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Italien bis 1914 Konflikt und Friedensforschung
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I.a) Die innenpolitische Situation des Landes

Am 17. März 1861 wählte das Turiner Parlament Viktor Emanuele II. einstimmig zum "König von Italien". 46 Jahre waren vergangen seit Napoleon das Regno d'Italia hatte aufgeben müssen. Das halbe Jahrhundert nach dem Wiener Kongreß war für die italienische Halbinsel geprägt durch die Restauration der Habsburger in Norditalien, durch das Regime der Bourbonen in Süditalien, der Herrschaft der Päpste im Kirchenstaat, revolutionären Geheimbünden und Volksaufständen. Nur dem Königshaus Savoyen gelang es in dieser Zeit, sich von der antinationalen metternichschen Politik abzuheben, und die Rolle eines nationalen Vorkämpfers für sich in Anspruch zu nehmen. Venetien fiel 1866, in dem im nationalen Sprachgebrauch als dritter Unabhängigkeitskrieg bezeichneten Krieg, an Italien. Die Schlachten hatten die Italiener verloren, den Krieg aber mit preußischer Hilfe und durchdachter Diplomatie gewonnen. Auch 1870 profitierte Italien von den preußischen Erfolgen. Nach der verheerenden Niederlage von Sedan waren die französischen Besatzungstruppen gezwungen, Rom zu verlassen, um die Republik gegen die Preußen zu verteidigen. Am 20. September 1870 marschierten italienische Verbände unter Befehl des königlichen Generals Cadorna in Rom ein. Die Eroberung Roms und die Konstituierung der Ewigen Stadt als Hauptstadt, begründeten den neuen italienischen Nationalstaat. Die letzte große Tat des Risorgimento wurde von königlichen Soldaten vollbracht, nicht jedoch von radikalen Republikanern.

Papst Pius IX exkommunizierte alle an der Annexion des Patrimonium Petri Beteiligten und bezeichnete sich selber als "Gefangenen im Vatikan". Das italienische Volk unterstütze die nationale Politik, mit der sich der entstandene italienische Nationalstaat für die kommenden Jahrzehnte mit dem Papst und dessen Schutzmacht Frankreich in Gegensatz setzen sollte, und am 11. Oktober bestätigte eine Volksabstimmung die Vereinigung des zur Hauptstadt bestimmten Roms, bzw. des Patrimonium Petri, mit dem Königreich Italien . Im Sommer 1870 wurde der Regierungssitz von Florenz nach Rom verlegt. Der Aufbau des italienischen Nationalstaates wurde nun, nach der Annexion Roms, weiter geführt. Der Weg der Parlamentarisierung der Monarchie und der Aufbau eines zentralistischen Verwaltungsapparates nach französischem Vorbild wurden weiter beschritten. Der enorme Finanzbedarf für diese Vorhaben, sowie zur Tilgung der Schulden, die Piemont-Sardienien für die Kriegsführung hatte aufnehmen müssen, wurde durch die Erhebung neuer Steuern gedeckt. Die Bevölkerung empfand vornehmlich die neue Mahlsteuer als bedrückend. Die Maßnahmen, die sich gegen die weltliche Macht des katholischen Klerus richteten, wie z.B. der Verkauf von kirchlichen Grundbesitz und die erzwungene Auflösung von Orden und Klostergemeinschaften, belasteten neben der gewaltsamen Annexion des Kirchenstaates das Verhältnis zum Papst derart, daß dieser sich bereits seit dem 20. September 1870 "als Gefangener im Vatikan" bezeichnete . Die Regierung Giovanni Lanza (1869-1873) blieb während dieser Ereignisse im Amt und regierte das Land im Sinne des Grafen Camillo Benso die Cavour. Das Interesse der neuen europäischen Macht Italien von den anderen europäischen Mächten anerkannt zu werden, führte zu einer Beruhigung der eigenen Innen- und Außenpolitik. Das "Garantiegesetz" vom 13. März 1871 sollte die, durch die Zerschlagung des Kirchenstaates erregten, Gemüter der Katholiken beschwichtigen. Der Person des Papstes wurden der garantierte Besitz und die Immunität der apostolischen Paläste und der Villa Castel Gandolfo, eine Dotation von 3.225.000 Lire und dem Papst, bzw. dem hl. Stuhl, Heiligkeit und Unverletzlichkeit zugesichert. Weiterhin wurden die Beziehungen zwischen Staat und Kirche geregelt. Der Staat verzichtete im Interesse einer Annäherung an die Kirche, auf die Ernennung von Bischöfen und auf deren Treueid. Trotz der heftigen Kritik der Linken und der uneinsichtigen Haltung des Papstes erwiesen sich die Garantiegesetze als brauchbares Instrument der Stabilisierung. Denn die einseitige Anerkennung des hl. Stuhles durch den Staat, nahm klerikalen Kritikern den Wind aus den Segeln. Das Verhältnis zu den katholischen Nationen Europas, besonders Frankreich, sollte dennoch für Jahre hinweg belastet bleiben.

Innenpolitisch geriet die Regierung der "liberalen Rechten" immer mehr unter Druck, besonders die hohe Steuerlast empörte große Teile der Bevölkerung. Finanzminister Sella suchte mit drastischen Sparmaßnahmen das pareggio zu erreichen. 1873 stürzten Sella und Lanza über die beabsichtigte Erhöhung der Stempelsteuer und Minghetti wurde Lanzas Nachfolger. Aber auch Minghetti gelang es nicht dem Volk die harte Wirtschaftspolitik näher zu bringen. Am 18. März 1876 stürzte die "historische Rechte" (Destra Storica) in der parlamentarischen Revolution und der König beauftragte Agostino Depretis mit der Bildung eines neuen Kabinetts. Die Linksrutschwahlen im selben Monat verstärkten den Drang zur Parlamentarisierung. Die Linke verfügte über die größte Zahl von Anhängern im industriell unterentwickelten Süden. Der Einfluß Mazzinis war noch vorhanden, und das Programm der Linken entsprach der demokratischen Tradition. Das aktive Stimmrecht war beschränkt auf Männer und mit einem gewissen Vermögen verbunden, d.h. es gab kein allgemeines und gleiches Wahlrecht. Depretis Politik wurde seit der Wahlreform zunehmend konservativer und führte zu einer Teilung der Linken in zwei Fraktionen. Eine geführt von Depretis, die andere von Benedetto Cairoli. Das am 29. Juni 1881 von der Kammer erlassene Wahlgesetz erhöhte die Zahl der Wahlberechtigten von 600.000 auf knapp 2,5 Millionen . Die massive Erhöhung des Stimmvolkes brachte bei der nächsten Wahl der extremen Linken, Sozialisten und Republikaner, den Erfolg. Cairoli konnte sich nicht lange im Amt halten und stürzte über den Erwerb Tunesiens durch Frankreich. In den 80er Jahren prägte Depretis den Begriff des trasformismo, mit dem die vorläufige Beendigung der Reformen und der Interessenausgleich, der im Parlament vertretenen gemäßigten Gruppen gemeint war. Erreicht wurde die Zusammenarbeit im Parlament durch Absprachen und wohl auch durch Manipulation. Depretis strebte eine von praktischen Gesichtspunkten geleitete Politik an. So wurde die Mahlsteuer 1880 gesenkt und 1884 abgeschafft. Das finanzielle Defizit mußte aber durch neue indirekte Steuern refinanziert werden. Mit dem heutigen Verständnis politischer Parteien können die politischen Gruppierungen der italienischen Politik nicht erfasst werden. Die italienischen Parteien glichen losen Gefolgschaftsgruppen, die eine erfolgreiche Politikerpersönlichkeit in Form einer Clientel um sich scharte. Dieses System hatte einerseits den Vorteil, daß ein erfolgreicher Politiker keinen starken Zwängen aus seiner Partei oder Fraktion ausgesetzt war. Verließ einen Politiker aber der Erfolg, so war sein politisches Ende gewöhnlich nahe, denn er konnte sich nicht auf den Rückhalt einer organisierten Basis oder Fraktion verlassen. Gegen Ende der 70er Jahre entwickelte sich auf dem linken politischen Spektrum, aus der nie ganz verschwundenen mazzianisch geprägten Tradition, der Irredentismus. Der Irredentismus richtete sich in seinen Anfängen nicht nur gegen den Vielvölkerstaat Österreich, sondern auch gegen die italienische Monarchie. Die 1876 an die Macht gelangte Linke (Sinistra) lehnte den irredentistischen Radikalismus als Gefahr für die innere und äußere Sicherheit des Landes ab.

Das achte Kabinett Depretis wurde mit Crispi als Innenminister gebildet. Crispis Ruf als starker Mann sollte die öffentliche Empörung nach der Niederlage von Dogali besänftigen. Agostino Depretis starb im Juli 1887. Francesco Crispi folgte ihm im Amt des Ministerpräsidenten. Crispi versuchte innenpolitisch die Exekutive gegenüber der Legislative zu stärken, so wurde die Sicherheitsgesetzgebung zugunsten der Polizeibehörden verschärft und deren Spielräume erweitert. Zudem gelang es Crispi durch ein Dekret von 1887 seine Macht als Ministerpräsident auszuweiten. Crispis Machtanspruch gipfelte in der Vereinigung der Ämter des Außen- und Innenministers in einer Person. Im Februar 1891 führte eine sehr aufgebrachte Rede zu seinem Sturz.

Crispis Nachfolger Di Rudinì bemühte sich um eine zurückhaltendere Politik. Er strebte die Wiederannäherung an Frankreich und eine bescheidenere Finanzpolitik an. Es gelang ihm jedoch nicht, eine ausreichende Mehrheit der Parlamentarier für sich zu gewinnen. Nach Di Rudinìs Sturz im Mai 1892 übernahm Giovanni Giolitti das Amt des Ministerpräsidenten. Giovanni Giolitti war wie Cavour Piemontese, und er trachtete danach, Italien nach dem Abbild Piemonts zu formen. Der Weg sollte über eine politische Erneuerung und Stärkung des Landes durch größere Beteiligung der Bürger und auch der unteren sozialen Bevölkerungsschichten am ökonomischen und politischen Fortschritt führen. Die erste Regierung Giolitti dauerte allerdings nur 18 Monate. In diese 18 Monate fiel der Bankenskandal, der sich allerdings schon unter Crispi abzeichnete. Giolitti wurde in den Strudel dieses Skandals hineingezogen und reichte im November 1893 seinen Rücktritt ein. Obwohl Crispi nicht weniger als Giolitti in den Skandal verwickelt war, schien er über die notwendige Autorität zu verfügen, um mit der Krise, die inzwischen durch soziale Spannungen und revolutionäre Aktivitäten, u. a. der sizilianischen Fasci, verschärft worden war, fertig zu werden. Crispi griff mit aller Härte durch und erstickte die sozialen Unruhen mit Gewalt. Auch das Parlament bekam den autoritären Führungsstil Crispis zu spüren, in den Jahren 1894 und 1895 kam es nur zu sehr kurzen Sitzungen. Bestärkt durch das gute Ergebnis der Wahlen von 1895, die allerdings manipuliert worden sein sollen, richtete er sein Augenmerk nach Afrika und verstärkte die militärische Präsenz in Abessinien. Die totale Niederlage am 01. März 1896 bei Adua bedeutete sein politisches Ende. Crispi mußte seinen Rücktritt einreichen, ohne Hoffnung auf Wiederkehr auf die politische Bühne. Das Clientelsystem wurde auch Crispi zum Verhängnis, er verlor nach der Niederlage von Adua mit einem Schlag die Unterstützung seiner Gefolgsleute und wurde gestürzt.

1882 wurde die italienische Arbeiterpartei, die Partito operaio italiano, gegründet. Doch bereits vier Jahre später, 1886, wurde sie von Depretis aufgelöst. Seit 1891 setzten Arbeiterkammern, die Camere del lavoro, die Arbeit der Partito operaio italiano fort. In Süditalien und Sizilien organisierte sich in den 90er Jahren die Landarbeiterbewegung der Fasci. Im August 1892 wurde auf einem Kongreß in Genua die Partei der italienischen Arbeiter (Partito dei lavatori italiani) gegründet. Kurze Zeit später wurde der Name in Partito socialista dei lavatori italiani und dann in Partito socialista italiano (PSI) geändert . Die italienischen Sozialisten profitierten von der Gegnerschaft Crispis. Da Crispi sie als seine Gegner bekämpfte, gelang es ihnen, sich durch eben diese Gegnerschaft zu profilieren. Nach der Wahl von 1895 schickten die Sozialisten 15 Abgeordnete ins Parlament. Die Wahl 1900 brachte der Partei 32 Sitze in der Kammer ein, und 1919 wurde die PSI die stärkste Fraktion im Parlament mit 156 von 508 Sitzen.

Papst Pius IX blieb, bis zu seinem Lebensende, starr bei seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem neuen Italien, welches den Kirchenstaat zerschlagen hatte. Bereits 1868 wies er die italienischen Katholiken mit dem "Non expedit" an, auf eine aktive Mitarbeit im Staat, bzw. bei den Parlamentswahlen zu verzichten. Wahlen auf kommunaler Ebene waren von diesem Verbot jedoch nicht betroffen. In der Folgezeit begannen sich lokale katholische Organisationen zu bilden. Diese Verbände leisteten Sozialarbeit und direkte Hilfe besonders im ländlichen Bereich. Papst Leos XIII Enzyklika "Rerum novarum" (1891) wurde gegensätzlich gedeutet. Die Intransigenten, d.h. Katholiken, die jede Zusammenarbeit mit und für den Staat ablehnten, verneinten z.B. auch die Notwendigkeit von Gewerkschaften. Eine andere Gruppe schloß sich um den Priester Romulo Murri zusammen und trat für eine größere soziale Anteilnahme ein, welche aber als Mittel im Kampf gegen den gottlosen Sozialismus verstanden wurde. Diese Gruppe erhielt den Namen democratici cristiani. In den Jahren 1898-1902 leisteten die von Murri geführten Katholiken eine hervorragende Öffentlichkeitsarbeit. In Sizilien hatte ein junger Priester namens Luigi Sturzo mit seiner Arbeit großen Erfolg. Der hl. Stuhl war von diesem Fortschritt jedoch nicht angetan. 1904 wurde dem politischen Katholizismus die weitere Arbeit untersagt. Erst Papst Pius X, erschrocken über die Wahlerfolge der Sozialisten, unterstützte den politischen Katholizismus. Die Katholiken wurden angewiesen, bei den Wahlen im Juni 1905, mit den traditionellen Kräften, gegen den Sozialismus zu stimmen. Nach dem Sturz Crispis war Italien innenpolitisch für geraume Zeit paralysiert und handlungsunfähig. Der Marquis Di Rudinì übernahm erneut die Regierungsgeschäfte und setzte eine konservative Innenpolitik durch. Demonstrationen, Revolten und Aufstände, hervorgerufen durch die hohen Lebenshaltungskosten, wurden 1898 teilweise mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Konflikte zwischen den Ministern und die Weigerung des Königs Neuwahlen auszuschreiben, führten zu Di Rudinìs Sturz. Um die Wogen zu glätten wurde eine Regierung der "historischen Linken" um Depretis installiert, der indes der General Pelloux vorstand. Für einen kurzen Augenblick kehrte wieder Ruhe ein. Anfang Februar 1899 legte der General Pelloux einen Gesetzesentwurf vor, welcher wenn er die Kammer passiert hätte, das Ende des liberalen Staates bedeutet hätte. Die linken und liberalen Kräfte des Landes lieferten dem General so lange Widerstand, bis ihm kein anderer Ausweg blieb, als Neuwahlen auszuschreiben. Die Wahlen waren ein großer Erfolg für die linken und liberalen Kräfte des Landes. Pelloux trat zurück und eine neue Regierung unter Saracco wurde gebildet. Nachdem die Normalität zurückgekehrt schien, wurde Italien durch das tödliche Attentat vom 29. Juli 1900 auf König Umberto erschüttert. Augenblicklich geriet Saracco nun zwischen die Fronten. Die Rechte machte ihm Untätigkeit zum Vorwurf, die Linke warf ihm Willkür vor. Saracco trat zurück. Zu seinem Nachfolger ernannte König Umbertos Nachfolger, Vittorio Emanuelle III, den Vertreter der konstitunionellen Linken Emanuelle Zanardelli, Innenminister wurde Giovanni Giolitti.

Giolitti war es gelungen, sich während der beiden Streikjahre 1901 und 1902 zu profilieren. Er bemühte sich, den Staat als neutrale Instanz erscheinen zu lassen. Giolitti strebte für das Ziel der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Italiens einen Konsens zwischen dem liberalen Bürgertum und den gemäßigten Sozialisten an. Die einen sollten erkennen, daß soziale Entwicklung und höhere Kaufkraft Vorteile für sie bedeuteten, und die anderen sollten, um den Aufstieg breiter Massen nicht zu gefährden, ihre revolutionäre Klientel im Zaume halten . Doch schon im Sommer 1902 endete diese Politik der vorsichtigen Annäherung am wirtschaftlichen Abschwung und dem Widerstand der Agrarier und Teile der Industriellen.

Dessenungeachtet, mit der starken Persönlichkeit Giovanni Giolittis, begann erneut eine aktive Innenpolitik. Die Überwindung der Wirtschaftskrise, der Jahre von 1902 bis 1905, erlaubte Giolitti die Rückkehr zur Politik des sozialen Ausgleichs. Italien erlebte einen Höhepunkt der bürgerlichen Kultur - der Italietta . Doch gelang es den Regierenden nicht, trotz ehrlicher Versuche, die sozialen Probleme zu lösen. So konnte auch der Strom der Auswanderung nicht gebremst werden. Besonders das Problem des wirtschaftlich unterentwickelten Südens trug zu dieser Negativ-Bilanz bei.

Die Südfrage (Questione Meridionale) wurde schon bald nach dem Abschluß des Risorgimento gestellt. Das wirtschaftliche Übergewicht des Nordens und der hohe Steuerdruck führten zu einer wachsenden Verarmung, und zu einer Abwanderung des produktiven Kapitals in den Norden. Die wirtschaftliche Benachteiligung des Südens wurde durch die Einheit des Landes nicht gelöst, sondern verschärft, insbesondere die Schutzzollpolitik trug zu dieser Entwicklung bei. Die Vorschläge, die zur ökonomischen und gesellschaftlichen Weiterentwicklung des südlichen Italien gemacht wurden und werden, waren und sind bis heute, jedoch gegensätzlich. 1910 tagte in Florenz der erste Kongreß der Nationalisten. Die Nationalisten empfanden die wenigen Jahre des wirtschaftlichen und sozialen Aufschwungs, der Italietta, als Schmach, da keine "nationalen" Erfolge errungen wurden. Schon im Verlauf dieses Kongresses wurden Stimmen laut, die die Annexion Libyens forderten. Giolittis Politik der Integration wurde von den Nationalisten scharf abgelehnt. Mit sozialdarwinistischen und antiparlamentarischen Parolen gelang es ihnen, weite Kreise des Bürgertums für sich zu gewinnen. Die Lösung der innenpolitischen Probleme strebten sie durch Autoritarismus, Kämpfertum und Aggression nach Außen an. Der Irredentismus, den Crispi wie Giolitti 20 Jahre so gut wie möglich unter Kontrolle gehalten hatten, ging nun eine explosive Mischung mit dem Nationalismus und dem Imperialismus ein. Dichter und Intellektuelle ließen sich vom französischen Nationalismus begeistern und rissen große Teile der bürgerlichen Jugend mit sich. Das bekannteste Aushängeschild war der Dichter D'Annunzio. Giovanni Giolitti war in den folgenden Jahren, mit Unterbrechungen, bis zum Weltkrieg Regierungschef. Die andere große Erscheinung, der italienischen Politik zu Beginn dieses Jahrhunderts, war Baron Sidney Sonnino. Giovanni Giolitti setzte während seiner Regierungszeit wichtige Neuerungen auf dem Gebiet der staatlichen Sozialfürsorge durch: 1. Die gesetzliche Sonntagsruhe, 2. die Überwachung der Frauen- und Kinderarbeit, 3. die Abschaffung der Nachtarbeit der Bäcker, 4. die Verbesserung der Altersversorgung, 5. die Wahlreform von 1912, die die Zahl der Wähler von 3,5 Millionen auf 8 Millionen erhöhte . Das italienische Volk wurde von Giolitti durch diese Reformen näher an den Staat herangeführt, und die Beteiligung größerer Schichten des Volkes am politischen Leben verstärkte sich zunehmend. Die Stärke der sozialistischen Partei Italiens im Parlament wuchs, besonders nach den Wahlen von 1913, doch den erwarteten Sieg konnte die PSI nicht erringen. Bei den Wahlen von 1909 gab die Kurie das erste Mal ihre Zustimmung zu der Wahl katholischer Kandidaten . Eine katholische Partei wurde (noch) nicht gegründet, sondern katholische Zeitungen nannten die Kandidaten für einen Wahlbezirk. Diese Kandidaten hatten sich im Vertrag von Gentilone verpflichtet im Parlament katholische Grundsätze zu vertreten. Bis 1914 dominierten folgende Faktoren das politische Leben in Italien: 1. Klerikalismus und politischer Katholizismus, 2. Sozialismus, 3. Irredentismus im Zusammenspiel mit dem Nationalismus. Zudem blieb das "Problem des Südens" ungelöst.

Als Giolitti 1911 erneut an die Macht zurückkehrte, wußte er, daß es nicht ausreichen würde, nur den Ausgleich zwischen den Bürgerlichen und den gemäßigten Sozialisten weiter zu unterstützen. Inzwischen mußten auch die politischen Katholiken, die Irredentisten und die Nationalisten berücksichtigt werden. Die Annexion Libyens schien ein gangbarer Weg zu sein, um die inneren Widersprüche mit einer Aggression gegen einen äußeren Gegner, die Türkei, zu überwinden. Das libysche Unternehmen war in weiten Bevölkerungsgruppen überaus volkstümlich, lediglich die Sozialisten agitierten gegen den Krieg. Viele Auswanderungswillige, besonders im Süden, hofften in Libyen die Möglichkeit zur Ansiedlung finden zu können, Teile der katholischen Kirche hofften auf einen Feldzug gegen den Islam. Die Nationalisten sahen im Krieg einerseits die Möglichkeit das Kleinbürgerliche der Italietta überwinden zu können, und andererseits wähnten sie Libyen als Sprungbrett zu einer Politik des "mare nostrum" im Mittelmeer. Der unerwartet heftige Widerstand der Türken und der mit ihnen verbündeten arabischen Stämme, führte bald zur Ernüchterung. Als erster konterte der revolutionäre Flügel der Sozialisten. Im Juli 1912 unterlagen die Reformisten auf dem Kongreß von Reggio nell'Emilia. Giolitti, der die Unruhe in der Bevölkerung registrierte, reagierte, indem er Wahlabkommen zwischen katholischen und liberalen Kandidaten seine Zustimmung gab. Giolitti gewann die Wahl im Oktober 1913, doch war sein Regierungsbündnis brüchig. Nachdem der Vertrag von Gentilone und die Kosten des Libyen-Krieges in der Öffentlichkeit bekannt geworden waren, die soziale Unruhe sich im Lande verstärkte und die Radikalen ihm die Unterstützung entzogen, erklärte Giovanni Giolitti am 10. März 1914 seinen Rücktritt. Giolittis Versuch, die Sozialisten durch die Wahlrechtsreform mit dem liberalen Staat auszusöhnen, die katholischen Organisationen für sich zu gewinnen und die Rechte und die Nationalisten durch den Libyenkrieg an sich zu binden, war gescheitert.

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I.b) Die wirtschaftliche Entwicklung

Der Beginn der Industrialisierung Italiens wurde, wie anderswo auch, durch die Abwanderung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte in neue Berufe und Arbeitsverhältnis eingeleitet. Dieser Prozeß begann schon lange vor der nationalen Einigung mit der Ausbreitung der Heimarbeit und dem Entstehen kleinerer Manufakturen. Im Rahmen dieser Heim- und Manufakturarbeit wurden landwirtschaftliche Produkte, wie Baumwolle, Wolle, und Hanf weiterverarbeitet. Seide wurde hergestellt, jedoch nicht im Lande weiterverarbeitet. Auf der Basis der Textilindustrie begann die Industrialisierung. Allerdings zeigte sich schon früh die industrielle Ausrichtung auf Norditalien, so wurden 1824 in Mailand Jacquard-Webstühle produziert und 1842 verfügten die 26 größten Baumwollspinnereien in der Lombardei im Durchschnitt über 3500 mechanische Spindeln . Der Prozeß der Industrialisierung, der sog. take-off, hatte, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, mit erheblicher Verzögerung begonnen und langsamere Fortschritte gemacht. Die Gründe für den verspäteten Eintritt in die Industrialisierung sind in der Rohstoffknappheit, dem Mangel an Kapital, der restriktiven Kreditvergabe der italienischen Bankhäuser und dem Fehlen eines Binnenmarktes, aufgrund der politischen Zersplitterung Italiens und dem daraus resultierenden chaotischen Zollsystemen, welche den Handel massiv behinderten, zu suchen. Erst mit der Einigung konnte ein Binnenmarkt geschaffen werden, der den Handel nicht mehr durch die verschiedensten Ländergrenzen und Zölle behinderte. Der gesamtitalienische Markt kurbelte die wirtschaftliche Entwicklung des ganzen Landes an. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch den Ausbau der Eisenbahnen, der Transport- und Straßenverbindungen und dem Freihandel durch die rechtsliberalen Regierungen. Bis 1870 bildete die Landwirtschaft und die Seidenproduktion das Rückrat der italienischen Volkswirtschaft. Das Problem des Rohstoffmangels und der zurückhaltenden Kreditvergabe durch die italienischen Bankhäuser blieb aber weiterhin akut. Sofort nach der Einigung erkannten ausländische Geldgeber das Potential des italienischen Marktes. Kapital aus Frankreich, der Schweiz und desgleichen aus Deutschland wurde in Italien investiert, und es wurden Handelsabkommen auf der Grundlage des Freihandels abgeschlossen. Inländisches Kapital, welches der italienischen Industrie zur Verfügung gestellt wurde, kam einerseits aus dem landwirtschaftlichen Sektor (bes. nach 1880) und andererseits indirekt vom italienischen Staat. Die großen Infrastrukturprojekte wie Eisenbahn- und Straßenbau, aber auch die Rüstung, hatten das Entstehen von finanzkräftigen Unternehmen begünstigt, die ihre Gewinne wiederum in neue Projekte investierten. Der Anschluß des italienischen Handels und der Industrie an die europäische Wirtschaft bedeutete für den technisch und industriell bereits weit fortgeschrittenen Norden einen Segen, während das südliche Italien dem Wettbewerb billiger ausländischer Industrie- und Agrarprodukte nichts entgegenzusetzen hatte. Der Export der Produkte aus der landwirtschaftlichen Produktion und aus der Textilindustrie des Nordens nahm stetig zu, die wirtschaftliche Entwicklung der südlichen Regionen und der Inseln stagnierte oder sank sogar. Neben der für den Norden erfolgreichen Freihandelspolitik, erwiesen sich der corso forzoso (praktisch eine Abwertung der Lira) und die europäische Hochkonjunktur der frühen 70er Jahre, als Motor der beginnenden Industrialisierung. Die großen Gewinne aus dem Handel, den Staatsaufträgen und der Landwirtschaft wurden im Lande wieder investiert. Die ersten Aktiengesellschaften entstanden. Die klassischen Industriebereiche, wie Papier-, Seiden-, Woll- und Baumwollindustrie entwickelten sich rasch. Auch die Bauwirtschaft profitierte vom Boom dieser Jahre. Der Eisen- und der Maschinenindustrie gelang jedoch nicht der Anschluß an diese positive Entwicklung. Eine Stahlindustrie war praktisch noch nicht vorhanden. Der Aufbau der italienischen Schwerindustrie gelang erst seit den 80er Jahren mit massiver staatlicher Hilfe und ausländischer finanzieller und technologischer Unterstützung.
Die Industrie konzentrierte sich auf die oberitalienischen Zentren Mailand, Turin und Genua. Dort waren die wichtigsten Bankhäuser, das finanzstarke Bürgertum, moderne Universitäten, gute Verkehrsverbindungen und eine handwerklich und technisch versierte Industriearbeiterschaft vorhanden.
Seit 1873 begann auch die italienische Wirtschaft unter der weltweiten Konjunkturflaute zu leiden. Die Regierungen reagierten vorerst mit noch geringen Schutzzöllen und Vorschriften über die Verwendung von italienischen Produkten, z.B. beim Eisenbahnbau. 1880 kam es zur großen Agrarkrise durch den billigen Getreideimport aus Amerika. Lediglich in der Lombardei, in Piemont und in der Emilia hatte die Landwirtschaft einen Modernisierungsschub erhalten. Teile Venetiens, die Inseln und der Süden waren jedoch vernachlässigt worden. Die Folge war, daß amerikanisches Getreide den italienischen Agrarmarkt überschwemmte. Der Getreideimport wurde nahezu verdreifacht, die italienische Weizen- und Maisproduktion sank zwischen 1880 und 18890 um 20%, die Preise rutschten um 30 bzw. um 50%. Die nächsten Jahre bewiesen den liberalen italienischen Wirtschaftpolitikern, daß sie, wenn sie Süditalien vor weiterer Verarmung bewahren wollten und die eigene Industrie im Norden vor der billigeren ausländischen Konkurrenz schützen wollten, den Freihandel zumindest bis zu der Erstarkung der eigenen Industrien aufgeben müßten. Ab 1887 wurden ausländische Produkte verstärkt besteuert. Doch der italienische Protektionismus rief nun Frankreich auf den Plan, welches im Gegenzug die italienischen Agrarimporte, in erster Linie Wein und Seide, stark besteuerte. Das Ergebnis dieser von beiden Seiten mit aller Härte geführten Politik, war ein zehnjähriger Zollkrieg. Die Agrarkrise, der Zollkrieg und der Rückzug französischen Kapitals verschärfte die schlechte wirtschaftliche Situation und führte gegen Ende der 80er Jahre zu einer Rezession der gesamten Volkswirtschaft.
Der Staat reagierte auf die Krise der Landwirtschaft indirekt. Anstatt mit staatlichen Programmen die Modernisierung der Landwirtschaft zu unterstützen, wurde versucht, die Schwerindustrie im Lande weiter auszubauen um auf diesem Wege die dringend benötigten Arbeitplätze zu schaffen. Zudem entsprach der forcierte Aus- bzw. Aufbau der Schwerindustrie, dem außenpolitischen Ziel der Regierungen Depretis und Crispi, Italien zu einer europäischen Groß- und Kolonialmacht zu machen. Doch war der Aufbau der Schwerindustrie nur mit massiver staatlicher Unterstützung möglich, da die italienische Industrie noch immer unter Rohstoffmangel, Kapitalarmut und technischer Rückständigkeit litt. Die Interessengleichheit der Politiker, mit ihren außen- und militärpolitischen Zielen, und den Industriellen führte "zu einer außergewöhnlich engen Allianz von politischer Macht und organisiertem Kapitalismus, die Tendenz zu staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft und die Interessen der Schwerindustrie an Beeinflussung der Regierungspolitik ergänzten einander. Traditionell war die italienische Wirtschaft auf Großbritannien und Frankreich ausgerichtet. Die italienische Position wurde dabei als untergeordnet akzeptiert. Denn eine wachsende Schwerindustrie hätte der bisherigen Anlehnung an die beiden Westmächte geschadet und somit der eigenen Industrie Schaden zugefügt. Da die italienischen Politiker annahmen, daß das Ergebnis des Risorgimento und die angestrebte koloniale Expansion militärisch geschützt, bzw. durchgeführt und abgesichert werden müßte, wurde der Versuch unternommen, eine eigene Schwer- und Rüstungsindustrie aufzubauen. Die Vorbedingungen waren dafür wie gezeigt jedoch denkbar schlecht.

Die schmale italienische Mittelschicht, die es in Nord- und Mittelitalien gab, war selber meist bäuerlichen Ursprungs, und das Bildungsideal bzw. der Beruf mit dem meisten Einfluß war der Advokat, nicht der Ingenieur. Auch nach 1870 veränderte sich diese Sichtweise kaum. Bis 1914 hatte die italienische Ökonomie die Merkmale einer industrialisierten kapitalistischen Wirtschaftsform angenommen, aber die immanente Misere stach beharrlich hervor. Einerseits wurde das Staatsbudget, welches die Quelle für die Investitionen in die Schwerindustrie war, knapper. Die Ausgaben für die Modernisierung der italienischen Staatsbahnen waren einer der Gründe für diesen Mangel, denn diese Investitionen warfen keinen direkten finanziellen Gewinn ab. Andererseits übten die großen Ausgaben und die daraus resultierenden Schulden und hohen Steuern, eine destruktive Wirkung auf die italienische Volkswirtschaft aus. In den Jahren 1912 bis 1914 litt die italienische Wirtschaft besonders unter dem hohen Zinssatz und mangelnder Investitionsbereitschaft. Die Schwerindustrie geriet in immer stärkerer Abhängigkeit vom größten Auftraggeber, dem Staat. Die Verbrauchsgüterindustrie hatte darunter zu leiden, daß das italienische Steuersystem besonders die unteren, finanzschwachen Bevölkerungsschichten belastete und dadurch auch den Massenkonsum behinderte.

Seit der nationalen Einigung Italiens war ein wirtschaftlicher Fortschritt festzustellen, doch läßt sich die italienische Industrieentwicklung nicht mit dem Deutschen Reich, den Vereinigten Staaten von Amerika oder Japan vergleichen. Der Widerspruch zwischen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, besonders im militärtechnischen Bereich, den Ressourcen, den sozialen Problemen und den ehrgeizigen politischen Zielen konnte von den verantwortlichen Politikern nicht gelöst werden. In Teilbereichen wurde an Lösungen gearbeitet, so z.B. im weiteren Aufbau der Schwerindustrie, aber Italien gelang die Entwicklung zur Autarkie und zur wirtschaftlichen Selbständigkeit nicht. All diese Schwierigkeiten zeigten sich im Sommer des Jahres 1914 deutlich und wurden durch den kriegsbedingten Rückgang des Im- und Exportes verstärkt.

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I.c) Die militärische Leistungsfähigkeit Italiens

Die militärische Leistungsfähigkeit eines Landes ergibt sich nicht nur aus der Quantität der sofort einsatzfähigen militärischen Macht, sondern auch aus den Machtmitteln, die der zivile Sektor im Krieg bereitstellen kann. Aus diesem Grunde wird in diesem Kapitel im ersten Abschnitt das italienische Militär und im zweiten Abschnitt das Kriegspotential des Landes knapp dargestellt.
Die militärische Entwicklung der europäischen Nationen vom 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg beruhte auf den Weiterentwicklungen und Erfahrungen, die in den napoleonischen Kriegen, dem Krimkrieg, dem amerikanischen Bürgerkrieg, dem Krieg von 1870/71, dem Burenkrieg und dem russisch-japanischen Krieg gewonnen wurden. Die napoleonischen Kriege führten den europäischen Mächten das Potential der Massen- bzw. Wehrpflichtarmee vor Augen, und die preußischen Erfolge zeigten die Leistungsfähigkeit eines Massenheeres unter Führung eines Generalstabes. Diese Erfahrungen wurden ergänzt durch die rasante Entwicklung der Militärtechnik, besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch an Italien ging diese Entwicklung nicht vorbei.

Nach der Verfassung war der italienische König einerseits der militärische Oberbefehlshaber, doch andererseits befreite ihn die Verfassung auch von dieser Verantwortung. Praktisch trat an die Stelle des Königs der Kriegsminister, der die Verantwortung für die Politik, Verwaltung und Ausrüstung der Armee und der Marine zu tragen hatte. Die höchste Position in der Rangordnung des italienischen Militärs lag beim Generalstabschef. Doch sah die Verfassung den Generalstab nur für den Krieg vor, als Institution die den Krieg bereits im Frieden vorbereitete, war der Generalstab in Italien nicht gewollt. Aus diesem Grunde war der Chef des italienischen Generalstabes im Frieden abhängig vom Kriegsminister, auch wenn er direkt dem König gegenüber verantwortlich war. Seine Aufgaben waren Planung und Beratung. Im Kriege war der Chef des Generalstabes bis auf weiteres Oberbefehlshaber. Die militärische Führung und Verantwortung im Falle eines Krieges war in Italien nicht genau definiert. Ansprüche auf den Oberbefehl konnten der König, der Chef des Generalstabes, der Kriegsminister und der Ministerpräsident anmelden. Nach der Einigung wurde die Armee unter dem Kriegsminister Cesare Francesco Ricotti-Magnani neu organisiert. Das Rückrat der Armee bildete die Wehrpflicht. Eingezogen wurden die jungen Männer vom jeweiligen Militärbezirk, allerdings nach dem nationalen und nicht nach dem regionalen Prinzip. Das Heer war in Feldarmee und Territorialarmee gegliedert. Die Feldarmee bestand aus dem stehenden Heer (esercito permanente) und der Mobilmiliz (milizia mobile). Die Territorialarmee (milizia territoriale) hatte die Aufgabe im Krieg die geräumten Kasernen zu besetzen und Sicherungsaufgaben durchzuführen. Die Größe der Armee betrug ca. 220.000 Soldaten, davon 193.000 Mann Fronttruppen. Durch Mobilmachung und Einberufungen konnte die Feldarmee auf 750.000 Soldaten aufgestockt werden. 1912 schätzten der deutsche und der österreichische Generalstab die Friedensstärke auf knapp 300.000 Soldaten und die Zahl der Soldaten im Kriege auf ca. 1.250.000. Die militärischen Neuerungen erstreckten sich in erster Linie auf die Bewaffnung der Infanterie. Die alten Gewehre der "Unabhängigkeitskriege" wurden durch hochwertige Waffen ersetzt. Das kleinkalibrige Repetiergewehr M 91 wurde bis 1899 bei der Truppe eingeführt. Die Offiziere sollten bis Mai 1914 mit einer neuen Pistole ausgestattet werden. Die Bewaffnung mit Maschinengewehren verlief jedoch schleppend. 1911 soll die Feldarmee lediglich über 220 Maxim-Maschinengewehre verfügt haben. Die Modernisierung der Feldartillerie und der schweren Artillerie verursachte jedoch weit größere Probleme als die Ausrüstung der Infanterie. Bis 1914 befanden sich beide Waffengattungen in ständiger Erneuerung. Die niedrigen Produktionskapazitäten der italienischen Rüstungsindustrie reichten nicht aus, um den Bedarf schnell zu decken . Die geographische Lage des Landes und der politische Wille als Großmacht anerkannt zu werden, machte den Erhalt einer bedeutenden und modernen Flotte genauso notwendig, wie eine große Armee . Italien konnte in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts die Stärke seiner Flotte bewahren. In dieser Zeit war die italienische Flotte die drittgrößte in Europa. Doch die rasche technische Entwicklung der Waffensysteme zur See, ließ die große Seestreitkraft rasch veralten und auf den siebten Rang absinken. 1908 wurde von der italienischen Flottenleitung das Stärkeverhältnis 2:1 zur österreichischen Flotte angestrebt. 1913 betrug das Verhältnis 1,3:1 und 1914 1,8:1. .
Die italienische Schwerindustrie war bemüht, die Forderungen der Militärs zu erfüllen, doch konnte sie oftmals nicht mit anderen europäischen Rüstungsbetrieben konkurrieren. Aus diesem Grunde mußten wichtige Rüstungsaufträge, z.B. für die Herstellung von schweren Geschützen und Panzerplatten für die neuen Dreadnoughts im Ausland bestellt werden.Die primäre Energiequelle der Industrie in diesen Jahren war die Kohle. Der Mangel an eigenen Kohlevorräten führte zu einer Abhängigkeit Italiens von Großbritannien, welches der wichtigste Kohlelieferant war. Schätzungen jener Zeit gingen davon aus, daß nach einem britischen Lieferstopp die italienischen Bahnen keine zwei Monate mehr hätten rollen können. Der Mangel an fossiler Energie sollte durch einen forcierten Ausbau der Wasserkraft ausgeglichen werden. Besonders die Bahn wurde seit 1905 in großem Umfang von Kohle auf Elektrizität umgestellt. Zudem wurde das Gleisnetz in den Aufmarschgebieten Norditaliens weiter ausgebaut und die Versorgung mit Rollmaterial verbessert. Auch der Straßenbau, der Kraftverkehr, die Binnenschiffahrt und die Pferdezucht wurden im Interesse der Landesverteidigung mit staatlicher Hilfe ausgebaut. Der Zustand der Staatsfinanzen erlaubte aber keine massive Aufrüstung des Landes. Die durch den Krieg in Lybien entstandene hohe Verschuldung führte zu einem Geld- und Kreditmangel. Aufgrund der angespannten Staatsfinanzen mußten Rüstungsprojekte verschoben werden. Die wirtschaftliche Lage des Landes wurde kurz vor dem Weltkrieg von den meisten Beobachtern als so ernst eingestuft, daß Italien es sich nicht erlauben könne, größere militärische Vorhaben zu planen oder auszuführen. Die Einschätzung der so genannten Volksnatur und der Verteidigungsbereitschaft nahm einen großen, wenn auch widersprüchlichen Raum, in den Berichten der deutschen und österreichischen Gesandten und Militärattachés ein. Einerseits wurde dem italienischen Soldaten, besonders wenn er bäuerlicher Herkunft war, Mut und Gehorsam attestiert, doch andererseits wurde der destruktive Einfluß der Sozialisten und des Klerus auf die Armee als zu groß eingeschätzt . Das Renommee des Militärs und auch der höheren Dienstränge konnte nicht mit dem gesellschaftlichen Rang der Streitkräfte in Frankreich oder gar im Deutschen Reich verglichen werden.

Der italienische Staat galt als schwach, und die Beamtenschaft und die führenden Politiker wurden in Berichten der Verbündeten zumeist als wenig flexibel und vielfach auf das eigene Wohl bedacht, angesehen.
Der Führung des italienischen Militärs war es bis zum Weltkrieg gelungen, eine ansehnliche Armee und Flotte aufzubauen. Doch waren die Ziele des Generalstabes zu hochgesteckt, um mit den bescheidenen Mitteln des Landes realisiert werden zu können. Der Krieg mit der Türkei verzögerte die Aufrüstung zusätzlich, da aufgrund des unerwartet heftigen Widerstandes mehr Material verbraucht wurde, als geplant. Die Dreibundpartner Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich schätzten die militärische Macht Italiens als vergleichsweise gering ein. Diese Einschätzungen wurden jedoch von dem Unverständnis für die politische Kultur des italienischen Partners beeinflußt.

Das Großmachtstreben des Landes konnte nicht mit den in der Realität vorhandenen Machtmitteln abgesichert werden. Weder die einsatzbereite militärische Macht, noch die italienische Industrie und Gesellschaft, waren in der Lage, die militärische Leistungsfähigkeit auf ein mit den anderen europäischen Großmächten vergleichbares Niveau zu heben.

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I.d) Die Außenpolitik Italiens und die Entwicklung des Dreibundes

Die größte Bedeutung für die piemontesische Außenpolitik hatte das gute Verhältnis zu England und Frankreich und die Gegnerschaft zu Österreich. Nur durch die Unterstützung der beiden westlichen Mächte konnte die nationale Einigung Italiens gegen den Willen Österreichs, bzw. Österreich-Ungarns erreicht werden. Doch während die Beziehungen zu England die folgenden Jahrzehnte hinweg gut blieben, entwickelte sich gegenüber Frankreich eine bedrohliche Feindschaft. Die Gründe hierfür sind in der Ausnutzung der französischen Schwäche 1870 und in der beginnenden kolonialen Konkurrenz der beiden Staaten zu suchen. Zeitgleich mit den sich verschlechternden diplomatischen Beziehungen zu Frankreich kam es zu einer Annäherung an Preußen und zu einer Beruhigung im Verhältnis zu Östereich-Ungarn. König Vittorio-Emanuelle II besuchte 1873 Wien und Berlin. 1875 wurde dieser Besuch von Kaiser Franz-Joseph in Venedig erwiedert. Die Abkühlung des Verhältnisses zwischen Frankreich und Italien wurde von deutscher Seite nicht ohne Genugtuung zur Kenntnis genommen. Bismarck ermunterte Italien 1876 und 1877 die Einnahme Tunis in die Wege zu leiten. Auf deutscher Seite hoffte man auf diesem Wege die Irredentisten zum Verstummen zu bringen und das italienisch-französische Verhältnis weiter zu belasten. Zunächst verhielt sich die italienische Politik jedoch abwartend, und auf dem Berliner Kongreß 1878 suchten die italienischen Diplomaten ihr Wohl in der Neutralität. Die Besetzung Bosniens und der Herzegowina, ohne daß Italien eine Kompensation, z.B. Trient, erhalten hätte, erregte national gesinnte Gemüter. Als Frankreich 1881 mit der Besetzung Tunis Italien brüskierte, setzte sich der Gedanke eines Bündnisses mit dem Deutschen Reich im Lande durch. Allein die Irredentisten lehnten eine Allianz mit dem Deutschen Reich scharf ab. Bereits im Herbst 1877 hatte es Gespräche des Kammerpräsidenten Crispi mit Andrássy und Bismarck gegeben. Dabei hatte Crispi erkannt, daß es für eine friedliche oder kriegerische Revision des österreichisch-italienischen Grenzverlaufs keine Möglichkeit gab. Auch befürchteten die italienischen Politiker ein erneutes Aufkommen der Römischen Frage, denn die Beziehungen Wiens zum Vatikan waren nie abgerissen und Bismarck bemühte sich um die Beilegung des Kulturkampfes. König Humberts Reise nach Wien und der Einsatz des Außenministers Mancini, sowie der Botschafter Graf Robilant (Wien) und Launay (Berlin) bahnten die Verhandlungen an, die ihren Abschluß mit der Unterzeichnung des Dreibundvertrages in Wien am 20. Mai 1882 finden sollten. Italien wurde die militärische Hilfe Österreichs und Deutschlands für den Fall eines unprovozierten französischen Angriffs zugesagt. Italien versprach seinerseits militärische Unterstützung, im Falle eines französischen Angriffs auf Deutschland. Zudem wurde wohlwollende Neutralität dem Verbündeten gegenüber zugesagt, der alleine Krieg führte. Wenn einer der Partner mit mehr als einem Gegner in einen Krieg geraten sollte, waren die beiden anderen Partner zur Unterstützung verpflichtet. Der Vertrag war zunächst auf fünf Jahre befristet. Ein auf italienischen Wunsch beigefügtes Zusatzprotokoll versicherte, daß der Dreibundvertrag sich nicht gegen England richtete. Die gegenseitige Garantie des territorialen Besitzstandes, von Italien hinsichtlich der Römischen Frage angeregt, konnte von der katholischen Macht Österreich nicht gegeben werden. Jedoch signalisierte alleine der Abschluß des Vertrages, daß es von Seiten Wiens und Berlins kein, den Partner Italien bedrohendes, Interesse an der Römischen Frage gab. Fünf Jahre später, am 20. Februar 1887, setzte der inzwischen zum Außenminister avancierte Graf Robilant bei der Erneuerung des Dreibundvertrages ein Separatabkommen durch, in dem festgehalten wurde, daß Italien Ansprüche auf Kompensationen habe, wenn Österreich-Ungarn terrritoriale Gewinne auf dem Balkan machen sollte. Zudem verpflichtete sich das Deutsche Reich italienische Expansionsbestrebungen in Nordafrika gegen Frankreich zu unterstützen. Die politische Landschaft hatte sich bis 1887 derart verändert, daß Italien Forderungen stellen konnte. Die durch die Neuerungen entstandenen Zusatzverträge wurden beim dritten Abschluß des Dreibundvertrages im Mai 1891 dem Vertragstext angegliedert (im Jahre 1914 informierte die österreichisch-ungarische Regierung Italien nicht über das geplante Vorgehen gegen Serbien und verstieß auf diese Weise gegen den Bündnisvertrag). Der Dreibundvertrag brachte für Italien bedeutenden politischen Nutzen: I. Schutz vor einer möglichen französischen Aggression, II. die gleichberechtigte Aufnahme in den Club der europäischen Großmächte und die damit verbundene Möglichkeit eigene Großmachtpolitik zu betreiben, III. hatte die vertraglich abgesicherte Zusammenarbeit mit den konservativen Mächten Europas eine eminent innenpolitische Bedeutung. Einerseits erhielten die Irredentisten mit ihren mazzianischen Idealen eine Absage erteilt, andererseits wurde die Römische Frage zu den Akten gelegt. Doch hatte Italien, gestützt und abgesichert durch den Dreibund, nun die Möglichkeit seinen Patriotismus in anderen Regionen des Mittelmeeres zu zeigen. Ebenfalls 1887 schlossen Italien und Großbritannien einen Vertrag über den "Status quo" im Mittelmeer, Österreich-Ungarn und Spanien traten diesem Vertrag später bei. 1888 wurde zwischen Italien und Deutschland ein Militärvertrag abgeschlossen, der den Transport italienischer Truppen über Österreich zum Elsass erlaubte. Österreich-Ungarn gab zu diesem Transportvorhaben sein Einverständnis. Im selben Jahr trat Italien dem Abkommen der Donaustaaten Deutschland, Österreich-Ungarn und Rumänien bei. Dieses Bündnis richtete sich gegen eine potentielle Aggression Russlands. Die neun Jahre von 1887, als Italien als Partner akzeptiert wurde, bis zur Niederlage von Adua 1896, waren die Jahre der besten und vertrauensvollsten Zusammenarbeit im Dreibund. Italien fühlte sich, abgesichert durch den Dreibund, stark genug, um sich sicher auf dem Parkett der internationalen Diplomatie bewegen zu können, davon zeugt auch die Vertragspolitik. Einerseits sicherte die italienische Regierung ihre West- und Ostgrenzen ab, andererseits wurde aktive Außenpolitik betrieben (z.B. Erwerb der Kolonien). Die Niederlage von Adua bedeutete nicht nur für die italienische Außenpolitik eine Zäsur, sondern für die Stimmung im ganzen Lande. Man fühlte sich von den beiden mächtigen Verbündeten im Stich gelassen und es begann eine Umorientierung in der italienischen Außenpolitik.

Italiens Kolonialpolitik begann abgesichert durch den Dreibundvertrag. 1884 besetzten italienische Einheiten, im Einvernehmen mit England, Assab und Massaua (1884/1885) am Roten Meer und begannen in das Hinterland dieser Gebiete einzudringen. 1887 wurde eine italienische Abteilung bei Dogali aufgerieben. Crispi reagierte mit der Entsendung stärkerer Truppenkontingente, die im Norden Abessiniens (Tigre, Cassala) operierten. 1889 wurden die Gebiete um Assab und Massaua zur Kolonie Eritrea erklärt. Parallel dazu wurde an der Küste zum Indischen Ozean die Kolonie Somaliland mit Hilfe von "Verträgen" mit den örtlichen Sultanen erworben. Die beabsichtige Vereinigung dieser Gebiete mißlang jedoch, da sich sowohl Frankreich (Djibuti 1887) und England (Britisch-Somaliland 1884) bereits in dem Korridor festgesetzt hatten. Italiens koloniale Ambitionen schienen in Abessinien größere Erfolgsaussichten zu haben. Ein Vertrag mit dem Negus Menelik, Mai 1889, wurde von Crispi dahingehend gedeutet, daß der Negus ein italienisches Protektorat über ganz Abessinien anerkennen würde. Menelik machte den italienischen Militärs und Kolonialbeamten jedoch bald klar, daß er den Vertrag ganz anders verstand. Die Italiener begannen daraufhin rebellische Stammesfürsten gegen Menelik zu unterstützen. Ein für die italienischen Truppen durchaus erfolgreicher Kleinkrieg begann. Doch Menelik erhielt Waffenhilfe aus Frankreich und sogar Rußland. Der Traum vom abessinischen Kolonialreich endete in der militärischen Katastrophe von Adua (1896), ebenso wie die erste Phase des italienischen Kolonialismus. Der praktische Übergang der italienischen Politik zum Imperialismus setzte zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit der wachsenden industriellen Leistungsfähigkeit, dem wirtschaftlichen Aufschwung und dem Interessenausgleich mit Frankreich und England ein. Der Interessenausgleich sicherte die Ambitionen Italiens in Libyen. Höhepunkte des italienischen Imperialismus waren der Krieg in Libyen, der Kriegseintritt 1915 und der Abessinienkrieg 1935/36 . Als der Zusammenbruch der italienischen Verbände in Abessinien bekannt wurde, mußte Crispi zurücktreten. Di Rudinì beendete im Oktober 1896 das abessinische Abenteuer mit der Anerkennung der vollen Souveränität Abessiniens. Während der Regierung Crispi hatte sich das Verhältnis zu Frankreich immer weiter verschlechtert. Die französische Seite versuchte Italien mit Hilfe des Handelskrieges unter Druck zu setzen, und vor allem in Südfrankreich kam es zu antiitalienischen Ausschreitungen. Crispi hingegen suchte sein Heil in einer noch engeren Freundschaft zum Deutschen Reich. Nach Crispis Sturz kam es zu einer langsamen und kaum merklichen Annäherung zwischen Italien und Frankreich. Im Oktober 1896 sicherte ein Abkommen den in Tunis lebenden Italienern ihre Rechte, 1898 wurde der Handelskrieg mit einem Handelsvertrag beigelegt, 1900 einigten sich beide Mächte über ihre Interessengebiete im Mittelmeer. Die Annäherung gipfelte vorerst im Jahre 1902 in dem Abschluß eines Vertrages, der bei einer militärischen Auseinandersetzung einer der beiden Vertragspartner mit einer oder mehreren Mächten, die gegenseitige Neutralität vorsah. Das Abkommen trat in Kraft, wenn einer der beiden Partner angegriffen werden würde, oder wenn einer der beiden Partner aus Gründen der nationalen Ehre oder Sicherheit selbst einen Krieg beginnen müßte. Der Dreibundvertrag wurde indes im Juni 1902 in Berlin verlängert (1907 verstrich der Kündigungstermin, so daß die Verlängerung automatisch eintrat), doch wandelte sich sein Charakter in der italienischen Sichtweise von einem Schutzbündnis gegen Frankreich zu einem Medium der Beruhigung Österreich-Ungarns und in der deutschen und österreichisch-ungarischen Sichtweise zu einer Erwerbsgenossenschaft. Der französisch-englische Ausgleich seit der Faschoda-Krise und die Entente Cordiale von 1904 führte ebenfalls zu einer stärkeren Orientierung Italiens an Frankreich. Während der Marokkokrisen von 1905/1906 und 1911 unterstützte Italien das Deutsche Reich in keiner Weise. Auch die Beziehungen zu Österreich-Ungarn wandelten sich zunehmend. Die Annektion Bosniens und der Herzegowina 1908 und die Konkurrenz der beiden Mächte in Albanien steigerte das gegenseitige Mißtrauen. Anläßlich des Zarenbesuchs 1909 in Italien einigten sich Rußland und Italien im Vertrag von Racconigi über ihre Interessen im Mittelmeer und gegenüber den Balkanstaaten. Italien vermied allzu offensichtliche Maßnahmen gegen die Dreibundpartner, baute aber die guten Beziehungen zu Frankreich, Großbritannien und Rußland weiter aus. Abgesichert durch dieses überlegte diplomatische Vorgehen, angespornt durch den zunehmenden Nationalismus und durch den ökonomischen Aufschwung bestärkt, begannen die kolonialen Ansprüche des Landes wieder zu wachsen. Das Ziel des italienischen Begehrens war das unter osmanischer Oberhoheit stehende Libyen. Im September 1911 wurde die Türkei aufgefordert Tripolis und die Cyrenaica zu räumen und an Italien abzutreten. Die türkische Regierung versuchte eingedenk ihrer militärischen Schwäche, zu retten was noch zu retten war und schlug Verhandlungen vor. Drei Tage später erklärte Italien, am 29.09.1911, der Türkei den Krieg. Obwohl der Krieg das Land teurer zu stehen kam, als erwartet und auch der Widerstand heftiger war als angenommen, konnte Italien die Türkei einerseits mit der Drohung den Bosporus zu beschießen und andererseits durch das Ausnutzen der Schwäche der Türkei durch den Balkankrieg, zum Einlenken zwingen. Am 18. Oktober 1912 verlor die Türkei Libyen, d.h. Tripolitanien und die Cyrenaika, im Frieden von Lausanne . Die im Verlauf des Krieges besetzten Inseln des Dodekanes und Rhodos blieben unter italienischer Kontrolle. Der Dreibundvertrag wurde am 05.12.1912 trotz des heiklen italienischen Krieges gegen den inoffiziellen Verbündeten des deutschen Reiches, die Türkei, wieder erneuert. Einer der Gründe für das italienische Interesse an der Verlängerung, wird in der kurzfristigen Verschlechterung der Beziehungen zu Frankreich während des Krieges zu finden sein.

Die Außenpolitik des jungen italienischen Staates orientierte sich an zwei Vorgaben. Erstens mußte das Erreichte bewahrt, und zweitens sollte die Position Italiens im Konzert der europäischen Mächte durch den Erwerb neuer Gebiete gestärkt werden. Die langen italienischen Küsten und das französische Expansionsstreben im Mittelmeer machten es notwendig, eine zumindest teilweise Kontrolle des Mittelmeeres anzustreben, ohne dabei jedoch mit der ersten Seemacht England in Konflikt zu geraten. Die Besetzung Tunesiens durch Frankreich führte zum Abschluß des Dreibundes, da deutlich wurde, daß sich Frankreich den italienischen Wünschen widersetzte. Die traditionell guten Beziehungen zu England wurden mit dem Vertrag über den Status quo im Jahr 1887 im Mittelmeer fortgeführt. Der ebenfalls 1887 unter weitaus günstigeren Bedingungen verlängerte Dreibundvertrag sah die Unterstützung des Deutschen Reiches bei der italienischen Kolonialpolitik, Konsultierung Italiens und Kompensationen zugunsten Italiens bei für Österreich-Ungarn günstigen Veränderungen auf dem Balkan vor. Die Katastrophe von Adua und der Rücktritt Crispis führten zu einer, wenn auch langsamen, Umgestaltung der italienischen Außenpolitik. Mit Frankreich wurde der Ausgleich angestrebt und erreicht, und die sich verschlechternden Beziehungen des Deutschen Reiches zu England führten zu einer Annäherung an die Entente Cordiale. Der vom Druck Crispis befreite und an Bedeutung zunehmende italienische Irredentismus und die Konkurrenz Italiens und Österreichs-Ungarns auf dem Balkan, vorwiegend in Albanien, belastete das Verhältnis zur Doppelmonarchie immer stärker. Demgegenüber zeigte der Widerstand Frankreichs und auch Englands gegenüber dem italienischen Engagement im Mittelmeer den italienischen Politikern die Bedeutung des Dreibundes. Die italienische Außenpolitik war in den knapp zwei Jahrzehnten seit Adua bis zum Ersten Weltkrieg von der Notwendigkeit geprägt, sich der Machtpolitik der beiden großen Blöcke anpassen zu müssen, aber dennoch die eigene Unabhängigkeit nicht aufgeben zu wollen. Doch die sich immer weiter verfestigende Teilung Europas in den deutsch-österreichischen und französisch-russisch-britischen Machtbereich schränkte den Spielraum der italienischen Außenpolitik in immer zunehmendem Umfang ein
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