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NOAG 165-166, Rezension 10, Seminar für Sprache und Kultur Japans
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Universität - Seminar für Sprache und Kultur Japans - NOAG

Ian READER/ George J. TANABE: Practically Religious: Wordly Benefits and the Common Religion of Japan. Honululu: University of Hawai'i Press 1998. 305 S. ISBN 0-8248-2065-7. Cloth £ 40,00, Paper £ 17,00.

Verkaufsstände an japanischen Tempeln und Schreinen halten für ihre Besucher ein buntes und vielfältiges Angebot bereit: Zur Auswahl stehen Talismane für Erfolg in der Ausbildung und im Geschäft, Amulette zur Genesung von Krankheiten und zum Schutz vor Gefahren sowie zahlreiche weitere Glücksbringer, die ihren Käufern mannigfaltige Wohltaten versprechen. Diese streben nach genze riyaku, dem "praktischen, diesseitigen Nutzen". Obschon das Angebot an nutzbringenden Devotionalien und Ritualen an Tempeln und Schreinen in Japan allgegenwärtig und dem Japan-Besucher wohlvertraut ist, wurde es bislang von der Forschung weitestgehend ignoriert oder als "abergläubische Irrlehre" der sogenannten Volksreligion oder der Neuen Religionen Japans dargestellt.

Laut Ian Reader und George J. Tanabe wird diese ignorante und herablassende Haltung der japanischen Religion nicht gerecht. Mit dem vorliegenden Band zielen sie darauf ab nachzuweisen, daß das Streben nach diesseitigem Nutzen und die ihm zugrundeliegenden Vorstellungen den Wesenskern der japanischen Religiosität bilden. Die intensive Auseinandersetzung mit Vorstellungen und der Praxis von genze riyaku in Vergangenheit und Gegenwart liefert ihrer Ansicht nach erst die notwendige Basis, mit der ein umfassendes Verständnis der japanischen Religionen beginnen kann (S. 15). Die Autoren verfolgen mit ihrer Untersuchung also ein hochgestecktes Ziel, vermochten doch japanische wie ausländische Forscher bislang nicht, die japanische Religion in ihrer Gesamtheit - jenseits der Trennung von Tradition und Moderne, Buddhismus und Shintô - in den Griff zu bekommen. Für ihr Vorhaben bringen die beiden Verfasser geeignete Voraussetzungen mit: George J. Tanabes Forschungsschwerpunkt liegt auf der Geschichte des Buddhismus, während Ian Reader sich vorwiegend mit den japanischen Religionen der Gegenwart beschäftigt. Entsprechend weit gefächert sind die Quellen und Methoden, derer sie sich zum Beleg ihrer These bedienen: Traditionelle buddhistische und shintôistische Schriften werden ebenso herangezogen, wie aktuelle Leitfäden, Flugblätter und Broschüren der religiösen Institutionen Japans. Die Autoren ergänzen diese Quellen durch Interviews mit Priestern und Besuchern religiöser Zentren und Beobachtungen, die sie während längerer Japan-Aufenthalte an Tempeln und Schreinen machen konnten.

Den acht Kapiteln des Bandes geht eine längere Einleitung voraus, in der die Verfasser zunächst mit einer Reihe von weitverbreiteten und zähen Vorurteilen, wie sie nicht nur gegenüber der japanischen Religion bestehen, aufräumen. Die häufig anzutreffende Unterscheidung von "wahrer" und "falscher" Religion wie auch von sogenannter "Hochreligion" und "Volksreligion" erweist sich, wie sie zeigen, als unbrauchbar im Umgang mit Religion in Japan. Diese Unterscheidung beruhe auf der Annahme, es existiere eine Elite, deren Religion aufs genaueste den Feinheiten schriftlich fixierter Lehren folge, während die Masse der Gläubigen, "abergläubisch" wie sie ist, religiöse Texte ignoriere und "magischen" Praktiken fröne (S. 26). Doch laut Reader und Tanabe entspringt diese Annahme einer Fiktion. Ein genauerer Blick auf die Verbreitung der Vorstellungen und Praxis von genze riyaku lehre, daß sowohl die aristokratische Elite als auch die große Masse der Gläubigen nach diesseitigem Nutzen strebe. Bei diesen religiösen Praktiken handele es sich keinesfalls um einen Abfall von einer "wahren" Religion, finde das Streben nach diesseitigem Nutzen doch seine Bestätigung in buddhistischen wie shintôistischen Texten, buddhistischer Liturgie und Ikonographie. Bestrebt, die Götter dazu zu bewegen, Wohltaten für das Leben im Diesseits zu gewähren, seien die Menschen aller Schichten, und daher bezeichnen die Autoren die Praxis von genze riyaku als die common religion, die gemeinsame Religion Japans (S. 28-29).

Das erste Kapitel bietet einen Überblick über die Spielarten und die Bandbreite diesseitigen Nutzens. Unterschieden werden zwei Hauptgruppen: Das Trachten nach Schutz vor Gefahr (yakuyoke) und das Streben nach einer Wendung zum Besseren (kaian). Dabei handele es sich indes nur um eine grobe Kategorisierung. Ausführlich beschreiben sie die Vielfalt von diesseitigem Nutzen wie etwa kin'un (sein Geld vermehren), danjô kankei (Nutzen für die Beziehung zwischen Mann und Frau) oder auch innovative Angebote wie kaigai anzen (Sicherheit bei Auslandsreisen) und Hilfe gegen boke fûji (Senilität). Ausdruck findet das Streben nach diesem Nutzen im Kauf von omamori (Talismane), ofuda (Amuletten), engimono (Glücksbringer), ema ("Briefe an die Götter") und der Teilnahme an Ritualen wie dem goma-Ritual. Angebote und Spezialisierungen einzelner religiöser Institutionen auf bestimmtes genze riyaku gliedern, so die These der beiden Autoren, die religiöse Landschaft und bilden die Grundlage für regionale religiöse Identitäten (S. 68). So sei beispielsweise der Hôzanji in der Nähe von Osaka für den praktischen Nutzen berühmt, der sich auf shôbai hanjô (geschäftlichen Erfolg) bezieht.

Im zweiten Kapitel weisen die Verfasser nach, daß die Praxis des genze riyatu im Einklang mit der Lehre buddhistischer Schriften steht; sie schreiben:

It is not a matter of expedient means or syncretic assimilation of folk practices that allow Buddhist priests to promote the practices for practical benefits; it is the explicit doctrines of the sutras that speak directly to the virtue of acquiring material as well as spiritual boones (S. 73).
Um diese These zu belegen, werden Abschnitte aus dem Lotus-Sutra, aus dem Buch Fragen des Königs Milinda, dem Anguttara-Nikaya des Pali-Kanons und weiteren buddhistischen Texten angeführt. Anhand dieser Schriften belegen die Autoren, daß die vom Buddhismus erwartete praktische Effektivität keine "ostasiatische Erfindung" (S. 77), sondern bereits für den indischen Buddhismus als normativ einzuschätzen ist. Die Arbeiten japanischer Buddhologen, nach deren Ansicht genze riyaku eine Abweichung vom Buddhismus darstellt, werden kritisch unter die Lupe genommen. Die Verfasser filtern die hermeneutischen Strategien heraus, mit deren Hilfe Buddhologen die Idee des genze riyaku wegzuinterpretieren versuchen. Solche Strategien verdeutlichen nach Ansicht von Reader und Tanabe, daß diese Autoren keine religionswissenschaftlichen, sondern theologische Positionen vertreten. Ihr hartnäckiges Bemühen, die buddhistische Lehre von vermeintlich "abergläubischen" Vorstellungen und Praktiken zu reinigen, führen die Autoren auf eine weitverbreitete Tendenz religiöser oder theologischer Schriften zurück:

It is a long-standing schizophrenia born to a religious tradition that has declared war with the world but cannot quite bring itself to kill it (S. 101f.).

Die Anstrengungen dieser Buddhologen könnten indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich beim japanischen Buddhismus um eine der Welt und dem Alltag zugewandte Religion handele. Reader und Tanabe vermögen es, anhand der Analyse shintôistischer und buddhistischer Quellen deutlich zu machen, daß Religion ihre Bedeutung für Sorgen und Freuden der Menschen im Alltag entfaltet, und zwar nicht nur in ihrer shintôistischen, sondern auch in ihrer buddhistischen Ausprägung; eine Einsicht, die man sich für viele religionswissenschaftliche Studien, allen voran über den Buddhismus wünscht.[1]

Dem Zusammenhang zwischen Moral, Glaube und Fürbitten widmet sich das dritte Kapitel. Unter dem Motto "Das Schicksal mit Geld ausstechen" (buying out chance) wird die genze riyaku zugrundeliegende Überzeugung herausgearbeitet: Das Schicksal kann durch geeignete Anstrengungen überlistet werden. Zum einen sei ritueller Einsatz gefordert, etwa durch den Kauf von Amuletten oder die Teilnahme an einem Ritual; Einsätze, mit deren Hilfe "rituelle Tugend" (kudoku) (S. 112) erworben werden könne. Zum anderen sei moralisches Verhalten indes ebenfalls notwendig: Das Streben nach genze riyatu ist, wie an Beispielen erläutert wird, stets mit der Aufforderung verbunden, das Beste zu geben, fleißig und pflichtbewußt zu handeln sowie Dankbarkeit für erwiesene Wohltaten zu zeigen. Als Grundlage für die Praxis des genze riyatu führen Reader und Tanabe einen "affektiven Glauben" (S. 129) an, ein Glaube, der pragmatisch ausgerichtet ist. Bei diesem Glauben komme es weniger auf die reflexive Durchdringung der durchgeführten Rituale, sondern auf die Aktion selbst an. Mit diesem Begriff des "affektiven Glaubens" meinen die Autoren, erklären zu können, warum japanische Gläubige, nach dem Grund ihres religiösen Tuns befragt, häufig auf Tradition, Brauch oder soziale Konventionen und nicht auf eine theologisch nachvollziehbare Erklärung verweisen. Damit vermögen die Verfasser eine plausible Erklärung für die vermeintliche Irrationalität und inhaltliche Leere religiösen Rituals zu liefern, die Wissenschaftler, die sich mit japanischer Religion beschäftigen, häufig in Verwirrung stürzen.[2]

Das folgende vierte Kapitel stellt die Anbieter diesseitigen Nutzens vor: Es geht um Götter, Heilige und Zauberer. Mit dem Erwerb von Amuletten oder der Durchführung von Ritualen werde eine persönliche Beziehung zu den himmlischen Anbietern praktischen Nutzens hergestellt. Das Beispiel des weitverbreiteten Jizô zeige, daß Götter und Heilige über eine Fülle von Wohltaten verfügen; ihre Möglichkeiten, auch spezielle Wünsche zu erfüllen, seien in der japanischen Vorstellung grenzenlos. Die den Göttern zugeschriebene Fähigkeit, Menschen, die sich mit geeigneten Methoden an sie wenden, praktischen Nutzen zu gewähren, bildet nach Auffassung der beiden Autoren die Grundlage für die Assimilation von Buddhismus und Shintô (shimbutsu shûgô). Entschieden wenden sie sich gegen die Annahme, dieser Assimilationsprozeß resultiere aus der honji suijaku- (Urstand und herabgelassene Spur) Theorie (S. 150). Statt dessen argumentieren sie, daß es sich bei dieser Theorie um eine nachträgliche Rechtfertigung für die Praxis des genze riyaku handelt. Damit tragen sie zur Klärung des häufig mißverstandenen Verhältnisses von religiöser Lehre und Praxis bei. Erscheint eine religiöse Lehre kompliziert und unverständlich, so ist das häufig nicht auf ihre vermeintliche Irrationalität zurückzuführen, sondern darauf, daß mit Hilfe dieser Lehren versucht wird, religiöse Praxis nachträglich unumstößlichen Grundsätzen einer bestehenden religiösen Tradition anzupassen, um sie als die eigene ausgeben zu können. Unterlassen religiöse Institutionen solche Anpassungsstrategien, verlieren sie den Anspruch auf diese Praktiken und somit an Bedeutung. Bei der honji suijaku-Theorie handelt es sich, wie vorgeführt wird, um ein Produkt solcher theologischen Anpassungsstrategien. Als perfektes Bild für den kollektiven und allgemeinen, doktrinäre Schranken durchbrechenden Charakter des genze riyaku präsentieren Reader und Tanabe das Schatzschiff (takarabune) der sieben Glücksgötter (shichifukujin), das buddhistische und shintôistische Götter zusammen mit Göttern hinduistischen und taoistischen Ursprungs beherbergt. Die Vorstellung, daß es sich bei ihnen um göttliche Geber diesseitigen Nutzens handele, sei das grundlegende Element, das diese Götter miteinander verbinde; nicht als Resultat theologischer Spekulation, sondern als Folge religiöser Praxis bildeten sie eine Einheit.

Im fünften Kapitel wenden sich die Autoren der Dynamik des genze riyaku in der Praxis zu. Der Kauf von Amuletten und die Teilnahme am Ritual ermögliche es, persönliche Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen der Öffentlichkeit zu präsentieren; zum Teil fungierten Priester als Vermittler zwischen Göttern und Menschen, aber die genze riyaku-Praxis gestatte auch ganz private Kommunikation mit den göttlichen Gebern von Wohltaten für den Alltag. Die Höhe der Investitionen für genze riyaku sei von pragmatischen Überlegungen geleitet; bei wichtigen Anliegen werde ein größerer Betrag für ein Amulett bezahlt, aber wenn sich die Situation ergibt, könne man sich der Gunst der Götter auch durch ein Schnäppchen zu versichern versuchen.

Mit den kommerziellen Aspekten des genze riyaku setzt sich das sechste Kapitel auseinander. Ausgehend vom Standpunkt des buddhistischen Priesters Ishida Ekyô, der von einem "Tempel-Kaufhaus" (tera no depato) (S. 207) spricht, zeigen Reader und Tanabe auf, daß religiöse Institutionen zu Innovationen und Diversifikation gezwungen sind, da sie einen Teil ihres Klientels aufgrund veränderter sozialer Bedingungen verlieren. Geschildert wird, wie Tempel und Schreine versuchen, ihr Angebot potentiellen Nutzern nahezubringen, indem sie besondere Veranstaltungen durchführen und auf Werbung in den Medien setzen. Ihr zentrales Anliegen bestehe darin, den Ruf ihrer Institution, effektives genze riyaku zu bieten, aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Ein aufschlußreicher Abschnitt widmet sich den Werbestrategien religiöser Institutionen im Internet. Die Autoren kommen zu folgendem Schluß: "... it is pointless to criticize religious establishments for their economic involvements" (S. 230); Tempel und Schreine, die sich der Notwendigkeit der Werbung verschließen, würden ihre Nutzer und damit die finanzielle Grundlage ihrer Existenz verlieren. Werbung ist nicht nur profitorientiert; sie ist, wie die Autoren darlegen, auch ein Mittel, um religiöse Wahrheit zu bekräftigen; "spirituality and commercialization are in such terms inseparable" (S. 231), schreiben sie, eine Beobachtung, die ebenso zutreffend wie provokativ ist, können sich doch weder Theologen noch Religionswissenschaftler mit dem Gedanken anfreunden, daß Religion auch von so etwas Profanem wie wirtschaftlichen Erwägungen abhängig ist.[3] Die Innovationsfreude und Flexibilität, mit der religiöse Institutionen des Buddhismus und Shintô auf neue Bedürfnisse reagieren, demonstriere zudem, daß die traditionellen Religionen (kisei shûkyô) nicht dem Tode geweiht, sondern im Gegenteil lebendig und dynamisch seien.

Das letzte, siebente Kapitel über Führer durch die Welt des genze riyaku rundet die Auseinandersetzung ab. Anhand eines Führers aus dem 19. Jahrhundert wird die historische Verankerung dieser Praktiken aufgezeigt. Konkurrenz um potentielle Nutzer religiöser Institutionen gab es bereits in der Vergangenheit: Das Jinja bukkaku gankake jûhôji shohen aus dem Jahr 1816 zählt allein sechs Plätze auf, die Erleichterung von Zahnschmerzen gewähren sollen (S. 236). Ebenfalls angeführt werden aktuelle Reiseführer und Verzeichnisse über religiöse Institutionen und ihr diesseitiger Nutzen in ganz Japan. Diese enthielten Wundergeschichten und Erfahrungsberichte; in Aufmachung und Stil zielten sie nicht nur auf Information, sondern auch auf Unterhaltung ab. Die genze riyaku-Praxis steht, wie die Verfasser betonen, in keinem Widerspruch zu den Belangen einer modernen Stadt: So stellt der Tôkyô goriyaku sanpo (Spaziergang durch Tôkyô mit praktischem Nutzen) 76 Orte in Tôkyô vor, an denen man seinem Streben nach göttlichen Wohltaten, etwa nach Hilfe bei der Heilung von Krankheit oder der Verbesserung seiner Karaoke-Leistungen, Ausdruck verleihen kann.

In ihrer Schlußbemerkung stellen Reader und Tanabe die Kompatibilität der Vorstellungen und Praktiken des genze riyaku mit den Anforderungen der modernen Industriegesellschaft Japans heraus; genze riyaku forciere Werte wie harte Arbeit, Pflichterfüllung, Sorgfalt und Fleiß, Werte, die für die moderne Gesellschaft grundlegend sind. Die dem Streben nach diesseitigem Nutzen unterliegenden "magischen" Vorstellungen, die Ereignisse auf übernatürliche Zusammenhänge zurückführen, würden die rationale Ausrichtung der modernen Gesellschaft nicht behindern, sondern sie ergänzen. Sie vermögen die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit auf emotionalem Level zu schließen, wozu eine rein wissenschaftliche Weltsicht nicht in der Lage sei (S. 258-259). Insofern biete genze riyaku ein umfassendes "spiritual care system" (S. 259), das jedermann zugänglich ist. Die Kritik, die an den Neuen Religionen wegen ihres breiten Angebots an praktischem Nutzen geübt wird, erweist sich als unangemessen, steht, wie die Autoren zum Schluß ihrer Studie bekräftigen, das Streben nach diesseitigem Nutzen doch im Mittelpunkt japanischer Religiosität.

Reader und Tanabe gelingt es, mit Hilfe einer Fülle unterschiedlicher Materialien ein umfassendes Bild japanischer Religion zu zeichnen. Die Klippen, die sich bei der Beschäftigung damit auftun, umschiffen sie gekonnt: Sie wird nicht bewertet, sondern beschrieben, eine scheinbar unverständliche Lehre nicht durch den Gebrauch religionswissenschaftlicher Zauberwörter wie "Volksreligion" mystifiziert. Statt dessen erläutern die Autoren ihre Bedeutung und Funktion für die soziale Realität von Religion, ein Unterfangen, bei dem diese Lehren auch ihre vermeintliche Undurchdringbarkeit verlieren.

Da der Band aus diesem Grund nicht nur für Japan-Interessierte, sondern auch für Religionswissenschaftler von großem Interesse ist, wäre es hilfreich gewesen, wenn die Verfasser ihre Ausführungen durch einige Hinweise auf die Problematik buddhistischer Quellen ergänzt[4] und den Zugang zu diesen Quellen durch ausführlichere Angaben erleichert hätten.[5] An einigen Stellen wäre es wünschenswert gewesen, daß die Brauchbarkeit der verwendeten Begriffe kritisch hinterfragt worden wäre. Termini wie "Aberglauben" und "Magie" werden als beschreibende Kategorien eingesetzt, obwohl sie doch eindeutig christliche Polemik enthalten. Der häufige Gebrauch dieser Begriffe konterkariert geradezu das Anliegen der Autoren, Vorstellungen und Praktiken des genze riyaku aus dem abfälligen Urteil herauszulösen, sie stellten allenfalls eine Verzerrung "wahrer" Religion dar. Der Terminus "Spiritualität" erscheint häufig, ohne daß seine Bedeutung näher erläutert wird. Verharrt die Bedeutung eines Begriffes im dunklen, so bleibt auch der Entstehungsgrund für das von ihm bezeichnete Phänomen unklar. In ihrer Schlußbemerkung verweisen die Verfasser auf die Moderne als fruchtbarem Boden für "Spiritualität". Zu bezweifeln ist indes, ob diese Erklärung ausreicht. Hinzuweisen wäre ebenfalls auf den nachhaltigen Einfluß japanischer Intellektueller, allen voran der Religionswissenschaftler, die in ihren Publikationen eine einzigartige japanische Religiosität beschwören[6] und auf die Wirkung der Medien, die durch ihre Berichterstattung die Popularität von Themen wie Religion und "Spiritualität" fördern. Plausibel gemacht wird zwar, daß es für religiöse Institutionen legitim ist, manipulative Techniken wie Werbung einzusetzen, um ihre Existenz zu sichern. Hinzuweisen wäre allerdings ebenfalls auf die unterstützende Wirkung von einflußreichen Autoren und Medien, die die Glaubensbereitschaft an genze riyaku vorantreiben und damit letztlich anti-aufklärerischen Tendenzen Vorschub leisten.

Insgesamt jedoch zeichnet Practically Religious ein revolutionär neues Bild japanischer Religion und bietet eine Fülle von Anregungen für weitere Überlegungen etwa zur Frage nach der Popularität von Neuen Religionen und New Age in Japan. Angesichts der sorgfältig herausgearbeiteten diesseitigen und praktischen Ausrichtung des japanischen Buddhismus erhebt sich die Frage, welcher Zusammenhang eigentlich zu den erfolgreich exportierten Lehren des Zen-Buddhismus in den Westen besteht, wird dieser doch in Europa und Amerika als meditative Selbstsuche interpretiert. Practically Religious demontiert das aus der westlichen Rezeption des Buddhismus resultierende Bild eines Japan, in dem seine Bewohner in meditativer Versenkung auf der Suche nach einer transzendenten Wahrheit sind, und weist statt dessen auf provokante Weise Wege auf, die Rolle des Buddhismus in seiner sozialen Realität neu zu überdenken.

Inken Prohl, Berlin


Fußnoten

[1] Beispielsweise für die Ausführungen über den japanischen Buddhismus von Heinrich DUMOULIN: "Religion und Politik - Die Entwicklung des japanischen Buddhismus bis zur Gegenwart", in: Mircea ELIADE (Hrsg.): Geschichte der religiösen Ideen. Band 3/2. Freiburg/Basel/Wien: Herder 1991, S. 325-409, sowie die Gesamtdarstellung des Buddhismus von Hans Wolfgang SCHUMANN: Buddhismus. Stifter, Schulen und Systeme. München: Diederichs 1993.

[2] Vgl. zum Beispiel D.P. MARTINEZ: "Women and Ritual", in: Jan VAN BREMEN/D.P. MARTINEZ (Hrsg.): Ceremony and Ritual in Japan. London: Routledge 1995, S. 183-209, insb. S. 186-187.

[3] Auf die einfache und naheliegende Frage, wie sich Religionen finanzieren, findet man weder in klassischen Darstellungen der Religionswissenschaft noch in Einführungen in die Religionssoziologie eine Antwort; zu dieser Thematik liegen bislang kaum systematische Untersuchungen vor; vgl. Burkhard GLADIGOW: "Religionsökonomie - Zur Einführung in eine Subdisziplin der Religionswissenschaft", in: Burkhard GLADIGOW/Brigitte LUCHESI (Hrsg.): Lokale Religionsgeschichte. Marburg: Diagonal 1995, S. 253-258.

[4] Mehr Aufmerksamkeit hätte die Frage verdient, welche Texte überhaupt zum buddhistischen Kanon gezählt werden; das angeführte Buch Fragen des Königs Milinda beispielsweise zählt nicht als kanonisches Werk, übte aber trotzdem einen nachhaltigen Einfluß aus. Für den Leser wäre es ergiebiger gewesen, wenn diese Eigentümlichkeiten buddhistischer Quellen deutlicher herausgestellt worden wären.

[5] Hilfreich für den Leser wäre es, wenn für die zitierten buddhistischen Quellen chinesischer und japanischer Name, Herkunft, Entstehungszeit und Stellenwert angegeben worden wären.

[6] Vgl. etwa UMEHARA Takeshi/YAMAORI Tetsuo: Shûkyô no jisatsu. Nihondin no atarashii shinkô wo motomete. Tôkyô: PHP 1995.


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