Das Wesen des Christentums/Vierte Vorlesung
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Wir haben zuletzt von der Predigt Jesu gesprochen, sofern sie Verkündigung des Reiches Gottes und seines Kommens gewesen ist. Wir haben gesehen, daß diese Verkündigung alle Aussagen und Formen durchläuft von der alttestamentlich gefärbten, prophetischen Ankündigung des Gerichtstages bis zu dem Gedanken eines jetzt beginnenden innerlichen Kommens des Reichs. Wir haben endlich zu zeigen versucht, warum die letztere Vorstellung für die übergeordnete zu halten ist. Bevor ich auf sie etwas näher eingehe, möchte ich aber noch auf zwei besonders wichtige Aussagen hinweisen, die zwischen den Polen „Gerichtstag“ und „Innerliches Kommen“ liegen.
Erstlich, das Kommen des Reiches Gottes bedeutet die Zerstörung des Reichs des Teufels und die Überwindung der Dämonen. Sie herrschen bisher; sie haben von den Menschen, ja von den Völkern Besitz genommen und zwingen sie, ihnen zu Willen zu sein. Jesus erklärt aber nicht nur, daß er gekommen sei, die Werke des Teufels zu zerstören, sondern er treibt auch thatsächlich die Dämonen aus und befreit die Menschen von ihnen.
Gestatten Sie mir hier einen kleinen Exkurs. Nichts berührt uns in den Evangelien fremder als die Dämonengeschichten, die sich so häufig in ihnen finden und auf welche die Evangelisten ein so hohes Gewicht gelegt haben. Mancher unter uns lehnt jene Schriften schon deshalb ab, weil sie solche unverständige Dinge berichten. Hier ist es nun wichtig zu wissen, daß sich ganz ähnliche Erzählungen in vielen Schriften jener Zeit finden, in griechischen, römischen und jüdischen. Die Vorstellung der „Besessen-[38] heit“ war überall eine geläufige, ja sogar die damalige Wissenschaft faßte einen großen Kreis krankhafter Erscheinungen so auf. Eben deshalb aber, weil die Erscheinungen so gedeutet wurden, daß eine böse geistige Macht von dem Menschen Besitz ergriffen habe, nahmen die Gemütskrankheiten Formen an, wie wenn wirklich ein fremdes Wesen in die Seele eingedrungen sei. Das ist nicht paradox. Gesetzt den Fall, unsere heutige Wissenschaft würde erklären, daß ein großer Teil der Nervenkrankheiten aus Besessenheit stamme, und diese Erklärung verbreitete sich durch die Zeitungen im Volke, so würden wir bald wieder zahlreiche Fälle erleben, in denen Gemütskranke wie von einem bösen Geist ergriffen zu sein scheinen und glauben. Die Theorie und der Glaube würden suggestiv wirken und „Dämonische“ genau ebenso unter den Geisteskranken erzeugen, wie sie sie Jahrhunderte, ja Jahrtausende hindurch erzeugt haben. Es ist also ungeschichtlich und thöricht, dem Evangelium und den Evangelien eine ihnen eigentümliche Vorstellung oder gar „Lehre“ von den Dämonen und den Dämonischen zuzuschreiben. Sie nehmen nur an den allgemeinen Zeitvorstellungen Teil. Heute begegnen wir diesen Formen der Geisteskrankheiten nur noch selten; ausgestorben sind sie jedoch noch nicht. Wo sie aber auftreten, ist heute noch wie damals das beste Mittel, ihnen zu begegnen, das Wort einer kräftigen Persönlichkeit. Sie vermag den „Teufel“ zu bedrohen, zu bezwingen und so den Kranken zu heilen. In Palästina müssen die „Dämonischen“ besonders zahlreich gewesen sein. Jesus erkannte in ihnen die Macht des Übels und des Bösen, und durch die wunderbare Gewalt über die Seelen derer, die ihm vertrauten, bannte er die Krankheit. Dies führt uns auf das Zweite.
Als Johannes der Täufer im Gefängnis von Zweifeln bewegt wurde, ob Jesus der sei, „der da kommen soll“[WS 1], sandte er zwei seiner Jünger zu ihm, um ihn selbst zu fragen. Nichts ergreifender als diese Frage des Täufers, nichts erhebender als die Antwort des Herrn! Doch wir wollen die Scene selbst nicht überdenken. Wie lautet die Antwort? „Gehet hin und saget dem Johannes wieder, was ihr sehet und höret; die Blinden sehen und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein und die Tauben hören, die Toten stehen auf, und den Armen wird das Evangelium gepredigt.“[WS 2] Das ist das „Kommen des Reichs“, oder vielmehr in diesem Heilandswirken ist es bereits da. An der Überwindung und Weg-[39] räumung des Elends, der Not, der Krankheit, an diesem thatsächlichen Wirken soll Johannes spüren, daß eine neue Zeit angebrochen ist. Die Heilung der Besessenen ist nur ein Teil dieser Heilandsthätigkeit; sie selbst aber hat Jesus als Sinn und Siegel seiner Mission bezeichnet. Also an die Elenden, Kranken und Armen hat er sich gerichtet; aber nicht als Moralist und ohne eine Spur weichmütiger Sentimentalität. Er teilt die Übel nicht in Fächer und Gruppen ein; er fragt nicht lange, ob der Kranke die Heilung „verdient“; er ist auch weit entfernt, mit dem Schmerze oder mit dem Tode zu sympathisieren. Er sagt nirgendwo, daß die Krankheit heilsam und das Übel gesund sei. Nein – er nennt Krankheit Krankheit und Gesundheit Gesundheit. Alles Übel, alles Elend ist ihm etwas Fürchterliches; es gehört zum großen Satansreich; aber er fühlt die Kraft des Heilandes in sich. Er weiß, daß ein Fortschritt nur möglich ist, wenn die Schwäche überwunden, die Krankheit geheilt wird.
Aber noch ist nicht das Letzte gesagt. Das Gottesreich kommt, indem er heilt; es kommt vor allem, indem er Sünde vergiebt. Hier erst ist der volle Übergang zum Begriff des Reiches Gottes als der innerlich wirkenden Kraft gegeben. Wie er die Kranken und Armen zu sich ruft, so ruft er auch die Sünder; dieser Ruf ist der entscheidende. „Der Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“[WS 3] Nun erst erscheint alles Äußerliche und blos Zukünftige abgestreift: das Individuum wird erlöst, nicht das Volk oder der Staat; neue Menschen sollen werden, und das Gottesreich ist Kraft und Ziel zugleich. Sie suchen den verborgenen Schatz im Acker und finden ihn; sie verkaufen alles und kaufen die köstliche Perle; sie kehren um und werden wie die Kinder, aber eben dadurch sind sie erlöst und werden Gotteskinder, Gotteshelden.
In diesem Zusammenhang hat Jesus von dem Reiche Gottes gesprochen, in welches man mit Gewalt eindringt, und wiederum von dem Reiche Gottes, welches so sicher und so still aufwächst wie ein Samenkorn und Frucht bringt. Es hat die Natur einer geistigen Größe, einer Macht, die in das Innere eingesenkt wird und nur von dem Innern zu erfassen ist. So kann er von diesem Reiche, obgleich es auch im Himmel ist, obgleich es mit dem Gerichtstage Gottes kommen wird, doch sagen: „Es ist nicht hier oder dort; es ist inwendig in euch.“[WS 4]
[40] Die Betrachtung des Reiches, nach der es im Heilandswirken Jesu bereits gekommen ist und kommt, ist in der Folgezeit von den Jüngern Jesu nicht festgehalten worden: man fuhr vielmehr fort, von dem Reiche als von etwas lediglich Zukünftigem zu sprechen. Aber die Sache blieb in Kraft; man stellte sie nur unter einen anderen Titel. Es ist hier ähnlich gegangen wie mit dem Begriff des „Messias“. Kaum Einer hat sich, wie wir später noch sehen werden, in der Heidenkirche die Bedeutung Jesu dadurch klar gemacht, daß er ihn als „Messias“ faßte. Aber die Sache ist nicht untergegangen.
Das, was den Kern in der Predigt vom Reiche gebildet hat, blieb bestehen. Es handelt sich um ein Dreifaches. Erstlich, daß dieses Reich etwas Überweltliches ist, eine Gabe von Oben, nicht ein Produkt des natürlichen Lebens; zweitens, daß es ein rein religiöses Gut ist – der innere Zusammenschluß mit dem lebendigen Gott; drittens, daß es das Wichtigste, ja das Entscheidende ist, was der Mensch erleben kann, daß es die ganze Sphäre seines Daseins durchdringt und beherrscht, weil die Sünde vergeben und das Elend gebrochen ist.
Dieses Reich, welches zu den Demütigen kommt und sie zu neuen, freudigen Menschen macht, erschließt erst den Sinn und den Zweck des Lebens: so hat es Jesus selbst, so haben es seine Jünger empfunden. Der Sinn des Lebens geht immer nur an einem Überweltlichen auf; denn das Ende des natürlichen Daseins ist der Tod. Ein dem Tode verhaftetes Leben aber ist sinnlos; nur durch Sophismen vermag man sich über diese Thatsache hinwegzutäuschen. Hier aber ist das Reich Gottes, das Ewige, in die Zeit eingetreten. „Das ew’ge Licht geht da herein, giebt der Welt einen neuen Schein“[WS 5]. Das ist Jesu Predigt vom Reiche Gottes. Man kann alles mit ihr in Verbindung setzen, was er sonst verkündigt hat; man vermag seine ganze „Lehre“ als Reichspredigt zu fassen. Aber noch sicherer erkennen wir sie und das Gut, welches er meint, wenn wir uns dem zweiten Kreise zuwenden, den wir in der vorigen Vorlesung bezeichnet haben, um an ihm die Grundzüge der Predigt Jesu fortschreitend kennen zu lernen.
2. Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele.
Unmittelbar und deutlich läßt sich für unser heutiges Vorstellen und Empfinden die Predigt Christi in dem Kreise der Ge-[41] danken erfassen, der durch Gott den Vater und durch die Verkündigung vom unendlichen Wert der Menschenseele bezeichnet ist. Hier kommen die Elemente zum Ausdruck, die ich als die ruhenden und die Ruhe gebenden in der Verkündigung Jesu bezeichnen möchte, und die zusammengehalten sind durch den Gedanken der Gotteskindschaft. Ich nenne sie die ruhenden im Unterschied von den impulsiven und zündenden Elementen, obgleich gerade ihnen eine besonders mächtige Kraft innewohnt. Indem man aber die ganze Verkündigung Jesu auf diese beiden Stücke zurückführen kann – Gott als der Vater, und die menschliche Seele so geadelt, daß sie sich mit ihm zusammenzuschließen vermag und zusammenschließt –, zeigt es sich, daß das Evangelium überhaupt keine positive Religion ist wie die anderen, daß es nichts Statutarisches und Partikularistisches hat, daß es also die Religion selbst ist. Es ist erhaben über allen Gegensätzen und Spannungen von Diesseits und Jenseits, Vernunft und Ekstase, Arbeit und Weltflucht, Jüdischem und Griechischem. In allen kann es regieren, und in keinem irdischen Element ist es eingeschlossen oder notwendig mit ihm behaftet. Wir wollen uns aber das Wesen der Gotteskindschaft im Sinne Jesu deutlicher machen, indem wir vier Spruchgruppen bezw. Sprüche von ihm kurz betrachten, nämlich 1. das Vater-Unser, 2. jenes Wort: „Freuet euch nicht, daß euch die Geister unterthan sind, freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel angeschrieben sind“[WS 6], 3. den Spruch: „Kauft man nicht zwei Sperlinge um einen Pfennig, und doch fällt derselben keiner auf die Erde ohne euren Vater; also sind auch eure Haare auf dem Haupte gezählt“[WS 7], 4. das Wort: „Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele“[WS 8].
Zuerst das Vater-Unser. Es ist in einer besonders feierlichen Stunde von Jesus seinen Jüngern mitgeteilt worden.[
Und der zweite Spruch – wenn Jesus sagt: „Freuet euch nicht, daß euch die Geister unterthan sind, freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel angeschrieben sind,“[WS 10] so ist auch hier mit besonderer Kräftigkeit der Gedanke hervorgehoben, daß das Bewußtsein, in Gott geborgen zu sein, in dieser Religion das Entscheidende ist. Selbst die größten Thaten, sogar die Werke, die in Kraft dieser Religion gethan werden, reichen nicht heran an die demütige und stolze Zuversicht, für Zeit und Ewigkeit unter dem väterlichen Schutze Gottes zu stehen. Noch mehr – die Echtheit,[43] ja die Wirklichkeit des religiösen Erlebnisses ist weder an der Überschwenglichkeit des Gefühls noch an sichtbaren Großthaten zu messen, sondern an der Freude und an dem Frieden, die über die Seele ausgegossen sind, welche zu sprechen vermag: „Mein Vater.“[WS 11]
Welchen Umfang hat Jesus diesem Gedanken von der väterlichen Vorsehung Gottes gegeben? Hier tritt der dritte Spruch ein: „Kauft man nicht zwei Sperlinge um einen Pfennig? Doch fällt derselben keiner auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupte alle gezählet.“[WS 12] Soweit sich die Furcht, ja soweit sich das Leben erstreckt – das Leben bis in seine letzten kleinen Äußerungen im Naturlauf – soweit soll sich die Zuversicht erstrecken: Gott sitzt im Regimente. Die Sprüche von den Sperlingen und von den Blumen des Feldes hat Er seinen Jüngern zugerufen, um ihnen die Furcht vor dem Übel und das Furchtbare des Todes zu benehmen; sie werden es lernen, die Hand des lebendigen Gottes überall im Leben und auch im Tode zu erkennen.
Endlich – und dies Wort wird uns nun nicht mehr überraschen – er hat das Höchste in Bezug auf den Wert des Menschen gesagt, indem er gesprochen: „Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“[WS 13] Wer zu dem Wesen, das Himmel und Erde regiert, mein Vater sagen darf, der ist damit über Himmel und Erde erhoben und hat selbst einen Wert, der höher ist als das Gefüge der Welt. Aber diese herrliche Zusage ist in den Ernst einer Ermahnung eingekleidet. Gabe und Aufgabe in Einem. Wie anders lehrten darüber die Griechen. Gewiß, das hohe Lied des Geistes hat schon Plato gesungen, ihn von der gesamten Welt der Erscheinung unterschieden und seinen ewigen Ursprung behauptet. Aber er meinte den erkennenden Geist, stellte ihn der stumpfen und blinden Materie gegenüber, und seine Botschaft galt den Wissenden. Jesus Christus ruft jeder armen Seele, Er ruft Allen, die Menschenantlitz tragen, zu: Ihr seid Kinder des lebendigen Gottes und nicht nur besser als viele Sperlinge, sondern wertvoller als die ganze Welt. Ich habe jüngst das Wort gelesen, der Wert des wahrhaft großen Mannes bestehe darin, daß er den Wert der ganzen Menschheit steigere. In der That, das ist die höchste Bedeutung großer Männer, sie haben den Wert der Menschheit – jener Menschheit, die aus dem dumpfen Grunde der Natur aufgestiegen ist – gesteigert,[44] d. h. fortschreitend in Kraft gesetzt. Aber erst durch Jesus Christus ist der Wert jeder einzelnen Menschenseele in die Erscheinung getreten, und das kann Niemand mehr ungeschehen machen. Man mag zu ihm selbst stehen, wie man will, die Anerkennung, daß er in der Geschichte die Menschheit auf diese Höhe gestellt hat, kann ihm Niemand versagen.
Eine Umwertung der Werte liegt dieser höchsten Wertschätzung zu Grunde. Dem, der sich seiner Güter rühmt, ruft er zu: „Du Narr.“[WS 14] Allen aber hält er vor: „Nur wer sein Leben verliert, wird es gewinnen.“[WS 15] Er kann sogar sagen: „Nur wer seine Seele haßt, wird sie bewahren.“[WS 16] Das ist die Umwertung der Werte, die vor ihm manche geahnt, deren Wahrheit sie wie durch einen Schleier geschaut, deren erlösende Kraft – ein beseligendes Geheimnis – sie vorempfunden haben. Er zuerst hat es ruhig, einfach und sicher ausgesprochen, wie wenn das eine Wahrheit wäre, die man von den Sträuchern pflücken kann. Das ist ja das Siegel seiner Eigenart, daß er das Tiefste und Entscheidende in vollkommener Einfachheit ausgesprochen hat, als könne es nicht anders sein, als sage er etwas Selbstverständliches, als rufe er nur zurück, was alle wissen, weil es im Grunde ihrer Seele lebt.
In dem Gefüge: Gott der Vater, die Vorsehung, die Kindschaft, der unendliche Wert der Menschenseele, spricht sich das ganze Evangelium aus. Wir müssen uns aber klar machen, wie paradox dies alles ist, ja, daß die Paradoxie der Religion erst hier zu ihrem vollen Ausdruck kommt. Alles Religiöse – nicht nur die Religionen – ist, gemessen an der sinnlichen Erfahrung und dem exakten Wissen, paradox; es wird hier ein Element eingeführt und für das wichtigste erklärt, welches den Sinnen gar nicht erscheint und dem Thatbestande der Dinge ins Gesicht schlägt. Aber alle andern Religionen sind irgendwie mit dem Weltlichen so verflochten, daß sie ein irdisch einleuchtendes Moment in sich tragen, bezw. dem geistigen Zustand einer bestimmten Epoche stofflich verwandt sind. Was aber kann weniger einleuchtend sein als die Rede: Eure Haare auf dem Haupte sind gezählet; ihr habt einen überweltlichen Wert, ihr könnt euch in die Hände eines Wesens befehlen, das Niemand geschaut hat. Entweder ist das eine sinnlose Rede, oder die Religion ist hier zu Ende geführt; sie ist nun nicht mehr blos eine Begleiterscheinung des sinnlichen Lebens, ein Coefficient, eine Verklärung bestimmter Teile desselben, sondern[45] sie tritt hier auf mit dem souveränen Anspruch, daß erst sie und sie allein den Urgrund und Sinn des Lebens enthüllt; sie unterwirft sich die gesamte bunte Welt der Erscheinung und trotzt ihr, wenn sie sich als die allein wirkliche behaupten will. Sie bringt nur eine Erfahrung, aber läßt in ihr ein neues Weltbild entstehen: das Ewige tritt ein, das Zeitliche wird Mittel zum Zweck, der Mensch gehört auf die Seite des Ewigen. Dies ist jedenfalls Jesu Meinung gewesen; ihr irgend etwas abziehen, heißt sie bereits zerstören. Indem er den Vorsehungs-Gedanken lückenlos über Menschheit und Welt ausbreitet, indem er die Wurzeln jener in die Ewigkeit zurückführt, indem er die Gotteskindschaft als Gabe und Aufgabe verkündigt, hat er die tastenden und stammelnden Versuche der Religion in Kraft gefaßt und zum Abschluß gebracht. Noch einmal sei es gesagt: Man mag sich zu ihm, man mag sich zu seiner Botschaft stellen wie man will, gewiß ist, daß sich von nun an der Wert unseres Geschlechts gesteigert hat; Menschenleben, wir selbst sind einer dem andern teurer geworden. Wirkliche Ehrfurcht vor dem Menschlichen ist, ob sie’s weiß oder nicht, die praktische Anerkennung Gottes als des Vaters.
3. Die bessere Gerechtigkeit und das Gebot der Liebe – dies ist der dritte Kreis und das ganze Evangelium kann in diesen Ring gefaßt werden; man kann es als eine ethische Botschaft darstellen, ohne es zu entwerten. In seinem Volke fand Jesus eine reiche und tiefe Ethik vor. Es ist nicht richtig, die pharisäische Moral lediglich nach kasuistischen und läppischen Erscheinungen zu beurteilen, die sie aufweist. Durch die Verflechtung mit dem Kultus und die Versteinerung im Ritual war die Moral der Heiligkeit gewiß geradezu in ihr Gegenteil verwandelt, aber noch war nicht alles hart und tot geworden, noch war in der Tiefe des Systems etwas Lebendiges vorhanden. Den Fragenden konnte Jesus antworten: „Ihr habt das Gesetz, haltet es; ihr wißt selbst am besten, was ihr zu thun habt, die Hauptsumme des Gesetzes ist, wie ihr selbst sagt, die Gottes- und die Nächstenliebe.“[WS 17] Dennoch kann man das Evangelium Jesu in einem ihm eigentümlichen Kreise ethischer Gedanken zum Ausdruck bringen. Wir wollen uns das an vier Punkten klar machen.
Erstlich, Jesus löste mit scharfem Schnitte die Verbindung der Ethik mit dem äußeren Kultus und den technisch-religiösen Übungen. Er wollte von dem tendenziösen und eigensüchtigen Betriebe „guter[46] Werke“ in Verflechtung mit dem gottesdienstlichen Ritual schlechterdings nichts mehr wissen. Entrüsteten Spott hat er für diejenigen, die den Nächsten, ja ihre Eltern darben lassen, aber dafür an den Tempel Geschenke schicken. Hier kennt er keinen Kompromiß. Die Liebe, die Barmherzigkeit hat ihren Zweck in sich; sie wird entwertet und geschändet, wenn sie etwas anderes als Dienst am Nächsten sein soll.
Zweitens, er geht überall in den sittlichen Fragen auf die Wurzel, d. h. auf die Gesinnung zurück. Das, was er „bessere Gerechtigkeit“[WS 18] nennt, ist lediglich von hier aus zu verstehen. Die „bessere“ Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit, welche bestehen bleibt, auch wenn man den Maßstab in die Tiefe des Herzens senkt. Wieder scheinbar etwas sehr Einfaches, Selbstverständliches. Dennoch hat er diese Wahrheit in die scharfe Form gekleidet: „Zu den Alten ist gesagt worden .... Ich aber sage euch.“[WS 19] Also war es doch ein Neues; also wußte er, daß es mit solcher Konsequenz und Souveränetät noch nicht ausgesprochen worden war. Einen großen Teil der sogenannten Bergpredigt nimmt jene Verkündigung ein, in welcher er die einzelnen großen Gebiete menschlicher Beziehungen und menschlicher Verfehlungen durchgeht, um überall die Gesinnung aufzudecken, die Werke nach ihr zu beurteilen und Himmel und Hölle an sie zu knüpfen.
Drittens, er führt Alles, was er aus der Verflechtung mit dem Eigensüchtigen und Rituellen befreit und als das Sittliche erkannt hat, auf eine Wurzel und auf ein Motiv zurück, – die Liebe. Ein anderes kennt er nicht, und die Liebe ist selbst nur eine, mag sie als Nächsten-, Samariter- oder Feindesliebe erscheinen. Sie soll die Seele ganz erfüllen; sie ist das, was bleibt, wenn die Seele sich selber stirbt. In diesem Sinne ist die Liebe bereits das neue Leben. Immer aber ist es die Liebe, die da dient; nur in dieser Funktion ist sie vorhanden und lebendig.
Viertens, wir haben gesehen, Jesus hat das Sittliche herausgeführt aus allen ihm fremden Verbindungen, selbst aus der Verknüpfung mit der öffentlichen Religion. Die haben ihn also nicht mißverstanden, die da erklärten, es handle sich im Evangelium um die gemeine Moral. Und doch – einen entscheidenden Punkt giebt es, an welchem er die Religion und die Moral zusammenbindet. Dieser Punkt will empfunden sein; er läßt sich nicht leicht fassen. Im Hinblick auf die Seligpreisungen darf man ihn viel-[47] leicht am besten als die Demut bezeichnen: Demut und Liebe hat Jesus in ein Eins gesetzt. Demut ist keine einzelne Tugend, sondern sie ist reine Empfänglichkeit, Ausdruck innerer Bedürftigkeit, Bitte um Gottes Gnade und Vergebung, also Aufgeschlossenheit gegenüber Gott. Von dieser Demut, welche die Gottesliebe ist, die wir zu leisten vermögen, meint Jesus – denken Sie an das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner –, daß sie die stetige Stimmung des Guten ist, und daß aus ihr alles Gute quillt und wächst. „Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern“[WS 20], das ist das Gebet der Demut und der Liebe zugleich. Also hat auch die Liebe zum Nächsten hier ihren Quellpunkt; die Geistlich-Armen und die Hungernden und Dürstenden sind auch die Friedfertigen und Barmherzigen.
In diesem Sinne ist Moral und Religion durch Jesus verknüpft worden; in diesem Sinne kann man die Religion die Seele der Moral und die Moral den Körper der Religion nennen. Von hier aus versteht man, wie Jesus Gottes- und Nächstenliebe bis zur Identifizierung aneinanderrücken konnte: die Nächstenliebe ist auf Erden die einzige Bethätigung der in der Demut lebendigen Gottesliebe.
Indem Jesus seine Predigt von der besseren Gerechtigkeit und dem neuen Gebot der Liebe in diesen vier Hauptgedanken zum Ausdruck gebracht hat, hat er den Kreis des Ethischen in einer Weise umschrieben, wie ihn noch Niemand vor ihm umschrieben hatte. Wenn sich uns aber zu verdunkeln droht, was er gemeint hat, so wollen wir uns immer wieder in die Seligpreisungen der Bergpredigt versenken. Sie enthalten seine Ethik und seine Religion, in der Wurzel verbunden und von allem Äußerlichen und Partikularen befreit.
Anmerkungen des Autors (1908)
- ↑ Ob Lukas den Anlaß der Mitteilung des Vater-Unsers richtig wiedergegeben hat, ist mindestens zweifelhaft (s. meine Abhandlung über das Vater-Unser in den Sitzungsberichten der Preuß. Akad. d. Wiss., 21. Jan. 1904). Auch hat die ursprüngliche Form des Gebets wahrscheinlich nur die Anrede und die 4., 5. und 6. Bitte enthalten, und das übrige (bei Lukas und Matthäus verschieden) sind Zusätze der Gemeinde (a. a. O.). Aber auch diese Zusätze sind aus der Verkündigung Jesu geflossen und lehren uns seine Art des Gebets; ja unsere Anschauung ist durch die Kritik eine reichere geworden, weil diese uns auch den Reflex des Gebetes Jesu in seinem Jüngerkreise zeigt. Immerhin ist hiernach einiges im Texte S. 42 Gesagte zu berichtigen.
- ↑ „die Seele mit ihrem Gott allein“ – dies bleibt bestehen, obgleich das Gebet im Plural gefaßt ist.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Mt 11,3.
- ↑ Mt 11,4-5.
- ↑ Lk 19,10.
- ↑ Lk 17,21.
- ↑ Martin Luther, Gelobet seist du Jesu Christ (EG 23,4).
- ↑ Lk 10,20.
- ↑ Mt 10,29f.
- ↑ Mt 16,26.
- ↑ Mt 6,33.
- ↑ Lk 10,20.
- ↑ Mt 26,39.42.
- ↑ Mt 10,29.
- ↑ Mt 16,26.
- ↑ Lk 12,20.
- ↑ Mt 10,31.
- ↑ Joh 12,25b.
- ↑ Vgl. Mt 22,34-40.
- ↑ Mt 5,20.
- ↑ Mt 5,21.27-28.33-34.
- ↑ Mt 6,12.
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