(Translated by https://www.hiragana.jp/)
Vallader – Wikipedia

Vallader (Aussprache [vɐˈlaːdɛr], deutsch auch Unterengadinisch) ist ein bündnerromanisches Idiom und wird im Unterengadin zwischen Martina und Zernez sowie in der Val Müstair, beide Gebiete im Osten des Kantons Graubünden, gesprochen.

Sgraffito in Guarda. Deutsche Übersetzung: Wir errichten schöne Häuser und wissen, dass wir nicht ewig bleiben. Aber an den Ort, wo wir hingehen, um für immer zu bleiben, denken wir nur selten.
Verbreitungsgebiet der einzelnen romanischen Idiome im Kanton Graubünden. Der gelbe Bereich im Osten bezeichnet die Verbreitung von Vallader inklusive Jauer in der Val Müstair.
Die Aussprache des Wortes eu (deutsch ich) in den verschiedenen Dialekten des Unterengadins und der Val Müstair, Stand 1962.[1] Wann genau der Laut /g/ des zugrunde liegenden, lateinischen Wortes ego verloren ging, ist nicht klar, zumindest im Schriftbild war der Buchstabe g in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch vorhanden: eug.[2]
Die drei Mal wöchentlich erscheinende Zeitung Engadiner Post / Posta Ladina erscheint zwar im Oberengadin, doch etwa 80 % der rätoromanischen Artikel sind in Vallader.

Einordnung

Bearbeiten

Vallader ist eine Variante des Ladin und damit eines der fünf Idiome des Bündnerromanischen. Vallader wird sowohl im Unterengadin, als auch in der benachbarten Val Müstair, dort in der Variante des Jauer, gesprochen. Insgesamt hat Vallader ca. 7000 Sprecher.[3]

Vallader hat wie alle fünf bündnerromanischen Idiome Schriftsprachcharakter: Die Sprache hat eine komplexe, einheitliche Grammatik,[4] verfügt über Wörterbücher[1][5] (auch online[6]), eine literarische Szene sowie Lehrmittel zu vielen Schulfächern.[7][8]

Charakteristika

Bearbeiten

Vergleich Bündnerromanisch

Bearbeiten

Viele Merkmale teilt Vallader mit dem oberengadinischen Idiom Puter. Auf lexikalischer Ebene sind sich die Sprachen so ähnlich, dass ein gemeinsames Wörterbuch existiert.[1] Mit Puter teilt Vallader phonetisch die gerundeten Palatale [y] und [ø], die im übrigen Bündnerromanisch nicht vorkommen. Dies äussert sich auch für den Laien gut sichtbar durch die zahlreichen ü und ö im Schriftbild.[9]

Ebenfalls teilen die beiden Idiome den Besitz eines Passà defini und eines Passà anteriur, die beide in den anderen Idiomen nicht bzw. nicht mehr vorkommen. Die beiden Zeitformen entsprechen dem italienischen Passato remoto und dem französischen Passé simple. Auch in den beiden ladinischen Idiomen sind diese Zeitformen der Literatur vorbehalten. Im Altsurselvischen existierte eine solche synthetische Präteritalform ebenfalls.[9]

Vergleich Puter

Bearbeiten

Verglichen mit Puter sind sich in Vallader Schrift und Aussprache näher: Im Grossen und Ganzen lässt sich die Aussprache in Vallader aus der Schrift ableiten.

Verben der ersten Konjugation enden in Vallader auf betontes -ar, während sie in Puter konsequent auf betontes -er enden.

Eher gross sind die Unterschiede zwischen den beiden Idiomen in der Konjugation, zum Beispiel im Präsens von avair (dt. haben):[1]

Idiom 1. Sg. 2. Sg. 3. Sg. 1. Pl. 2. Pl. 3. Pl.
Puter eau d’he tü hest el ho nus avains vus avais els haun
Vallader eu n’ha tü hast el ha nus vain vus vaivat/avaivat/avais els han

Germanismen

Bearbeiten

Wie auch die anderen bündnerromanischen Idiome enthält Vallader viele Germanismen auf der Ebene des Wortschatzes, der Phraseologie und auf der Ebene der Grammatik. Dabei beziehen sich die Beispiele im lexikalischen Bereich durchaus auch auf Begriffe des täglichen Gebrauchs oder der alpinen Umwelt und beschränken sich nicht etwa auf Neologismen, von denen eine Übernahme in den eigenen Wortschatz nahe liegt.

Beispiele auf lexikalischer Ebene sind: god (aus ahd. wald), nüzzaivel (dt. nützlich), stambuoch (dt. Steinbock) oder rispli (dt. Bleistift, aus Schweizerdeutsch risbli, Reissblei).

Als Beispiele auf phraseologischer Ebene fallen die zahlreichen Verbindungen von Verb und Adverb auf, zum Beispiel far aint (dt. einmachen), crescher sü (dt. aufwachsen) oder ir giò (dt. untergehen). Auch Lehnübersetzungen aus dem (Schweizer-)Deutschen der Art avair gugent (dt. gernhaben) sind für eine romanische Sprache ungewöhnlich. Der italienische Sprachwissenschaftler Graziadio Ascoli prägte für dieses gemeinbündnerromanische Phänomen in den 1880er Jahren das Schlagwort materia romana e spirito tedesco (dt. romanische Grundmasse und deutscher Geist).[10][11]

Es gibt auch kombinierte lexikalisch-phraseologische Germanismen, zum Beispiel far ün strich tras il quint, deutsch einen Strich durch die Rechnung machen.[1]

Im Bereich der Grammatik sind zu nennen: die Inversion nach Adverbien am Satzanfang, die Verwendung des Konjunktivs in der indirekten Rede oder die Sperrung von Hilfsverb und Partizip durch weitere Satzteile im Perfekt und in anderen periphrastischen Verbformen.[9]

Dialekte

Bearbeiten

Allgemein

Bearbeiten

In der gesprochenen Sprache verwenden die Unterengadiner und Münstertaler örtliche Dialekte, die durchaus stark von der Standardsprache abweichen können. Die Sprecher können die Herkunft ihres Gesprächspartners im Allgemeinen auf den Ort genau feststellen. So gibt es zum Beispiel für das Wort eu (dt. ich) die folgenden örtlichen Aussprachen: [ˈɛː], [ˈɛw], [ˈjɛ], [ˈjɐ], [ˈjow] und [ˈjaw].[12]

Jauer ist die Bezeichnung für den Dialekt des Vallader, der in der Val Müstair gesprochen wird.

Jauer kennzeichnet sich aus durch die Betonung der Verben der 1. Konjugation auf der zweitletzten Silbe und dem Wechsel der Endung von -ar zu -er. Zudem wird betontes a diphthongiert. Beispiel: Das chantàr (dt. singen) des Standard-Vallader wird zu Jauer chàunter.

Jauer besitzt keine schriftsprachliche Tradition. Allerdings erschien 2007 erstmals ein Geschichtenband in Jauer.[13]

In den Schulen der Val Müstair wurde bis 2008 Vallader als Unterrichtssprache verwendet, danach für kurze Zeit Rumantsch Grischun. Dies wurde aber auf Grund der Volksabstimmung im Frühjahr 2012 wieder rückgängig gemacht.

Samnauner Dialekt

Bearbeiten

Samnaun (in Vallader Samignun) ist heute deutschsprachig (Tirolerisch), gehörte aber ursprünglich ebenfalls zum Sprachgebiet des Vallader. Eine erste Zuwendung zum Tirolerischen geschah bereits um 1675.[14] 1830, gleichzeitig mit dem Ausbau des Säumerwegs ins Tirolerische Spiss führte ein Tiroler Lehrer die deutsche Sprache als Unterrichtssprache ein.[15] Letzter Sprecher des Samnauner Rätoromanischen war Augustin Heiß, der 1935 starb.[16][17][18] In anderen Quellen werden auch die beiden Schwestern Prinz mit den Jahrgängen 1830 und 1837 als „letzte Trägerinnen des Samnauner Romanentums“ erwähnt.[19]

Bekannt ist, dass sich die Aussprache schon länger dem deutschen bzw. Tirolerischen angenähert hatte. Belegt sind unter anderem:[14][6]

Samnauner Dialekt Vallader Deutsch
baiber baiver trinken
barva barba Onkel, Bart
nelja, neela nöglia nichts
veela vöglia Wille
fim füm Rauch
glim glüm Licht
tavo davo nach
turmir durmir schlafen

Erste Schriften und Autoren

Bearbeiten

Bereits 1536 übersetzte Philipp Gallicius wichtige Bibel- und Bekenntnistexte wie das Unser-Vater-Gebet, das Apostolikum, die Zehn Gebote und einige Psalmen in die gesprochene Sprache und gehört damit zu den Begründern der rätoromanischen Schriftsprache.[20] Als erstes gedrucktes Dokument in Vallader gilt das Psalmenbuch Vn cudesch da Psalms von Durich Chiampell aus dem Jahr 1562.[21][22] Im Unterengadin bestand im Jahre 1700 bereits eine erste romanische Zeitung, die Gazetta ordinaria da Scuol. 1774 regelte die Landesreforma den Sprachengebrauch im Freistaat der Drei Bünde, und im amtlichen Spriftgebrauch etablierte sich auch das Rätoromanische.

Wichtige Autoren, die in Vallader schrieben oder schreiben sind Peider Lansel, Men Rauch, Men Gaudenz, die Brüder Andri und Oscar Peer, Luisa Famos, Cla Biert, Leta Semadeni und Rut Plouda-Stecher.

Auch der Liedermacher Linard Bardill nutzt Vallader, wenn er nicht in Deutsch oder Rumantsch Grischun singt bzw. schreibt.[23]

Sprachbeispiele

Bearbeiten

Die folgenden Beispiele erlauben einen Vergleich von Vallader inklusive Jauer mit Rumantsch Grischun und dem Deutschen.

Vallader

Bearbeiten

La vuolp d’eira darcheu üna jada fomantada. Qua ha’la vis sün ün pin ün corv chi tgnaiva ün toc chaschöl in seis pical. Quai am gustess, ha’la pensà, ed ha clomà al corv: „Che bel cha tü est! Scha teis chant es uschè bel sco tia apparentscha, lura est tü il plü bel utschè da tuots.“

La uolp d’era darchiau üna jada fomantada. Qua ha’la vis sün ün pin ün corv chi tegnea ün toc chaschöl in ses pical. Quai ma gustess, ha’la s’impissà, ed ha clomà al corv: „Cha bel cha tü esch! Scha tes chaunt es ischè bel sco tia apparentscha, lura esch tü il pü bel utschè da tots“.[24]

Rumantsch Grischun

Bearbeiten

La vulp era puspè ina giada fomentada. Qua ha ella vis sin in pign in corv che tegneva in toc chaschiel en ses pichel. Quai ma gustass, ha ella pensà, ed ha clamà al corv: „Tge bel che ti es! Sche tes chant è uschè bel sco tia parita, lura es ti il pli bel utschè da tuts.“

Der Fuchs war wieder einmal hungrig. Da sah er auf einer Tanne einen Raben, der ein Stück Käse in seinem Schnabel hielt. Das würde mir schmecken, dachte er, und rief dem Raben zu: „Wie schön du bist! Wenn dein Gesang ebenso schön ist wie dein Aussehen, dann bist du der schönste von allen Vögeln.“

Literatur

Bearbeiten
  • Gion Tscharner: Dicziunari – Wörterbuch vallader-tudais-ch/Deutsch-Vallader. Lehrmittelverlag des Kantons Graubünden, Chur 2003, OCLC 718284615.
  • Martin Schlatter: Ich lerne Romanisch. [Roth, Thusis] 20039.
  • Gian Paul Ganzoni: Grammatica ladina. Grammatica sistematica dal rumantsch d’Engiadina Bassa per scolars e creschüts da lingua rumantscha e francesa. Uniun dals Grischs und Lia Rumantscha, [Samedan?] 1983, OCLC 20375379 (zweisprachige Grammatik unterengadinisch/französisch).

Literatur auf Vallader wird unter anderem von der Lia Rumantscha in Chur herausgegeben.

Bearbeiten

Einzelnachweise

Bearbeiten
  1. a b c d e Oscar Peer (Hrsg.): Dicziunari rumantsch. Ladin – tudais-ch. Stamparia Engiadinaisa, Chur 1962, OCLC 884457901. Lia rumantscha, [Cuira] 19954, OCLC 258534729.
  2. Beispiel: Quai ch’eug requint non es fablas, mo la vardat, perchie naj eug svess vis et cognoscü. In: Martin Peider Schmid von Grünegg: Chiantun verd in chronographia rhetica illustrada. Eigenverlag, Ftan 1772 ff.
  3. Eidgenössische Volkszählung von 1990: 7756 Personen insgesamt, Vallader als bestbeherrschte Sprache: 5243. Zitiert in Miniporträt Rätoromanisch (Memento vom 13. März 2016 im Internet Archive) (PDF; 206 kB). In: EuroComRom.de, abgerufen am 18. Oktober 2012.
  4. Jachen Curdin Arquint: Vierv Ladin. Grammatica elementara dal rumantsch d’Engiadina bassa. Roth, Tusan 1964, OCLC 179713907.
  5. Gion Tscharner: Dicziunari – Wörterbuch Vallader Tudais-ch – Deutsch Vallader. 2006.
  6. a b Wörterbuch von ICT-Atelier (Memento vom 15. Mai 2012 im Webarchiv archive.today), abgerufen am 6. Mai 2016 (nur Anzeige der Homepage, Funktionen nicht nutzbar). Andere Wörterbücher: Siehe Weblinks.
  7. Lehrmittel-Verzeichnis des Kantons Graubünden 2012/2013 (Memento vom 1. Juni 2013 im Internet Archive) (PDF; 125 kB). In: gr.ch, abgerufen am 5. Mai 2016.
  8. Lia Rumantscha, Rubrik Bücher/Lehrmittel. In: liarumantscha.ch, zuletzt abgerufen am 5. Mai 2016.
  9. a b c Ricarda Liver: Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bündnerromanische (= Narr-Studienbücher). 2., überarb. und erw. Auflage. Narr, Tübingen 2010, ISBN 978-3-8233-6556-3.
  10. Graziadio Isaia Ascoli (1880–1883): Annotazioni sistematiche al Barlaam e Giosafat soprasilvano. Saggio di morfologia e lessicologia soprasilvana (= Archivio glottologico italiano. Bd. 7, Folge 3a, ISSN 0004-0207). E. Loescher, Roma/Torino/Firenze 1883, OCLC 79879303.
  11. Gerhard Rohlfs: Romanische Lehnübersetzungen auf germanischer Grundlage (Materia romana, spirito germanico) (= Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. 1983, Heft 4). Verl. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1984, ISBN 3-7696-1523-9.
  12. Ricarda Liver: Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bündnerromanische. Narr, Tübingen 20102, S. 67.
  13. Plinio Meyer: Dschon Uein id atras istorias grischunas. Uniun dals Grischs, Celerina 2007, ISBN 978-3-85637-342-9. Deutsche Übersetzung: Dschon Uein und andere Bündner Geschichten.
  14. a b Die Sprache der Samnauner (Memento vom 4. September 2014 im Internet Archive). In: Website der Gemeinde Samnaun, abgerufen am 17. Oktober 2012.
  15. Die Sendung Balcun Tort vom 13. November 1977. In: youtube.com, abgerufen am 12. Oktober 2016.
  16. Ada Ritter: Historische Lautlehre der ausgestorbenen romanischen Mundart von Samnaun (Schweiz, Kanton Graubünden). In: Romania Occidentalis. Bd. 6. Verlag A. Lehmann, Gerbrunn bei Würzburg 1981, OCLC 72986189, S. 25.
  17. Die Sendung Balcun Tort vom 13. November 1977 gibt als Todesjahr der letzten romanisch sprechenden Person 1935 an. In: youtube.com, abgerufen am 12. Oktober 2016.
  18. Die Website der Gemeinde Samnaun nennt ebenfalls das Jahr 1935: Die Sprache der Samnauner (Memento vom 4. September 2014 im Internet Archive). In: gemeindesamnaun.ch, abgerufen am 17. Oktober 2012.
  19. C. Täuber: Zwei kürzlich erschlossene Bündner Täler (Avers und Samnaun). In: Jahrbuch des Schweizer Alpenclub (JSA). 48, 1912/13, ZDB-ID 217189-2, S. 3–47 (online. (PDF; ? kB) In: gloggengiesser.dk. Ehemals im Original (nicht mehr online verfügbar); abgerufen am 21. Mai 2019 (keine Mementos).@1@2Vorlage:Toter Link/www.gloggengiesser.dk (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven)); Suche. In: bsb-muenchen.de, abgerufen am 12. Oktober 2016 (mit Anmeldung bzw. kostenpflichtig per Subito, ca. 2019 frei).
  20. Martin Bundi: Gallicius, Philipp. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 15. März 2017, abgerufen am 21. Mai 2019.
  21. Conradin Bonorand: Campell, Ulrich [Duri Champell]. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 15. Februar 2005, abgerufen am 21. Mai 2019.
  22. Vgl. Huldrych Blanke: Die vierfache Bedeutung Durich Chiampells. In: Zwingliana. Bd. 11 (1963), H. 10, ISSN 0254-4407, S. 649–662, hier: 652–656 (PDF; 808 kB), abgerufen am 18. Oktober 2012.
  23. Pers. Komm. 20. August 2012.
  24. Lia Rumantscha (Hrsg.): Rumantsch – Facts & Figures. Aus dem Deutschen von Daniel Telli. 2., überarbeitete und aktualisierte Ausgabe. Chur 2004, ISBN 3-03900-033-0, S. 31 (105 S.; online) (Memento vom 10. Juni 2015 im Internet Archive) (PDF; 3487 kB), abgerufen am 5. Mai 2016.