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Ruben A. Bühner: Paulus im Kontext des Diasporajudentum – AfeT
Neues Testament

Ruben A. Bühner: Paulus im Kontext des Diasporajudentum

Ruben A. Bühner: Paulus im Kontext des Diasporajudentum, WUNT I/551, Tübingen: Mohr Siebeck, 2023, 435 S., € 159, –, ISBN 978-3-16-162749-1


Ruben A. Bühner veröffentlicht mit „Paulus im Kontext des Diasporajudentums“ seine Habilitationsschrift, die 2023 von der Theologischen Fakultät der Universität Zürich angenommen wurde. Die Studie möchte der Kontinuität jüdischer Lebensweise christusgläubiger Juden in den paulinischen Briefen nachspüren. In diesem Zusammenhang will der Autor sich auf das „Paul within Judaism“-Paradigma beziehen, wobei wesentliche Grundannahmen übernommen und gleichzeitig überprüft, präzisiert bzw. modifiziert werden sollen. Der Unterschied zu vorherigen Untersuchungen bestehe darin, dem diasporajüdischen Kontext, in dem Paulus und seine Briefe zu verorten seien, mehr Beachtung zu schenken (2).

Diesem Unterfangen widmet sich Bühner in drei Schritten: Ein kurzer Forschungsüberblick (Kap. 2), die Erörterung des diasporajüdischen Kontextes mit Blick auf die Interaktion von Juden und Nichtjuden (Kap. 3) und eine Untersuchung jüdischer Lebensweise christusgläubiger Juden in den paulinischen Briefen (Kap. 4). Abgerundet wird die Studie durch eine Synthese der Ergebnisse (Kap 5.).

Der Forschungsüberblick zeichnet zunächst die Entwicklung zum „Paul within Judaism“-Paradigma anhand einiger Vorläufer nach (14–20). Daraufhin werden Gesamtentwürfe aktueller Vertreter untersucht, die ein gewisses Spektrum innerhalb des „Paul within Judaism“-Paradigmas abbilden. Hierfür werden die Entwürfe von Paula Fredriksen (23–34), Mark D. Nanos (35–45), Magnus Zetterholm (46–54) und Caroline J. Hodge (55–63) im „Paul within Judaism“-Diskurs eingeordnet. Die jeweiligen Gesamtentwürfe werden im Anschluss auf ihre Sicht zur judenchristlichen Existenz und Lebensweise befragt. Dabei sei zu bemerken, dass jeder Vertreter die diasporajüdischen Verhältnisse unterschiedlich konstruiere. Obgleich dem diasporajüdischen Kontext erhebliches argumentatives Gewicht zukomme, werde dieser von den Vertretern kaum thematisiert (66f).

Ausgehend von diesem Fazit fährt der Autor mit der Untersuchung des diasporajüdischen Kontextes fort. Nachdem Bühner durch die komplexe Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Ethnizität und Identität im antiken Kontext zu einem differenzierten Modell der „situationsabhängigen Ethnizität“ kommt (92f), werden verschiedene Quellen hinzugezogen. Die Quellen griechisch-römischer Autoren werden kurz umrissen, wobei ihnen aufgrund des polemischen Einschlags kaum Relevanz zuzusprechen sei (95ff). Das Hauptaugenmerk der Studie liegt hingegen auf den Beschreibungen von Tischgemeinschaften in Diasporanovellen des antiken Judentums (98–172) sowie bei Philo (173ff), Josephus (177ff) und in urkundlichen Zeugnissen (181–226). Die Ergebnisse werden anschließend zusammengefasst, was auf die nachfolgende Darstellung jüdischer Lebensweisen christusgläubiger Juden innerhalb der paulinischen Briefe vorbereitet. Gerade in diesem Abschnitt zeigt sich Bühners Expertise in Bezug auf die Zeitgeschichte des antiken Judentums. Durch eine akribische Untersuchung einer Vielzahl von Quellen gelangt der Autor zu der Annahme, dass sich das Diasporajudentum nicht als oft postuliertes „Judentum light“ verstehen lasse, „[s]ondern umgekehrt zeigen die hier untersuchten literarischen Texte gerade durch die komplexe Bearbeitung des Gegenstandes ein intensives und ernsthaftes halachisches Ringen – auch und gerade in der Diaspora“ (233).

Im Untersuchungsteil zu den paulinischen Briefen fokussiert Bühner vor allem auf 1Kor 9,19–23 (245–301), den antiochenischen Zwischenfall in Gal 2 (302–356) und 2Kor 11,24 (357–368). In den jeweiligen Abschnitten gelingt es dem Autor die Lesarten, die sich innerhalb des „Paul within Judaism“-Paradigmas zu etablieren scheinen, infrage zu stellen bzw. zu präzisieren. Es fällt auf, dass sich durch Bühners Betrachtung, die die Texte mit einem Bewusstsein für die Interaktion von Juden und Nichtjuden im Diasporakontext versteht, eine vermittelnde Deutung entwickelt, die einseitige Interpretationen zu überwinden versucht.

Dies zeigt sich exemplarisch an Bühners Untersuchung von Gal 2. Während „klassische“ Paulusausleger in der beschriebenen Auseinandersetzung eine eindeutige Diskontinuität zur jüdischen Lebensweise des Paulus sehen, konstatiert Bühner, dass sich in der Begründung des Evangeliums Kontinuität und Diskontinuität verbinden ließen (vgl. auch das Fazit 353f). Darüber hinaus zeichnet sich dieser Abschnitt dadurch aus, dass die einzelnen Texte nicht nur „für sich“ untersucht, sondern auch vergleichend in Beziehung zueinander gesetzt werden. In diesem Zusammenhang eröffnet der Vergleich der Begründungsstrukturen von 1Kor 9 und Gal 2 neue Einsichten zum Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität jüdischer Lebensweise in den Augen des Paulus (355ff).

Die Studie schließt mit einer Synthese. Hier gelangt Bühner zu einer nuancierten Neubetrachtung der jüdischen Identität des Paulus. Seine Beurteilung gehen dabei über das Verständnis von „Paul within Judaism“ hinaus, indem das ganze Spektrum jüdischer Lebensweise bei dem Versuch Paulus zu verorten, berücksichtigt werde. Insofern wäre es, nach Bühners Beurteilung, unzureichend, Paulus eine Dichotomie von „innerhalb“ und „außerhalb“ aufzuzwingen (371ff). Somit gelangt der Autor zu einer differenzierten Beschreibung der paulinischen Identität im Sinne einer „nested identity“, wobei die vorchristliche Identität des Paulus durch seine Hinwendung zu Christus nicht abgelegt, sondern erweitert werde (382f).

Ruben Bühner liefert mit dieser Monographie einen beeindruckenden Forschungsbeitrag, der dazu einlädt, dass paulinische Verständnis von Identität erneut und vor allem differenziert in der Welt des antiken Judentums zu verorten. Ebenfalls gelingt es ihm die „Kluft“ zwischen dem englischsprachigen Diskurs und der deutschsprachigen Paulusforschung zu überwinden. Dies macht Hoffnung auf mehr Rezeption und Interaktion zwischen zwei Forschungsfeldern, die heutzutage noch zu oft im stillen Nebeneinander verharren.

Kritisch wäre anzufragen, weshalb die Selbstdarstellung des Paulus in Philipper 3 beinahe ausgeklammert wird. Gerade mit Blick auf Reflexion der paulinischen Sicht auf seine eigene Identität und Zugehörigkeit zum Judentum wäre eine Auseinandersetzung mit dem besagten Text wünschenswert, sowie vielversprechend. Zudem ließe sich diskutierten, ob angesichts der neutestamentlichen Auslegungsgeschichte die verwendete Bezeichnung „Frühjudentum“ sinnvoll ist. Hier wäre m. E. eine kurze Diskussion der Terminologie hilfreich.

Dennoch liefert das Werk eine in jedem Sinne beachtliche Studie zur „Paul within Judaism“-Debatte, die nicht nur spannende und erfrischende Impulse für die Paulusforschung setzt, sondern das Eintauchen in die Lebensweise christusgläubiger Juden in der Antike ermöglicht.


Simeon Redinger, M.A., wissenschaftliche Hilfskraft bei Jun.-Prof. Dr. Jan Rüggemeier an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn