Jean Starobinski

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Jean Starobinski (2004)

Jean Isaac Starobinski (* 17. November 1920 in Genf; † 4. März 2019 in Morges, Kanton Waadt; heimatberechtigt in Genf) war ein Schweizer Arzt und Literaturwissenschaftler, Medizinhistoriker und Ideengeschichtler. Er war von 1958 bis 1985 Professor an der Universität Genf.

Leben und Werk[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Jean Starobinski wurde als Sohn von Aron Starobinski und Szajndla Frydman, beide polnisch-jüdischer Herkunft, geboren.[1] Seit Vater emigrierte 1913 wegen antisemitischen Repressionen, die ihm ein Studium untersagten, von Warschau nach Genf.[2] Beide Eltern schlossen in Genf ein Medizinstudium ab, der Vater unterhielt seit 1926 eine eigene Praxis.[3]

Starobinski besuchte von 1932 bis 1939 das Collège Calvin und schloss dieses mit der Matura ab.[4] Noch als Gymnasiast besuchte er an der Universität eine Vorlesung über Rousseau von Marcel Raymond, der später sein wichtigster akademischer Lehrer werden sollte.[5]

Von 1939 bis 1942 studierte Starobinski Französisch, Latein und Griechisch an der Universität Genf.[6] Er schloss sein Studium mit einer von Marcel Raymond betreuten Arbeit über die Selbsterkenntnis bei Stendhal ab. Durch Vermittlung von Raymond lernte Starobinski den Dichter Pierre Jean Jouve kennen, der seit 1941 in Genf exiliert war. Er war regelmässiger Gast in Jouves Wohnung, wo sich Schriftsteller und Intellektuelle wie Georges Haldas, Maurice Chappaz, Pierre Courthion und Jean Rudolf von Salis trafen.[7] Bereits vor Abschluss seines Studiums veröffentlichte Starobinski erste Artikel über Lyrik in den Zeitschriften Lettres, die von Jouve gegründet wurde, und La Suisse contemporaine.[8] Seine allererste Publikation betraf den Gedichtband Porches à la nuit des saints von Pierre Jean Jouve.[9]

Von 1942 bis 1948 studierte Starobinski Medizin an der Universität Genf. Es waren vor allem soziale und wirtschaftliche Gründe, die ihn dazu bewogen, seine Laufbahn als Geisteswissenschaftler vorerst nicht weiterzuverfolgen. Eine Karriere als Arzt schien ihm planbarer.[10] 1948 erhielt er auch die Schweizer Staatsbürgerschaft, die ihm noch 1940 verweigert worden war.[11] Auch während seines Medizinstudiums war Starobinski publizistisch tätig. Er unterhielt enge Beziehungen zu Intellektuellen und Verlegern, die sich von der Schweiz aus für die Résistance in Frankreich engagierten. 1943 gab er ein in der von Pierre Courthion gegründeten Reihe Le Cri de la France, die den Begriff der Freiheit in verschiedenen Jahrhunderten dokumentieren wollte, einen Band zu Stendhal heraus. 1945 erschien seine Übersetzung von Erzählungen und weiteren Texten Franz Kafkas mit einer umfangreichen Einleitung.[12]

Von 1947 bis 1949 unterrichtete Starobinski als Assistent von Marcel Raymond französische Literatur an der Universität Genf. Von 1948 bis 1953 war er Assistenzarzt am Kantonsspital Genf.[13] Aus seiner Unterrichtstätigkeit ging 1953 die erste eigene Buchpublikation hervor: ein Porträt Montesquieus in der Reihe Écrivains de toujours.

Auf Einladung von Georges Poulet unterrichtete Starobinski von 1953 bis 1956 als assistant professor an der Johns Hopkins-Universität in Baltimore. Diese Jahre waren entscheidend für Starobinskis intellektuelle Prägung.[14] Am Institute of the History of Medicine besuchte er die Vorlesungen von Owsei Temkin und entdeckte sein Interesse für medizingeschichtliche Fragestellungen.[15] Regelmässig nahm Starobinski an den Sitzungen des History of Ideas Club teil, wo er mit Arthur Lovejoy, George Boas und Ludwig Edelstein zusammentraf und sein eigenes Verständnis von Ideengeschichte ausbildete.[16] Anregend war auch der Konflikt zwischen Georges Poulet und Leo Spitzer über den richtigen methodischen Zugang zur Literatur.[17] Starobinskis eigene Methode, die er mit dem Ausdruck «relation critique» bezeichnete, lässt sich als Vermittlung zwischen den beiden Positionen Bewusstseinsanalyse und Stilkritik auffassen.[18]

Neben seiner Unterrichtstätigkeit hatte Starobinski in Baltimore Zeit, seine literaturwissenschaftliche Dissertation fertigzustellen. Hatte er ursprünglich geplant, eine vergleichende Studie über Maskenverächter und Demaskierer in der französischen Literatur vom 16. bis ins 20. Jahrhundert zu schreiben (Montaigne, La Rochefoucauld, Rousseau, Stendhal, Valéry),[19] so hatte sich schliesslich das Kapitel über Rousseau zu einer eigenständigen Arbeit ausgewachsen. 1957 verteidigte Starobinski seine Dissertation, die unter dem Titel La transparence et l’obstacle Berühmtheit erlangen sollte. Doktorvater war Marcel Raymond.

Von 1957 bis 1958 arbeitete Starobinski noch einmal als Arzt an der psychiatrischen Anstalt in Cery (Kanton Waadt). Anschliessend verfasste er auch seine medizinische Dissertation zur Geschichte der Melancholiebehandlung bis 1900, die 1960 erschien. Starobinski wurde zum Doktor der Medizin der Universität Lausanne ernannt.[20]

Auf Betreiben von Marcel Raymond wurde Starobinski 1958 auf eine eigens für ihn geschaffene Professur für Ideengeschichte an der Universität Genf berufen.[21] Er wurde für zunächst drei Jahre und mit halbem Pensum eingestellt. Nach der Emeritierung Raymonds 1962 konnte er zusätzlich eine halbe Professur für moderne französische Literatur übernehmen. 1964 wurde er vom ausserordentlichen zum ordentlichen Professor befördert.[22] 1985 wurde er emeritiert. Von 1963 bis 1985 hielt er Vorlesungen über Medizingeschichte an der medizinischen Fakultät.[23] Ausserdem nahm er Lehraufträge in Basel (1959–61), Paris (Collège de France, 1987–88) und Zürich (ETH, 1992–93) wahr.

Von 1965 bis 1996 war er Leiter der Rencontres internationales de Genève[24] und von 1967 bis 1993 Präsident der Société Jean-Jacques Rousseau in Genf, deren Ziel in jener Zeit in der Herausgabe einer kritischen Ausgabe von Rousseaus Werken bestand.[25]

Auch nach seiner Emeritierung blieb Starobinski wissenschaftlich tätig und veröffentlichte bis ins hohe Alter neue Bücher. Die Anerkennung für sein Werk drückt sich in der Verleihung zahlreicher Ehrendoktorwürden aus (mindestens insgesamt dreizehn).

Jean Starobinski verstarb 2019 im Alter von 98 Jahren in Morges, Kanton Waadt.[26]

Das Archiv und die persönliche Bibliothek von Jean Starobinski befinden sich im Schweizerischen Literaturarchiv der Schweizerischen Nationalbibliothek.[27]

Forschung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Starobinski erforschte die Geschichte der Melancholie und ihrer Behandlung (Geschichte der Melancholiebehandlung, 1960, Besessenheit und Exorzismus, 1974, Melancholie im Spiegel, 1990; in L'encre de la mélancolie fasste er 2012 seine kleineren Arbeiten zum Thema zusammen); er untersuchte in aufwändig gestalteten Bänden die prägenden Themen der bildenden Kunst Europas im Jahrhundert vor der Französischen Revolution (Die Erfindung der Freiheit, 1964) sowie in der Revolutionszeit selbst (1789, 1973); ausserdem das Porträt des Künstlers als Gaukler in Literatur und Kunst (1970) und den sozialen Gabentausch (Gute Gaben, schlimme Gaben, 1994).

Bekannt wurde er vor allem durch seine Arbeiten zur französischen Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts (Montesquieu, Rousseau, Diderot, Montaigne, Racine, Corneille u. a.), in denen er psychoanalytische und phänomenologische Zugänge, den Blick des Arztes auf die Vielschichtigkeit und individuelle Ausgestaltung menschlichen Erlebens und den des Literaturhistorikers auf thematische Zusammenhänge zu eindringlichen Analysen verband.

1964 veröffentlichte er die Studien Ferdinand de Saussures über Anagramme. In weiteren Büchern widmete er sich dem Begriffspaar Aktion und Reaktion in Natur- und Humanwissenschaften (1999) und der Figur der verzaubernden Frau in der Oper (Die Zauberinnen, 2005).

Auszeichnungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Laptop von Jean Starobinski

Schriften (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Montesquieu: ein Essay; mit ausgewählten Lesestücken (1953). Übers. Ulrich Raulff. Hanser, München / Wien 1991.
  • Rousseau: eine Welt von Widerständen (1958, erweiterte Ausgabe 1971). Übers. Ulrich Raulff. Hanser, München / Wien 1988.
  • Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900 (Documenta Geigy. Acta psychosomatica, 4). Übers. Johannes Oeschger. Geigy, Basel 1960; Neuausgabe, in überarbeiteter Übersetzung neu herausgegeben und mit einem Vorwort von Cornelia Wild. August Verlag, Berlin 2011.
  • Über Corneille (aus: L’Œil vivant, 1961). In: Pierre Corneille: Polyeukt. Frankfurt am Main / Hamburg 1962.
  • Das Leben der Augen (1961). Übers. Henriette Beese. Ullstein, Berlin. 1984
  • Geschichte der Medizin. Übers. Elinor Lipper. Édition Rencontre, Lausanne 1963.
  • Die Erfindung der Freiheit. 1700–1789. (1964) Übers. Hans Staub. Fischer, Frankfurt am Main 1988.
  • Psychoanalyse und Literatur. (1970) Übers. Eckhart Rohloff. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973.
  • Porträt des Künstlers als Gaukler. (1970) Übers. Markus Jakob. Fischer, Frankfurt am Main 1985.
  • Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure. (1971). Übers. Henriette Beese. Ullstein, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1980.
  • 1789, die Embleme der Vernunft. (1973) Übers. Gundula Göbel. Schöningh, Paderborn 1981.
  • Besessenheit und Exorzismus. Drei Figuren der Umnachtung. (1974) Übers. Helmut Kossodo. Schulz, Percha 1976.
  • Rousseaus Anklage der Gesellschaft (= Konstanzer Universitätsreden 89). Universitätsverlag, Konstanz 1977.
  • Montaigne. Denken und Existenz. (1982) Übers. Hans-Horst Henschen. Hanser, München 1986.
  • Kleine Geschichte des Körpergefühls. Übers. Inga Pohlmann. Universitätsverlag, Konstanz 1987. (Aufsatzsammlung)
  • Das Rettende in der Gefahr. Kunstgriffe der Aufklärung. (1989) Übers. Horst Günther. S. Fischer, Frankfurt am Main 1990.
  • Melancholie im Spiegel. Baudelaire-Lektüren. (1990) Übers. Horst Günther. Hanser, München / Wien 1992.
  • Gute Gaben, schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten. (1994) Übers. Horst Günther. S. Fischer, Frankfurt am Main 1994.
  • Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffspaars. (1999) Übers. Horst Günther. Hanser, München / Wien 2001.
  • (mit Ilse Grubrich-Simitis, Mark Solms:) Hundert Jahre „Traumdeutung“ von Sigmund Freud. Drei Essays. Fischer, Frankfurt am Main 2000.
  • Die Zauberinnen. Macht und Verführung in der Oper. (2005) Übers. Horst Günther. Hanser, München 2007.
  • « Questions sur un ramage », in L’Amuse-Bouche : La revue française de Yale. The French Language Journal at Yale University, 2010.
  • Wege der Poesie. Übers. Horst Günther. Hanser, München 2011. (Aufsätze)

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bibliographische Informationen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Jean Starobinski – Sammlung von Bildern

Aktuelles, Interview[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Deutschsprachige Online-Veröffentlichungen von Texten Starobinskis[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Surrealismus und Parapsychologie, aus: Schweizer Monatshefte 45 (1965), 1155–1164. doi:10.5169/seals-161794
  • Das kritische Verhältnis, aus: Schweizer Monatshefte 49 (1969), 291-298, doi:10.5169/seals-162279 (Titelaufsatz des Bandes La relation critique von 1970, der in die deutsche Übersetzung Psychoanalyse und Literatur nicht aufgenommen wurde).
  • Künstler im Gewand des Gauklers, aus: Schweizer Monatshefte 49 (1969–1970), 1092–1107. doi:10.5169/seals-162395
  • Bandello und Baudelaire: Der Fürst und sein Narr, aus: Schweizer Monatshefte 65 (1985), 67-78. doi:10.5169/seals-164236
  • Medizin und Antimedizin: eine Wissenschaft und ihr Schatten, aus: Schweizer Monatshefte 68 (1988), 398-410. doi:10.5169/seals-164572
  • In der Welt gegenwärtig sein, aus: Schweizer Monatshefte 76 (1996), 17-22. doi:10.5169/seals-165580

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. John E. Jackson: Starobinski, Jean. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
  2. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie. In: Jean Starobinski: La beauté du monde. La littérature et les arts. Édition établie sous la direction de Martin Rueff. Gallimard, Paris 2016, S. 23 f.
  3. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 25–27.
  4. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 44 f.
  5. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 47.
  6. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 53.
  7. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 62–63.
  8. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 64.
  9. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 63.
  10. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 68.
  11. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 71.
  12. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 74–81.
  13. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 86.
  14. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 100.
  15. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 101 f.
  16. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 103–105.
  17. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 105–109.
  18. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 109.
  19. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 60.
  20. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 117.
  21. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 118–120.
  22. Programmes des cours - Archives. In: Université de Genève. Abgerufen am 3. März 2024 (französisch).
  23. Carmelo Colangelo: Cours donnés par Jean Starobinski à la Faculté des Lettres de l’Université de Genève 1958-1985. In: Bulletin du Cercle d’études Jean Starobinski. Nr. 2, 2009, S. 13–16 (admin.ch [PDF]).
  24. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 158.
  25. Martin Rueff: L’Oeuvre d’une vie, S. 156 f.
  26. Accueil. 8. März 2019, archiviert vom Original am 8. März 2019; abgerufen am 17. Juli 2019.
  27. Décès du critique littéraire et psychiatre genevois Jean Starobinski. 6. März 2019, abgerufen am 17. Juli 2019 (französisch).
  28. Prix Pierre de Régnier | Académie française. Abgerufen am 24. September 2018 (französisch).
  29. Stadt Heidelberg: heidelberg.de - Karl-Jaspers-Preis. Abgerufen am 24. September 2018.
  30. Académicien décédé: Jean Starobinski. Académie royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique, abgerufen am 28. Februar 2024 (französisch).