auf die das Koalitionspapier noch keine konkreten Antworten liefert. Man wird genau hinschauen müssen, wenn daraus mehr wird.
Die andere Frage ist, ob die
öffentliche Diskussion über restriktive Vorhaben des Staates in der
Zwischenzeit statt abgewürgt nicht viel eher erweitert werden muss. Macht es
sich das Team Freiheit zu einfach? Immerhin geht es hier nicht um den Schutz
von Individuen vor übler Nachrede. Es geht um die Dominanz von Wahrheit über
Lüge im digitalen Zeitalter.
Dystopischer als Zensur
Um diese Frage zu klären, muss man aber über Dominanz reden, ohne sie reflexartig nur bei staatlichen Akteuren zu vermuten. Immerhin wird die klassische staatliche Zensur herausgefordert durch etwas viel Dystopischeres: ein Sichtbarkeitsregime, das seriöse Informationen technisch unterdrücken und Halbwahrheiten sowie Lügen unseriös aufblasen kann. Intellektuelle können im Angesicht dieses Konflikts zwar in Free-Speech-Radikalismus verfallen. Sie sollten sich nur bewusst sein, welchen Wahrheitsministerien sie damit die Arbeit erleichtern, nämlich denen in Moskau und neuerdings in Washington, D. C.
Ein zentrales Dilemma besteht nun darin, dass diese Wahrheit für alle unsichtbar bleibt, die es gewohnt sind, allergisch auf eine Vokabel wie Wahrheit zu reagieren. In Deutschland ist das eine ganze intellektuelle Generation, die die Skepsis gegenüber absoluten Weltentwürfen lange und schmerzhaft gelernt hat. Sie musste sich und das Land erst mühsam freischwimmen aus den ideologischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Und sie widmete sich mit Fleiß und – als Lebenshaltung – süffisanter Ironie der Dekonstruktion dieser absoluten und überhaupt aller Wahrheiten. Sie reagierte auch entsprechend begeistert auf die Möglichkeiten des Loslaberns im Internet, das sie um die Jahrtausendwende als 20- bis 40-Jährige ereilte, als junge Wilde in den Redaktionen und an den Fakultäten. Dass dieser Ort nun, 25 Jahre später, böser sein soll als deutsche Volksparteien: Man versteht die Verwirrung, auch in einer Schriftstellervereinigung wie PEN Berlin, wo diese große Kohorte auch und bis in die Führung stark vertreten ist.
Man versteht auch, dass das
Geschichtsbild dieser Generation ein ganz anderes ist als das ihrer
Nachfolgerinnen, und dass es momentan – immerhin befinden sich ihre
publizierenden Vertreterinnen qua Alter und Funktion an Schaltstellen des
Diskurses – sehr sichtbar ist. Demnach sind es just die nächsten Generationen,
die ernstelnden Woken, die
mit ihren dringlich bis aggressiv vorgetragenen Wahrheiten zu Sprache, Meinung
und Klima den digitalen Faschismus erst aufgeputscht haben.
Notwehr gegen Propaganda
Dem wäre aber mindestens mal eine
Antithese hinzuzufügen, und die geht so: Es ist der westlich-wohlstandstemperierte
Freiheitsradikalismus der Boomer und Gen-Xer, der es bis heute unmöglich macht,
gegen technische und gesellschaftliche Fehlentwicklungen früh staatlich
vorzugehen, ohne dass von ihnen gleich ein alles verschlingender Erdrutsch der
Empörung losgetreten wird. Und es sind damit auch sie, die nun den ganzen Staat
in eine Notwehrsituation gegenüber perfidester Propaganda gebracht haben.
Da sind wir also bei der Frage: Seit wie vielen Generationen hat es begonnen, dass der Diskurs verhunzt wurde? Wer ist schuld an all den Lügen? Wer hat damit angefangen? Die Erklärungen sind alle verkürzt, hinterfragbar, zweifelhaft. Nicht einmal der heutige Welt-Herausgeber Ulf Poschardt, eine der lautesten und schärfsten Stimmen der Boomer, ist schließlich zu verwechseln mit jenen Manipulatoren wie Elon Musk, denen sein Blatt bereitwillig eine Bühne gibt, durchaus konsistent aus dem beschriebenen Denken heraus. Und überhaupt, "intellektuelle Generation", was soll das überhaupt sein?
Das soll es sein: eine Behelfskonstruktion, um zumindest die Möglichkeit in den Raum zu stellen, dass wir nicht oder nicht allein erleben, wo uns die mutmaßlich Woken hingebracht haben. Denn ebenso sehr hat man in den letzten Jahren einen freiheitlichen Skeptizismus erlebt, der sich an der woken Moral abarbeitete. Dabei behandelte er die allmähliche Erosion eines evidenzbasierten Diskurses durch Fake-News und alternative Wahrheiten zu lange als nachrangiges Problem. Gefährlicher schien ihm alles, was aus dieser Sicht irgendwie "ideologisch" daherkommt, von Klimaschutz bis Genderstern.
Dass diese ultraliberale Sichtweise, die ihrerseits in kein Links-rechts-Schema passt, selbst erhebliches ideologisches Potenzial hat, weil sie die eigene Wahrheit der Unwahrheit absolut setzt: Es macht die Situation so spannend, in der sie in Konflikt mit dem liberalkonservativen Bald-Kanzler Friedrich Merz gerät. Und es macht es so schwierig, sich der pauschalen Kritik an einem "Wahrheitsgesetz" anzuschließen.