„Scheinarchitektur“ – Versionsunterschied

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'''Scheinarchitektur''' ist eine illusionistisch gemalte oder durch Reliefwirkung nur angedeutete Architektur, die räumlich nicht existiert.<ref name=":0">[[Hans Koepf]], [[Günther Binding]]: ''Bildwörterbuch der Architektur. Mit englischem, französischem, italienischem und spanischem Fachglossar'' (= ''Kröners Taschenausgabe.'' Bd. 194). 4., überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2005, ISBN 3-520-19404-X ([https://moodle.unifr.ch/pluginfile.php/975203/mod_resource/content/0/KOEPF%2C%20BINDING%2C%202005%2C%20Bildwoerterbuch%20der%20Architektur.pdf Digitalisat auf moodle.unifr.ch], abgerufen am 28. April 2024), S. 412: ''Scheinarchitektur.''</ref>
'''Scheinarchitektur''' spiegelt dem Betrachter das Vorhandensein baulicher Elemente und Einrichtungen vor.


== Gebaute Scheinarchitekturen ==
== Illusionsmalerei ==
In der Malerei wird häufig die [[Fluchtpunktperspektive]] gewählt, um räumliche Tiefe vorzutäuschen. Beispielhaft hierfür ist die [[Deckenmalerei]] des [[Barock]]s. Dem am Boden stehenden Betrachter öffnet sich das Gewölbe einer Kirche beim Blick nach oben zum Himmel. Die Ränder der Öffnung werden u.&nbsp;a. von geschickt gemalten, perspektivisch verzerrten [[Balustrade]]n begrenzt. Diese Illusion funktioniert allerdings nur von einem bestimmten Punkt aus einwandfrei, von dem aus die Zentralperspektive ihre Wirkung entfaltet und den Raum illusionistisch erweitert. Bei einem Verlassen dieses „Ideal“-Punktes verändern sich die Fluchtlinien und die Architektur scheint zu kippen. Daher eignen sich vorwiegend hohe Decken mit einem gewissen Abstand zum Betrachter, der naturgemäß die ideale Betrachtungsposition erweitert, wie auch Kuppeln oder gewölbte Deckenansätze, die den Übergang von der Realität in die Illusion unterstützen, für diese Art der Bemalung. In modernen Profanbauten ist die Dekorierung von Decken mit Scheinarchitektur wegen des Fehlens der erforderlichen Höhe nur noch selten und beschränkt sich dort meist auf die malerische Öffnung von Wänden (Darstellung der Öffnungslaibung) oder die Darstellung eines Scheinmauerwerks.


=== Europa ===
Das Barockzeitalter ist beispielhaft auch für die scheinarchitektonische [[Fassade]]ngliederung. Mächtige Säulen[[kapitell]]e, Steinlagen, Fenster oder Gesimse, die der Betrachter wahrzunehmen glaubt, bestehen in diesem Fall lediglich aus Farbe, Stuck oder flachen [[Relief]]s, die über Mauerwerk aus unbehauenen Steinen oder Ziegelsteinen angebracht wurden.
Zu den Scheinarchitekturen zählen feste Bühnenbauten ([[Proszenium|Proszenien]]) in klassischen Theatern, aber auch [[Künstliche Ruine|künstliche Ruinenbauten]] in Parkanlagen des 18. und 19. Jahrhunderts.
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Scheinarchitektur fassade.jpg|Aufbau einer barocken Scheinfassade
Im weiteren Sinne können auch [[Kulisse (Bühne)|Theaterkulissen]], [[Attrappe|Attrappen]], [[Staffage|Staffagen]] und [[Potemkinsche Dörfer]] als Scheinarchitekturen eingesetzt werden.
False Architecture Brescia 01.jpg|Gewölbefresko der Kirche [[Santa Maria della Carità (Brescia)|Santa Maria della Carità]] in [[Brescia]]
Scheinarchitektur fresko.jpg|Scheinarchitektur eines Freskos in [[Neresheim]]
Brooklyn-Bridge-Mural.jpg|Scheinfassade, Scheinarchitektur und Trompe-l’œil in New York, von [[Richard Haas (Maler)|Richard Haas]], 1981
False Architecture Brescia 02.jpg|Villa in [[Brescia]] mit Scheinfassade
Munchen Rezydencja 5.jpg|Scheinarchitektur im Kaiserhof der [[Münchner Residenz]]
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== Gebaute Scheinarchitekturen ==
=== Indien ===
=== Indien ===
Bereits in den aus dem 3./4. Jahrhundert stammenden buddhistischen [[Chaitya]]-Hallen Westindiens ([[Karli]]-, [[Bhaja]]-, [[Aurangabad-Höhlen]]) finden sich imposante Scheingewölbe und Blendarchitekturen. Überhaupt kann die Felsbaukunst insgesamt mit einigem Recht als Scheinarchitektur bezeichnet werden (z. B. [[Felsenkirche]]n, [[Höhlentempel in Asien|Höhlentempel]]).
[[Datei:AURANGABAD23.jpeg|mini|hochkant|Aurangabad-Höhle]]
Bereits in den aus dem 3./4. Jahrhundert stammenden buddhistischen [[Chaitya]]-Hallen Westindiens ([[Karli]]-, [[Bhaja]]-, [[Aurangabad-Höhlen]]) finden sich imposante Scheingewölbe und Blendarchitekturen. Überhaupt kann die Felsbaukunst insgesamt mit einigem Recht als S[[Höhlentempel in Asien|tempel]]).


Vor allem in der [[Pallava-Architektur]] Südindiens (7.–9. Jh.), in der zeitlich und stilistisch nachfolgenden [[Chola-Architektur]] (9.–12. Jh.) und der darauf fußenden Baukunst des [[Vijayanagar]]-Reiches finden sich Scheinarchitekturen. Bedeutendste Beispiele sind die [[Fünf Rathas]] in [[Mamallapuram]] sowie die stufenförmig angeordneten pyramidalen Tempel- oder [[Gopuram]]-Türme im gesamten Südosten des indischen Subkontinents ([[Kanchipuram]], [[Thanjavur]], [[Madurai]] etc.).
Vor allem in der [[Pallava-Architektur]] Südindiens (7.–9. Jh.), in der zeitlich und stilistisch nachfolgenden [[Chola-Architektur]] (9.–12. Jh.) und der darauf fußenden Baukunst des [[Vijayanagar]]-Reiches finden sich Scheinarchitekturen. Bedeutendste Beispiele sind die [[Fünf Rathas]] in [[Mamallapuram]] sowie die stufenförmig angeordneten pyramidalen Tempel- oder [[Gopuram]]-Türme im gesamten Südosten des indischen Subkontinents ([[Kanchipuram]], [[Thanjavur]], [[Madurai]] etc.).<gallery class="center" caption="Gebaute Scheinarchitektur">
Datei:Interior of Teatro Olimpico (Vicenza) scena .jpg|Scheinarchitektur: [[Skene (Theater)|Skene]] im [[Teatro Olimpico (Vicenza)]], [[Andrea Palladio]], erbaut 1580–1585.
Datei:Löwenburg - Bergpark Wilhelmshöhe 12.jpg|Künstliche Ruine: [[Löwenburg (Kassel)|Löwenburg]] im Bergpark Wilhelmshöhe (Kassel), erbaut 1793–1801
Datei:Meierei Pfaueninsel 2010 - panoramio.jpg|Künstliche Ruine: Meierei auf der [[Pfaueninsel]], erbaut 1794–1795
Datei:Ruinenberg Potsdam 2.JPG|Ruinenstaffage auf dem [[Ruinenberg]] in Potsdam-Sanssouci, 1748
Datei:Babelsberg Filmkulisse Berliner Straße.jpg|Scheinarchitektur als Kulissen im [[Filmpark Babelsberg]]
Datei:COLLECTIE TROPENMUSEUM Het interieur van de fotostudio Stafhell & Kleingrothe in Medan. TMnr 60001724.jpg|Scheinarchitektur als Staffage in einem Fotostudio, 1898
Datei:AURANGABAD23.jpeg|Scheinarchitektur: Innenraum einer [[Aurangabad-Höhlen|Aurangabad]]-Höhle
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== Illusionsmalerei ==
In der Malerei wird häufig die [[Fluchtpunktperspektive]] gewählt, um räumliche Tiefe vorzutäuschen. Beispielhaft hierfür ist die [[Deckenmalerei]] des [[Barock]]s. Dem am Boden stehenden Betrachter öffnet sich das Gewölbe einer Kirche beim Blick nach oben zum Himmel. Die Ränder der Öffnung werden u.&nbsp;a. von geschickt gemalten, perspektivisch verzerrten [[Balustrade]]n begrenzt. Diese Illusion funktioniert allerdings nur von einem bestimmten Punkt aus einwandfrei, von dem aus die Zentralperspektive ihre Wirkung entfaltet und den Raum illusionistisch erweitert. Bei einem Verlassen dieses „Ideal“-Punktes verändern sich die Fluchtlinien und die Architektur scheint zu kippen. Daher eignen sich vorwiegend hohe Decken mit einem gewissen Abstand zum Betrachter, der naturgemäß die ideale Betrachtungsposition erweitert, wie auch Kuppeln oder gewölbte Deckenansätze, die den Übergang von der Realität in die Illusion unterstützen, für diese Art der Bemalung. In modernen Profanbauten ist die Dekorierung von Decken mit Scheinarchitektur wegen des Fehlens der erforderlichen Höhe nur noch selten und beschränkt sich dort meist auf die malerische Öffnung von Wänden (Darstellung der Öffnungslaibung) oder die Darstellung eines Scheinmauerwerks.


Das Barockzeitalter ist beispielhaft auch für die scheinarchitektonische [[Fassade]]ngliederung. Mächtige Säulen[[kapitell]]e, Steinlagen, Fenster oder Gesimse, die der Betrachter wahrzunehmen glaubt, bestehen in diesem Fall lediglich aus Farbe, Stuck oder flachen [[Relief]]s, die über Mauerwerk aus unbehauenen Steinen oder Ziegelsteinen angebracht wurden.
=== Europa ===

Auch die [[Künstliche Ruine|künstlichen Ruinenbauten]] des 18. und 19. Jahrhunderts in Europa sind in diesem Zusammenhang zu nennen.
Scheinarchitektur findet man auch in barocken Kirchen- und Schlossbauten, um eine Raumausweitung<ref name=":0" /> zu erzielen, insbesondere in flachen Deckenbildern, die hoch aufragende Kuppeln vortäuschen.
<gallery class="center" caption="Illusionsmalerei">
Datei:Scheinarchitektur fassade.jpg|Barocke Scheinfassade mit [[Putzquaderung]] und aufgemalter Fensterrahmung ([[Kloster Ottobeuren|Koster Ottobeuren]])
Datei:False Architecture Brescia 02.jpg|''Palazzo Maggi Gambara'' in [[Brescia]] mit Scheinfassade
Datei:Munchen Rezydencja 5.jpg|[[Sgraffito]]-Scheinarchitektur im Kaiserhof der [[Münchner Residenz]]
Datei:Brooklyn-Bridge-Mural.jpg|Scheinfassade, Scheinarchitektur und Trompe-l’œil in New York, von [[Richard Haas (Maler)|Richard Haas]], 1981
Datei:2018 St. Martin Bamberg Innen 4.jpg|Gemalte Scheinkuppel in [[St. Martin (Bamberg)]], Francesco Marchini, 1716
Datei:False Architecture Brescia 01.jpg|Gewölbefresko der Kirche [[Santa Maria della Carità (Brescia)|Santa Maria della Carità]] in [[Brescia]]
Datei:Scheinarchitektur fresko.jpg|Scheinarchitektur eines Gewölbefreskos in der [[Abtei Neresheim#Fresken|Abteikirche Neresheim]]
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== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* [[Blendsäule]]
* [[Blende (Architektur)]]
* [[Lüftlmalerei]]
* [[Blindfenster]]
* [[Blindfenster]]
* [[Ornament]]
* [[Quadraturmalerei]]
* [[Trompe-l’œil]]
* [[Trompe-l’œil]]
* [[Palazzo Spada]]
* [[Quadraturmalerei]]
* [[Lüftlmalerei]]
* [[Santa Maria presso San Satiro]]
* [[Skenographie]]
* [[Mock-Up|Mock-up]]


== Weblinks ==
== Weblinks ==
{{commons|Trompe-l’œil}}
{{commons|Trompe-l’œil}}

* ''[https://www.arte.tv/de/videos/104159-000-A/fotografie-die-potemkinschen-doerfer-der-us-armee/ Fotografie: Die Potemkinschen Dörfer der US-Armee]'', auf [[Arte TV]] (Mediakthek)
{{Wiktionary}}
{{Wiktionary}}

== Einzelnachweise ==
<references />


[[Kategorie:Ornamentik]]
[[Kategorie:Ornamentik]]

Aktuelle Version vom 28. April 2024, 17:59 Uhr

Gewölbe mit Scheinarchitekturen, Kirche Santa Maria del Corlo in Lonato del Garda

Scheinarchitektur ist eine illusionistisch gemalte oder durch Reliefwirkung nur angedeutete Architektur, die räumlich nicht existiert.[1]

Gebaute Scheinarchitekturen

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Zu den Scheinarchitekturen zählen feste Bühnenbauten (Proszenien) in klassischen Theatern, aber auch künstliche Ruinenbauten in Parkanlagen des 18. und 19. Jahrhunderts.

Im weiteren Sinne können auch Theaterkulissen, Attrappen, Staffagen und Potemkinsche Dörfer als Scheinarchitekturen eingesetzt werden.

Bereits in den aus dem 3./4. Jahrhundert stammenden buddhistischen Chaitya-Hallen Westindiens (Karli-, Bhaja-, Aurangabad-Höhlen) finden sich imposante Scheingewölbe und Blendarchitekturen. Überhaupt kann die Felsbaukunst insgesamt mit einigem Recht als Scheinarchitektur bezeichnet werden (z. B. Felsenkirchen, Höhlentempel).

Vor allem in der Pallava-Architektur Südindiens (7.–9. Jh.), in der zeitlich und stilistisch nachfolgenden Chola-Architektur (9.–12. Jh.) und der darauf fußenden Baukunst des Vijayanagar-Reiches finden sich Scheinarchitekturen. Bedeutendste Beispiele sind die Fünf Rathas in Mamallapuram sowie die stufenförmig angeordneten pyramidalen Tempel- oder Gopuram-Türme im gesamten Südosten des indischen Subkontinents (Kanchipuram, Thanjavur, Madurai etc.).

Illusionsmalerei

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In der Malerei wird häufig die Fluchtpunktperspektive gewählt, um räumliche Tiefe vorzutäuschen. Beispielhaft hierfür ist die Deckenmalerei des Barocks. Dem am Boden stehenden Betrachter öffnet sich das Gewölbe einer Kirche beim Blick nach oben zum Himmel. Die Ränder der Öffnung werden u. a. von geschickt gemalten, perspektivisch verzerrten Balustraden begrenzt. Diese Illusion funktioniert allerdings nur von einem bestimmten Punkt aus einwandfrei, von dem aus die Zentralperspektive ihre Wirkung entfaltet und den Raum illusionistisch erweitert. Bei einem Verlassen dieses „Ideal“-Punktes verändern sich die Fluchtlinien und die Architektur scheint zu kippen. Daher eignen sich vorwiegend hohe Decken mit einem gewissen Abstand zum Betrachter, der naturgemäß die ideale Betrachtungsposition erweitert, wie auch Kuppeln oder gewölbte Deckenansätze, die den Übergang von der Realität in die Illusion unterstützen, für diese Art der Bemalung. In modernen Profanbauten ist die Dekorierung von Decken mit Scheinarchitektur wegen des Fehlens der erforderlichen Höhe nur noch selten und beschränkt sich dort meist auf die malerische Öffnung von Wänden (Darstellung der Öffnungslaibung) oder die Darstellung eines Scheinmauerwerks.

Das Barockzeitalter ist beispielhaft auch für die scheinarchitektonische Fassadengliederung. Mächtige Säulenkapitelle, Steinlagen, Fenster oder Gesimse, die der Betrachter wahrzunehmen glaubt, bestehen in diesem Fall lediglich aus Farbe, Stuck oder flachen Reliefs, die über Mauerwerk aus unbehauenen Steinen oder Ziegelsteinen angebracht wurden.

Scheinarchitektur findet man auch in barocken Kirchen- und Schlossbauten, um eine Raumausweitung[1] zu erzielen, insbesondere in flachen Deckenbildern, die hoch aufragende Kuppeln vortäuschen.

Commons: Trompe-l’œil – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Scheinarchitektur – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. a b Hans Koepf, Günther Binding: Bildwörterbuch der Architektur. Mit englischem, französischem, italienischem und spanischem Fachglossar (= Kröners Taschenausgabe. Bd. 194). 4., überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2005, ISBN 3-520-19404-X (Digitalisat auf moodle.unifr.ch, abgerufen am 28. April 2024), S. 412: Scheinarchitektur.