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«Schweizerdeutsch ist nicht minderwertig» | NZZ

«Schweizerdeutsch ist nicht minderwertig»

Die zunehmende Verwendung des Dialekts zeige, wie sehr das Informelle auf dem Vormarsch sei, sagt die Linguistikprofessorin Helen Christen.

Paul Schneeberger
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Schweizerdeutsch: Brennend ist auch die Frage nach den sprachlichen Konsequenzen der vermehrten Präsenz von Hochdeutsch in der Deutschschweiz (Aufnahme: Unterricht im Zürichdeutschkurs für Fortgeschrittene in Hottingen, 2010). (Bild: Gaëtan Bally / Keystone)

Schweizerdeutsch: Brennend ist auch die Frage nach den sprachlichen Konsequenzen der vermehrten Präsenz von Hochdeutsch in der Deutschschweiz (Aufnahme: Unterricht im Zürichdeutschkurs für Fortgeschrittene in Hottingen, 2010). (Bild: Gaëtan Bally / Keystone)

Schweizerdeutsch, das stärkste Identifikationsmerkmal der Deutschschweizer, hat Konjunktur. In Zürich und im Aargau haben Volksinitiativen Mehrheiten gefunden, die für den Kindergarten den Gebrauch des Dialekts vorschreiben, und in privaten E-Mails und SMS wird Schweizerdeutsch zur schriftlichen Kommunikation verwendet. Konjunktur hat auch die Skepsis in anderssprachigen Landesteilen. Sie fand Ausdruck unter anderem in der vom Tessiner CVP-Nationalrat Marco Romano in der Frühlingssession aufgeworfenen Frage, ob die kantonalen Entscheide zugunsten von Schweizerdeutsch im Kindergarten verfassungsrechtliche Konsequenzen haben sollten.

Bundesrat Alain Berset machte in dieser Diskussion deutlich, dass er keinen Handlungsbedarf sieht. Und er verneinte die Frage, ob in den Schulen der lateinischen Schweiz künftig Schweizerdeutsch statt Deutsch unterrichtet werden soll, um den nationalen Zusammenhang zu gewährleisten. Ziel bleibe es, den Schülern grundlegende Kenntnisse der Amtssprachen zu vermitteln.

Formalität, Informalität

Helen Christen, Linguistikprofessorin an der Universität Freiburg, sieht es ähnlich. «Schweizerdeutsch ist die Sprache des Informellen. Und mit dem Schwinden des Formellen, auch aus Kultur, Politik und Medien seit den 1960er Jahren, gewinnt es laufend an Bedeutung – zuletzt durch die neue informelle Schriftlichkeit von Menschen, die sich bis zum Auftauchen neuer Informationskanäle kaum schriftlich ausgedrückt hätten.»

Hinzu kommt einmal mehr das, was sich in den Entscheiden zugunsten der Kindergarten-Initiativen äussert: eine Angst davor, dass einem die Sprache, die man sprechen soll, vorgeschrieben wird, und eine Bekräftigung der eigenen Identität, wie Helen Christen beobachtet. Deutschschweizer wüssten sehr wohl um die Grenzen zwischen Formalität und Informalität, zwischen Hochdeutsch und Schweizerdeutsch: «Es kommt niemandem in den Sinn, Bewerbungs-E-Mails auf Schweizerdeutsch zu verfassen.» Und wenn eine Uhrenfirma ihren Jahresbericht – wie 2013 geschehen – einmal auf Schweizerdeutsch verfasse, sei dies als das zu werten, was es ist: als PR-Aktion.

«Das Besondere an der Deutschschweizer Sprachsituation ist, dass Schweizerdeutsch die gesprochene Umgangssprache aller Bevölkerungsschichten ist. Wer gebildet ist, ist nicht schon daran zu erkennen, dass er sich in eloquenter Weise einer Hochsprache bedient, sondern er spricht eloquent Dialekt.» Schweizerdeutsch werde zwar nicht formell geschrieben, weise aber sonst keinerlei Defizite gegenüber anderen Sprachen auf, so Christen weiter.

Das gelte es in den anderen Landesteilen zu vermitteln, sagt Helen Christen: «Es geht darum, den Ruch des Minderwertigen loszuwerden. Schweizerdeutsch verdient, als das dargestellt und vermittelt zu werden, was es ist: die selbstverständliche Sprache des Deutschschweizer Alltags.» Wie soll das konkret geschehen? Doch mit Schweizerdeutsch als Schulfach in der französischen und italienischen Schweiz? So weit würde sie nicht gehen, sagt die Linguistin, deren Bewusstsein für das Verhältnis der Landessprachen durch ihre Tätigkeit direkt am Röstigraben geschärft ist. Einen tauglichen Ansatz findet sie jenen im Kanton Genf, wo die Schüler der Oberstufe ansatzweise lernen, Schweizerdeutsch zu hören und zu verstehen, und wo ihnen vor allem vermittelt wird, welchen Stellenwert die Dialekte in der Deutschschweiz haben.

Brennend ist auch die Frage nach den sprachlichen Konsequenzen der vermehrten Präsenz von Hochdeutsch in der Deutschschweiz. Reichen diese über das Aufkommen von Begriffen wie «Knaller» und «Schnäppli» hinaus, mit denen der Detailhandel Aktionen bewirbt? «Ich kann auf der grammatikalischen Ebene keinen substanziellen Wandel erkennen», sagt Christen. «Eine andere Frage ist jene, ob Dialekt die selbstverständliche Sprachform auch gegenüber Unbekannten ist. Ein Paradigmenwechsel wäre gegeben, wenn wir in der Deutschschweiz den Kontakt zu Unbekannten mit Hochdeutsch aufnehmen würden.» Aber ist es nicht gerade dieses Einsteigen auf Schweizerdeutsch, das Deutschschweizern immer wieder als Ignoranz ausgelegt wird?

Helen Christen: «Dieses Vorurteil gibt es, aber wir können es wissenschaftlich nicht bestätigen. Wir haben über 6000 Gespräche aus Notrufzentralen ausgewertet, um das zu überprüfen. In den meisten Fällen haben sich die Telefonisten sprachlich auf das Gegenüber eingestellt. Wenn jemand Hochdeutsch oder gebrochen sprach, wurde das Gespräch in der Regel auf Hochdeutsch geführt. Sprachen die Anrufenden gebrochen, war für die Wahl der Sprachform entscheidend, ob das gebrochene Deutsch dialektale Züge trug oder nicht. Interessanterweise wurde in dieser Konstellation auch locker zwischen Hochdeutsch und Dialekt hin und her gewechselt, was zwischen Einheimischen nicht vorkommt.»

Erinnern an Dürrenmatt

Besteht die Zurückhaltung vieler Deutschschweizer gegenüber der Anwendung des Hochdeutschen im richtigen Moment nicht aus einem Misstrauen ihrem eigenen Akzent gegenüber, das verstärkt wird, indem selbst in elektronischen Schweizer Medien diesen niemand mehr pflegt? «Die Sache mit den ‹Modellsprechern› ist eine Herausforderung», sagt Helen Christen. «Es braucht Selbstbewusstsein, um sich angesichts der vielen unterschiedlich bewerteten Möglichkeiten, das Hochdeutsche auszusprechen, nicht von dessen Gebrauch mit der eigenen Färbung abhalten zu lassen. Friedrich Dürrenmatt, der im gesamten deutschsprachigen Kulturraum anerkannt ist, zelebrierte sein schweizerisches Hochdeutsch geradezu.» – Tatsächlich, von ihm stammt auch der Satz: «Wer allzu schön redet, kommt mir provinziell vor.»