Surrealismus

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Frau und Vogel (Barcelona 1982) von Joan Miró

Surrealismus bezeichnet eine geistige Bewegung, die sich seit den 1920er Jahren als Lebenshaltung und Lebenskunst gegen traditionelle Normen äußert. Sie findet bis in die Gegenwart sowohl philosophisch als auch in den Medien, Literatur, Kunst und Film ihren Ausdruck. Im Unterschied zum satirischen Ansatz des Dada werden gegen die herrschenden Auffassungen vor allem psychoanalytisch begründete Theorien verarbeitet. Traumhaftes, Unbewusstes, Absurdes und Phantastisches sind daher Merkmale der literarischen, bildnerischen und filmischen Ausdrucksmittel. Auf diese Weise sollen neue Erfahrungen gemacht und neue Erkenntnisse gewonnen werden.[1]

Das Wort „Surrealismus“ bedeutet wörtlich „über dem Realismus“.[2] Etwas, das als surreal bezeichnet wird, wirkt traumhaft im Sinne von unwirklich.[2] Die vom französischen Schriftsteller und Kritiker André Breton seit 1921 in Paris geführte surrealistische Bewegung suchte die eigene Wirklichkeit des Menschen im Unbewussten und benutzte Rausch- und Traumerlebnisse als Quelle der künstlerischen Eingebung. Sie bemühte sich darum, das Bewusstsein und die Wirklichkeit global zu erweitern und alle geltenden Werte umzustürzen. Logisch-rationale „bürgerliche“ Kunstauffassungen wurden radikal und provokativ abgelehnt. Der Surrealismus wird daher als anarchistische, bzw. revolutionäre Kunst- und Weltauffassung bezeichnet.

Die Bezeichnung „Surrealismus“ geht auf Guillaume Apollinaire zurück. Ganz im Sinne des Grundgedankens der Bewegung erfand Apollinaire diese Bezeichnung. Er wolle mit diesem unbekannten und daher symbolisch unbelasteten Wort eine Tendenz der gegenwärtigen literarischen und bildnerischen Aktivitäten benennen, schrieb er in der Einleitung seines Theaterstückes Les mamelles de Tirésias (Die Brüste des Tiresias). Es trägt den Untertitel „ein surrealistisches Drama“. Es wurde im Juni 1917 uraufgeführt[3] und später von Francis Poulenc als Grundlage seiner gleichnamigen Oper verwendet. Im Mai desselben Jahres hatte Apollinaire den Begriff bereits im Programmzettel zum Ballett Parade erwähnt.[4] 1924 übernahm Breton das Wort Surrealismus als Namen für die bereits vorhandene Bewegung.

Man kann den Surrealismus in zwei Unterarten unterteilen:

  1. Veristischer oder auch kritisch-paranoischer Surrealismus (Vereinigung nicht zusammengehöriger Dinge, verdrehte Perspektiven, wie man sie z. B. von Salvador Dalí kennt), Bildbeispiel Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen (1944).
  2. Abstrakter oder absoluter Surrealismus (dasselbe Prinzip wie oben genannt nur ohne jeglichen Realismus), wie z. B. in Bildern von Joan Miró, Bildbeispiel Karneval des Harlekins (1924/25).

Ausgehend von der dadaistischen Bewegung in Paris war auch der Surrealismus eine revolutionäre Bewegung, die gegen die unglaubwürdigen Werte der Bourgeoisie antrat. Im Unterschied zum satirischen Dadaismus wurde im Surrealismus eine neuartige Sicht der Dinge propagiert. Die künstlerischen Ausdrucksmittel waren vom Symbolismus, Expressionismus, Futurismus, den Schriften Lautréamonts, Arthur Rimbauds, Alfred Jarrys und den Theorien Sigmund Freuds beeinflusst.

Die Gründungsmitglieder der surrealistischen Bewegung entstammten der Generation vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Denken, Literatur, Kunst und Musik hatten sich an vielen Orten schon von Traditionen verabschiedet und es entwickelten sich neue Ausdrucksmittel. Die „metaphysische Malerei“ des Italieners Giorgio de Chirico beeindruckte denkende, dichtende und malende Künstler, die sich später in den Reihen der Surrealisten wiederfanden. Für ihn sei wichtig, was er sehe, schrieb er; am wichtigsten sei aber das, was er mit geschlossenen Augen sehe. Vermutlich war es diese Verbindung zwischen Vorgestelltem und sinnlich Wahrgenommenem in seinen Bildern, die Surrealisten faszinierte.

Ein weiterer Einfluss auf die Entstehung der surrealistischen Bewegung ging vom Dada aus. Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges verstärkten diese Bewegung. Die Zeit vor dem Krieg war von den jugendlichen Surrealisten, die sich damals noch Supranaturalisten nannten, als unbeschwert und frei erlebt worden. In Paris waren internationale Gruppen entstanden, die sich miteinander im Gespräch befanden. Der Krieg unterbrach es. Die Erfahrungen dieses Krieges mit zigtausenden Toten und der Einbruch in soziale Beständigkeiten wirkten traumatisierend und forderten zur Stellungnahme heraus. Kriegsheimkehrer gründeten Zeitschriften wie SIC, Nord-Sud und Dada, die der dadaistischen Bewegung wieder eine Stimme gaben, die sich nicht dem Chor der Kriegsheldenverehrung anschließen wollte.

Wenige Jahre später kam es zum Bruch mit dem Dada. 1922 rief Bréton den Congrès de Paris ins Leben, um eine Richtung für die verschiedenen Formen der modernen Kunst vorzugeben. Der Kongress, mit parlamentarischer Satzung, sollte unter Polizeischutz stattfinden. Breton meinte,

„daß der Dadaismus keinem anderen Zweck gedient haben kann als dem, uns in dem vollkommenen Zustand der Verfügbarkeit zu halten, in dem wir gegenwärtig sind und aus dem heraus wir jetzt in aller Klarheit auf das zugehen werden, was uns ruft.“[5]

Für Tristan Tzara, den Führer des Dada, stellte Bretons Vorgehen einen Affront dar, weshalb er die Einladung zum Kongress „in aller Freundlichkeit“ ablehnte. Breton wiederum ging nun Tzara öffentlich scharf an und bezeichnete ihn „als einen Schwindler, der nichts mit der Erfindung Dada zu tun habe.“ Der Vorfall artete zu einer Zerreißprobe der Mitglieder aus und bedeutete quasi das Ende der Dada-Bewegung.

In einer Julinacht im Jahr 1923 kam es schließlich im Pariser Théâtre Michel zu Handgreiflichkeiten, als Tristan Tzaras Schauspiel Le Cœur à Gaz aufgeführt werden sollte. Tzaras frühere Freunde Louis Aragon, Benjamin Péret und Breton stürmten die Bühne und griffen die Darsteller an.[6]

Das Ende des Ersten Weltkriegs kann als Zeitpunkt der Entstehung der Bewegung in Frankreich gelten, die ab 1924 unter dem Namen Surrealismus das sozialpolitische Denken und die Literatur beeinflusste. Als französische Bewegung in Politik, Kunst und Literatur ist sie auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen begrenzt. Andererseits gehört sie als geistige Bewegung zur europäischen Geistesgeschichte. Sie enthält Auffassungen, die auch schon in der Vergangenheit – z. B. in der Romantik – auftauchten. Es ging dabei stets um Alternativen zu traditionellen Auffassungen. Inzwischen sind surrealistische Auffassungen weltweit verbreitet.[7]

Littérature n° 1, März 1919

André Breton war eng mit der Entstehung der surrealistischen Bewegung in Frankreich verbunden. In der Anfangszeit zeigte sich der Surrealismus als philosophisch-literarische Bewegung. André Breton, Louis Aragon und Philippe Soupault gaben die Zeitschrift Littérature heraus. Hier wurden surrealistische Ideen veröffentlicht und diskutiert. Die Zahl der Beiträge nahm zwischen 1922 und 1924 stark zu. Breton zeigte sich zunehmend als Wortführer. Kreativität, so propagierte er, hänge davon ab, ob es gelänge, sich von den Lasten der Vergangenheit und realistischen Strukturen zu befreien. Die Fantasie solle die ausschließliche Inspiration sein. Die Kontrolle durch die Vernunft sei dabei überflüssig. Dieser Rahmen ermöglichte es Dadaisten und Surrealisten sich ihm anzuschließen.

Im Zusammenhang mit politischen Entwicklungen – wie den revolutionären Veränderungen in Russland, der Gründung der KPF und dem Hervorkommen des Faschismus – entschied Breton Ende der 1920er Jahre, dass Surrealisten sich politisch engagieren sollten. Seinen Höhepunkt hatte diese Auseinandersetzung 1930 mit Bretons „Zweitem surrealistischen Manifest“, in welchem dieser auf eine klare Stellungnahme der Künstler gegen den sich ausbreitenden Faschismus in Europa hinwirken wollte.[8] Breton sagte sich von allen los, die seine revolutionäre Auffassung nicht teilten und behandelte sie als Gegner. Von nun an war die surrealistische Bewegung in die Gruppe der Revolutionäre und in die Gruppe derjenigen gespalten, die jahrelang dazu beigetragen hatten, surrealistische Ausdrucksmittel zu erfinden.[9]

Philosophische Voraussetzungen surrealer Ideen

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Zu Bretons grundsätzlichen Gedanken, die auch seine Anhänger teilten, gehörte die Auffassung, dass es keine objektiv gegebene äußere Wirklichkeit gibt.[10] Folglich kann die Sprache die Welt nicht objektiv darstellen, wie traditionell angenommen wurde. Die Symbolik der herrschenden Sprache ermöglicht weder neue Erfahrungen noch neue Erkenntnisse. Surrealistische Schriftsteller sollten daher eine neue Sprache erfinden,

„… um auf ihr ein neues Denken, eine neue Weltbeziehung und letztlich sogar eine neue Welt begründen zu können.“

Ohne eine neue Sprache sind auch gesellschaftspolitische Veränderungen nicht möglich. Es wurde daher die Befreiung der „Wörter“ und eine Ästhetik der „kühnen Metapher“ gefordert.[11]

Auch die Wahrnehmung muss sich ändern, wenn Neues entdeckt oder erfunden werden soll. Sie muss vor allem vorurteilsfrei und spontan sein. In seinem Buch über den Surrealismus zitiert Gaétan Picon[12] aus Die verlorenen Schritte: Auftritt der Medien von Breton folgende Beschreibung eines veränderten Wahrnehmens:[5]

„Im Jahre 1919 hatte sich mein Augenmerk auf die mehr oder weniger unvollständigen Sätze gerichtet, die bei völliger Einsamkeit und herannahendem Schlaf dem Geist wahrnehmbar werden, ohne dass es möglich wäre, eine vorherige Bestimmung in ihnen zu entdecken.“

Max Ernst schrieb in seiner Veröffentlichung Jenseits der Malerei im Jahr 1936:

„An einem regnerischen Tag des Jahres 1919, in einer Stadt am Rhein, fiel mir auf, mit welcher Besessenheit mein irritiertes Auge an den Seiten eines Bilderkataloges haftete, in dem Gegenstände zur anthropologischen, mikroskopischen, psychologischen, mineralogischen und paläontologischen Veranschaulichung abgebildet waren. Dort standen Bildelemente nebeneinander, die einander so fremd waren, dass gerade die Sinnlosigkeit dieses Nebeneinanders eine plötzliche Verschärfung der visionären Kräfte in mir verursachte, und eine halluzinierende Folge widersprüchlicher […] Bilder wachgerufen wurde […].“

Nach André Breton behindert das Ziel, etwas Schönes schaffen zu wollen, den psychischen Automatismus der Niederschrift des Gedankenflusses. Ähnlich wie ästhetische Überlegungen wirken auch moralische oder logische Einwände (wie überhaupt jedes Dazwischentreten des Willens) als Akte innerer Zensur, die die Offenlegung verborgene Geheimnisse verhindert.[13]

Die Surrealisten-Gruppe

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André Breton, 1924

Breton veröffentlichte 1924 sein erstes Manifeste du Surréalisme in Paris und dominierte in der Folge die Bewegung. Für die Dauer der Bewegung blieb das Manifest maßgebend, im sogenannten „zweiten surrealistischen Manifest“ von 1929 wurden nur geringfügige Änderungen vorgenommen.[6] Die Zeitschrift Littérature wurde eingestellt, um La Révolution surréaliste, dem Forum der neuen Bewegung, Platz zu machen. Ein „Büro für surrealistische Forschungen“ in der rue de Grenelle 15 rundete die Institutionalisierung ab.[14]

Die Bilder der Surrealisten haben oft traumhafte und abstrakte Wirkung. Ein vielbehandeltes Bildthema der surrealistischen Malerei ist beispielsweise Die Versuchung des Heiligen Antonius, unterstützt durch den Bel-Ami-Wettbewerb von 1946, an dem viele bekannte Künstler der Zeit, wie Max Ernst, Salvador Dalí und viele andere teilnahmen. Ernst wurde der erste Preis zuerkannt.

Bevorzugte Arbeitsweisen waren: Das Bewusstsein durch Traum, Schlaf oder Rauschmittel abschalten und Unbewusstes in einem automatischen, nicht gesteuerten Schaffungsprozess zum Ausdruck kommen lassen sowie eine übergenaue Malweise, Verfremdung oder Kombination unmöglicher Dinge und Zustände, welche die Wirklichkeit übersteigen.

Das Verfahren, mit dem schreibend und zeichnend experimentiert wurde, war das Automatische Schreiben (Écriture automatique), das spontan und ohne Einschränkungen des Bewusstseins sein sollte. In gewollter Trance und in Traumprotokollen sollten Ängste und Begierden ohne Zensur des Bewusstseins deutlich werden und Figuren ohne Erinnerung an bereits vorhandene Bilder freisetzen.