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Einführung in die Psychosomatik und Somatopsychologie 3
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Gerald Mackenthun, Berlin

Einführung in die Psychosomatik und Somatopsychologie

3. Geschichte der Psychosomatik I

(Folie 4)

Psychosomatik ist als Wissenschaft kaum 100 Jahre alt, hat aber eine bis in die Antike zurückreichende Tradition, die teilweise bis in unsere Zeit wirkt. Der Eid des Hippokrates hat noch heute Gültigkeit für die Ärzte. Dieser um 460 v.Chr. geborene griechische Arzt stellte eine Temperamentenlehre auf (die später von dem römischen Arzt Galen - 129-199 n.Chr.- übernommen wurde), wonach durch die ungleiche Mischung der vier Körpersäfte Blut, Schleim, der gelben und der schwarzen Galle vier Typen mit unterschiedlichen seelischen Ausdrucksformen entstehen: der heitere Sanguiniker, der aufbrausend-unzufriedene Choleriker, der langsame Phlegmatiker und der schwerblütig-herabgestimmte Melancholiker. Diese Typisierung wird noch heute im Alltag verwendet, wenngleich ihre "wissenschaftliche Basis" als überholt gelten muß.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Antike bis in die Neuzeit wirkt, ist der Begriff der Hysterie, die von den Griechen als Folge einer Erkrankung der Gebärmutter aufgefaßt wurde. Man stellte sich damals vor, die Gebärmutter wandere im Leib herum und mache die Frauen verrückt. Sie wurde im 18. Jahrhundert mit Aderlaß und kalten Fußbädern bekämpft. Bei der antiken Säftelehre (Humoralpathologie) und Hysterievorstellung handelte es sich um frühe somatopsychische Konzepte: Körperliche Zustände bewirken seelische Krankheiten. Die Säftelehre nahm beispielsweise an, daß ein Zuviel an schwarzer Galle zu Melancholie und Krebs führe. Letzte Ausläufer dieser alten Anschauung reichen bis in die Mitte unseres Jahrhunderts, indem nämlich die Schädlichkeit der Onanie betont wurde. Der "Schleim" kam dieser Anschauung zufolge direkt aus dem Gehirn beziehungsweise dem Rückenmark; exzessive Onanie führe direkt zu Siechtum und Schwachsinn, wurde gewarnt. Wenn heute noch besorgte Eltern ihre Jungen dazu anhalten, die Hände des nachts über der Bettdecke zu halten, so folgen sie - ohne es zu ahnen - den Anweisungen der 2000 Jahre alten Säftelehre.

Die antike Vorstellung von "Hysterie" wurde erst vor 100 Jahren aufgegeben, als klar wurde, daß die Gebärmutter nicht wandert und auch Männer als hysterisch diagnostiziert wurden. Daran hat die Psychoanalyse großen Anteil, die zugleich das Ursachen-Wirkungsgefüge umdrehte. Sie nahm an, daß auf Grundlage bestimmter Persönlichkeitsmerkmale sowie unbewußter, nicht lösbarer Konflikte eine Hysterie entsteht, die sich sowohl psychisch (in Form von Dämmerzuständen, Wahnvorstellungen, Schrei- und Weinkrämpfen) als auch körperlich (Zittern, Lähmungen, Herz- und Magenschmerzen) manifestiert. (Meyers Kleines Lexikon Psychologie, 1986, 158)

Die primitive Heilkunst war in hohem Maße psychosomatisch, ebenso die Generationen von Magnetiseuren und Hypnotiseuren des 18. und 19. Jahrhunderts. Nicht allein die Medizin der Romantik verkündete, körperliche Erkrankungen könnten emotionale Ursachen haben. Die Bezeichnung "psychosomatisch" tauchte zuerst bei J.Ch.A.Heinroth (1818) auf, der als sogenannter Psychiker der romantischen Medizin Krankheit weitgehend als Folge von Sünde und Schuldgefühl ansah. Die Psychiker stellten die psychischen Ursprünge von Geisteskrankheiten in den Vordergrund, im Gegensatz zu den Physikern (Organikern). Zu den romantischen Ärzten zählen neben Heinroth Karl Wilhelm Ideler, Heinrich Wilhelm Neumann und Carl Gustav Carus, die alle zutiefst von der Bedeutung der Psychotherapie überzeugt waren. Allerdings besteht die romantische Medizin aus einem Wirrwarr von vagen und verwickelten Spekulationen und sie war fast gänzlich unbeeindruckt von der philosophischen Aufklärung, aber sie hat auch eine Reihe wertvoller Einsichten erbracht: Indem sich die Romantik so stark mit der Natur beschäftigte, wählte sie auch das Unbewußte, die Frauen, die Kinder und das "gesunde Leben" (Diätetik; hat nichts mit Diät zu tun, sondern mit griech. diaita = Lebensweise) zum Gegenstand. Im 18. Jahrhundert mischten sich naturphilosophische, mystisch-religiöse, neurophysiologische, psychosomatische und tiefenpsychologische Elemente. Gegen die Gehirn-Anatomen und die exakte Wissenschaft hatte sie aber letztlich keine Chance und sie geriet in den Hintergrund. Mit mindestens einer Ausnahme: der Homöopathie. Vor über 200 Jahren von Hahnemann formuliert und bis heute nicht wissenschaftlich begründet, erfreut sie sich anhaltender Beliebtheit.

Am Ende des 19. Jahrhunderts waren es Kliniker wie A.Kussmaul, C.v.Liebermeister und O.Rosenbach, die in breitem Maße individuelle und lebensgeschichtliche Zusammenhänge in die Ätiologie von Krankheiten einbezogen. Mit ein Anlaß für die Entwicklung der modernen "biographischen Medizin" waren die großen Unterschiede im Verlauf und in der Prognose von Erkrankungen wie Cholera und Tuberkulose. Selbst in der damaligen Hochblüte der naturwissenschaftlichen Wissenschaftsgläubigkeit gaben sie Anstoß, nach der individuellen Krankengeschichte und den sozialen Umständen zu fragen. (Kindlers Psychosomatik, Bd.1, 34-42)

Die medizinisch-anthropologische Szene der Psychosomatik ist ausgesprochen polyphon und kaum auf einen Begriff zu bringen. Die Entwicklung vollzog sich grob gesprochen in zwei Hauptrichtungen: einerseits eine spekulierende, mit Hypothesen arbeitende, stark anthropologisch und naturphilosophisch ausgerichtete Strömung, andererseits eine experimentell und empirisch orientierte Richtung, die die Interaktion zwischen Soma und Psyche erforschen wollte und die in Form der Epidemiologie nach Zusammenhängen fragte und daraus eine Krankheitsprophylaxe ableitete. Ihnen ist immerhin gemeinsam, daß sie den Menschen als Person in der Medizin ernst nehmen. Sie verstehen sich als eine Art Gegenbewegung gegen die rein naturwissenschaftlich ausgerichtete, materialistische Medizin. Die Bedeutung der erkrankten Person und ihres sozialen Umfeldes gegenüber der reinen Krankheitsbetrachtung wird von allen psychosomatischen Richtungen besonders betont. Alle ihre Ausführungen sind in therapeutischer Hinsicht wichtig, weil ihre Kenntnis dem Psychologen und dem Arzt Orientierung geben für den Umgang mit den Patienten. Ihre Gemeinsamkeit liegt in dem hohen Stellenwert, den die Gesprächsführung einnimmt. Die Besonderheit liegt im Arzt-Patienten-Verhältnis; ihm wird tragende Eigenschaften für Verstehen und Heilung zugesprochen. In der angewandten Psychosomatik (im Gegensatz zur forschenden P.) bestehen allerdings erhebliche Divergenzen, was die Art der Gesprächsführung, die anzusprechenden Inhalte und die Interpretationen angeht.

Die Psychosomatik wäre nicht denkbar ohne die Psychoanalyse und die anderen Schulen der Tiefenpsychologie. Sigmund Freud begann vor 100 Jahren, den Hysterikerinnen und ihrer Lebensgeschichte ernsthaft zuzuhören. Der berühmte Psychiater Pierre Charcot in Paris hatte den dort behandelten Hysterikerinnen nie eine Frage dazu gestellt. Das Hauptmerkmal der Tiefenpsychologie ist die Annahme eines Unbewußten in der Psyche. Postuliert wird, daß bewußte und unbewußte Konflikte sowie Lebenskrisen Krankheitsursachen sein können, wobei namentlich die Psychoanalyse vor allem auf sexuelle Konflikte abhebt. Freud und seine Schule konzentrierte sich auf die psychologische Denkweise, daß heißt auf die psychogenen Faktoren funktioneller Krankheiten. In dem tastenden Voranschreiten wurden auch Irrwege eingeschlagen, so wenn Asthma bronchiale als Sexualneurose oder als "Libidoverschiebung in den Respirationstrakt" angesehen wurde. Das war 1913 von Paul Federn in der Freudschen Mittwoch-Gesellschaft vorgetragen worden (Bräutigam et al 1991, 183). Eine psychogenetische, gar sexualneurotische Verursachung wurde ohne weiteres bei vielen körperlichen Beschwerden und Störungen angenommen. In den ersten Entwicklungsjahrzehnten der Psychosomatik war es wichtig, seelische Faktoren überhaupt als ursächliche oder fördernde Einflüsse auf körperliche Krankheiten anzuerkennen. Heute können wir dieses wilde Theoretisieren oft nur noch mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen.

Prägend für die Psychosomatik wurde der psychoanalytische Begriff der Konversion, eingeführt von Freud in den Studien über Hysterie 1895. Psychische Erregung, die nicht adäquat verarbeitet oder abgeführt werden kann, "springt" in einen Körperteil, wird also umgewandelt (konvertiert). Das körperliche Leiden ist in dieser Vorstellung Symbol des unerkannten, unbewußten, akuten oder schleichenden Konflikts bzw. Traumas. Das körperliche Symptom wird zum Ersatz von Sprache. Das Ziel der Konversion bestand darin, einen Konflikt scheinbar zu lösen und seelischen Schmerz zu ersparen. Freud war mit der erste, der die Wirkung von Erlebnissen untersuchte und daraus ein kausales Erklärungsmodell ableitete.

Was die Ursachen psychosomatischer Erkrankungen (und dem Sonderproblem der Hysterie) angeht, so hebt die Psychoanalyse ab auf "prägenitale Reifungstörungen". Prägenital heißt nicht mehr als "vor Erlangung der Geschlechtsreife". Tatsächlich ist eine frühkindliche Störung gemeint, wenn nämlich die Zwei-Personen-Beziehung Mutter-Kind in charakteristischer Weise gestört war und/oder die Drei-Personen-Beziehung zum Vater hin schief oder gar nicht ausgebildet werden konnte. Relativer Selbständigkeit, die Ausweitung der Beziehungen über die Familie hinaus und eine konstante Selbstsicherheit konnten so nicht erworben werden. Die Überbehütung der Eltern (Verwöhnung) korrespondiert mit "emotionaler Hörigkeit" des Kindes. Die Psychoanalyse spricht von einem Abhängigkeits-/Unabhängigkeits- bzw. Nähe-/Distanzkonflikt. Weitere, zur psychosomatischen Störung disponierende Faktoren sind Gefühlsretriktion, eingeschränkte Introspektion, innere Verunsicherung (Minderwertigkeitsempfindung), Hemmung der Selbstäußerung und Depression/Hoffnungslosigkeit.

Relativ vorsichtig ging der Wiener Individualpsychologe Alfred Adler (1870 - 1937) zu Werke, der davon sprach, daß Organe in ihrem Defekt oder in ihrer Funktionsstörung Ausdruck des gesamten Lebensstils eines Menschen sein können. Adler gilt - ähnlich wie Freud - nicht als "eigentlicher Psychosomatiker", aber mit Begriffen wie Minderwertigkeit von Organen und körperlicher wie geistiger Kompensation (einer tatsächlichen oder erlebten organischen Minderleistung oder sozialen Zurücksetzung) regte er die Psychosomatik an. Jeder Organismus und jeder Mensch strebe danach, (organische) Unterfunktionalität oder (psychische) Kleinheitsgefühle durch Anstrengung und Leistung an anderer Stelle kompensatorisch auszugleichen. Organe haben eine Sprache oder einen Dialekt und drücken damit etwas aus, genauso wie in symbolischer Sprache innere Zustände und Gedanken ausgedrückt werden können. Der symbolische Mensch schafft und gestaltet sich eine kulturelle Welt; biologische und körperliche Phänomene sind immer von einer sehr individuellen Bedeutungsschicht überzogen. (mehr zu Adler in der 7.Vorlesung) Kisker et al betonen aber, "die psychophysischen Mechanismen im einzelnen, insbesondere auch die Frage der 'Organwahl', sind ungeklärt." ( 1991, 118)

Die These, daß in bestimmten Fällen (vor allem in der Hysterie) die körperliche Störung "Ersatz" für einen ungelösten seelischen Konflikt sei, wurde in den 50er Jahren von Felix Deutsch, Otto Fenichel und Franz Alexander in Frage gestellt; es gebe keine sichere Korrelation zwischen Konflikt und körperlichem Ausdruck. Freuds Konzept erwies sich als zu eng und wurde von Franz Alexander in den USA und Harald Schultz-Hencke in Deutschland modifiziert. Zum einen hieß es jetzt, daß Psychosomatik nicht nur Ersatz und Ausdruck innerseelischer Konflikte und Phantasien seien, sondern diese auch begleiten können, also parallel auftreten (Begleiterscheinung). Gegen die Konversionstheorie spreche, daß eine physiologische Reaktion wie beispielsweise hoher Blutdruck keineswegs vom begleitenden Affekt wie beispielsweise Wut entlastet, was die frühe Psychoanalyse noch angenommen hatte.

Gleichzeitig wurde die Spezifität in Frage gestellt. Der Begriff der Spezifität in der Psychosomatik bedeutet, daß bestimmte psychosomatische Symptome in regelhafter Weise mit bestimmten psychischen Konstellationen und Konflikten korreliert. Je mehr man wußte, desto weniger konnten diese Regeln nachgewiesen werden; einzelne somatische Symptome konnten nicht mehr zeitlich und inhaltlich bestimmten Konflikten zugeordnet werden. In einer pointierten Bemerkung von H.G.Wolff (1947) heißt es, eine Schwellung und Verengung der Nase sei nützlich gegen Staub und reizende Gase, aber nicht effektiv gegen die Demütigungen einer unerwiderten Liebe. Das körperliche Symptom ist zwar vorhanden, aber inhaltlich "leer" (Kindlers Psychosomatik Bd.1, 128f). Wolff meinte, der psychosomatische Patient, der keine Möglichkeit zu einer Konfliktlösung findet, reagiert mit biologisch vorgegebenen Anpassungs- und Schutzfunktionen auf eine symbolische oder reale Bedrohung seiner Leiblichkeit und seiner Lebensbezüge, doch von der somatischen Pathologie lasse sich nicht rückschließen auf den psychischen Konflikt. Wolf belegte in empirischen Untersuchungen aber durchaus, daß psychologische und soziale Faktoren eine somato-pathogene Wirkung haben. (ebenda, 129)

Viele Autoren wie die in die USA ausgewanderte Flanders Dunbar (Psychosomatic Diagnosis, 1943) vertraten die These, wonach einzelne psychosomatische Erkrankungen sich bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und Eigenschaftsprofilen zuordnen lassen. Der Gegenstand der Spezifität verschob sich vom frühkindlichen Libidoschicksal (Freud) zur charakterlichen Prädisposition für eine psychosomatische Erkrankung. Dazu ein Beispiel von W.Schwidder aus dem Jahre 1965 zur Ulcuskrankheit: "Keiner meiner Patienten hat es in der Kindheit gelernt, seine Besitzwünsche adäquat durchzusetzen oder auf sie zu verzichten. Meist kam es zu einem oberflächlichen, durch Ideologie verbrämten Verzicht, während Sprengstücke habgieriger Wünsche zu einer ständigen Beunruhigung werden, zu einem Spannungszustand führen, der nicht gelöst werden kann, da die Herkunft der Sprengstücke nach langer eingeübter Verdrängung nicht mehr bewußt wird... Im mitmenschlichen Erleben zeigen sich: Ungeduld, latenter Neid auf Bessergestellte (...), hochgespannte Erwartungen hinsichtlich einer mütterlich-stärkenden Atmosphäre... häufige Enttäuschungs- und Ärgerreaktionen" (Kindlers Psychosomatik Bd.1, 144). Der von Berlin nach Chicago emigrierte Franz Alexander (1891-1964) postulierte nach dem Zweiten Weltkrieg, daß Magenfunktionen durch bestimmte Wünsche nach Geld, Liebe oder Kinder gestört werden können. Allgemeiner: Jeder emotionale Zustand hat sein eigenes physiologisches Syndrom. Eine große Untersuchung an amerikanischen Rekruten erbrachte in den 50er Jahren in der Tat, daß die Ulcusentstehung mit erhöhter Säuresekretion und erhöhter Abhängigkeitsproblematik (Trennung von der Familie wegen Militärdienst) zusammenhängt. Daraus konnte eine Prognose abgeleitet werden. Die Untersuchung von Weiner von 1957 über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Ulcuserkrankungen bei Rekruten war fast die erste interdisziplinäre Studie im Bereich der Psychosomatik, das heißt zum ersten Mal wurde ernsthaft versucht, über den engen Kreis der psychosomatischen Modellbildung hinaus den Wahrheitsgehalt einer Modellvorstellung zu untersuchen. (Kindlers Psychosomatik Band 1, S. 298)

Ein anderes Spezifitätsmodell vertritt Harald Schultz-Hencke (1951): Aufgrund von traumatischen Belastungen in der frühen Kindheit, die sich unter die Kategorien Härte und Verwöhnung subsumieren lassen, kommt es zur Hemmung vitaler Bedürfnisse. Je nachdem, in welchem Alter hauptsächlich gehemmt wird, bildet der Mensch schizoide, depressive, zwangsneurotische oder hysterische Neurosestrukturen aus. Das Körpersymptom, das neurotische psychische Symptom und das neurotische Verhalten sind "Sprengstücke" Überbleibsel) eines ursprünglich vollständigen Antriebs. (Kindlers Psychosomatik, Bd.1, 139f)

Diese Persönlichkeitsprofile wurden später als zu generalisierend und als anfechtbar kritisiert. Heute geht man davon aus, daß an der Entstehung psychosomatischer Erkrankungen immer spezifische und unspezifische Faktoren beteiligt sind. Die Suche nach einem einzigen Erklärungsprinzip (Konversion, Regression, Persönlichkeitstyp) war ein Irrweg. Der Internist und "Leibarzt" Freuds, Max Schur, versuchte ihn zu vermeiden, indem er betonte, daß die Reaktion auf jeglichen denkbaren Konflikt (Belastung, Gefahr, Angst, Stressoren) eine spezifische Organreaktion auslöst, wobei spezifisch hier aber individuell heißt. Schur betonte ausdrücklich, daß er bei Neurodermitispatienten (die er vorzugsweise behandelte) keine Spezifität hinsichtlich Konflikt, Abwehr sexueller Triebregungen oder Persönlichkeitstypus feststellen konnte.

Was ist dann aber das Gemeinsame der Psychosomatik? Die Forscher sind auf der Suche danach verschiedene Wege gegangen; einige waren beeindruckt von der Suche nach dem Gemeinsamen, das alle oder zumindest möglichst viele Kranke mit psychosomatischer Symptomatik auszeichnet, andere sahen die Unterschiede und bildeten Untergruppen in klinischen Einheiten wie beispielsweise Asthma bronchiale, um nun in diesen kleineren Einheiten nach dem Gemeinsamen zu fahnden.

Dieser ersten, generalisierenden Gruppe fiel beispielsweise auf, daß viele psychosomatisch Kranke sich nicht nur im Vergleich zu Gesunden, sondern auch gegenüber Neurotikern deutlich unterscheiden in ihren sprachlichen Äußerungen, die als banal, steril, leer und ohne Entwicklungsfähigkeit beschrieben wird. Die Patienten seien oft unfähig zu einer echten Übertragungsbeziehung. Es bestehe eine sprachliche Armut, eine Alexie (Wortblindheit) und daneben eine Unfähigkeit zu Phantasien. Daraus wurde versucht, eine psychosomatische Persönlichkeitsstruktur abzuleiten, die durch eine eigentümliche Einschränkung der Phantasietätigkeit und des symbolischen Denkens, der Gefühlseinschränkung, der starken gesellschaftlichen Angepaßtheit (Hypernormalität) und der Unfähigkeit zu einer echten Objekt- und Übertragungsbeziehung gekennzeichnet sei (Kindlers Psychosomatik Bd.1, 156-161).

Die Hypothese von der allgemeinen psychosomatischen Struktur trifft aber auf viele Gegenargumente, allein schon weil nicht angegeben werden konnte, warum sich diese Patienten so geben. Diese Struktur ist einfach zu unspezifisch; solche Verhaltensweisen findet man nicht nur bei psychosomatischen Kranken, sondern auch bei nicht wenigen Neurotikern und bei Gesunden.

Da das Spezifitätsmodell auch ein Kausalmodell ist, wurde es entsprechend scharf kritisiert. Wolff hatte schon 1947 angeführt, es gäbe keine konstante psychosomatische Spezifität von Persönlichkeitskonflikt und "Organwahl". Schon kurz nach dem Krieg wurde in Frage gestellt, daß es Persönlichkeitscharakteristika für Magenkranke oder Hypertoniker gäbe. Vielmehr wurde von der skeptischen Richtung angenommen, daß die psychosomatische Beschwerde eine situationsabhängige Antwort auf Belastungen sei, die mit bestimmten Persönlichkeitsstrukturen eher nichts zu tun habe. Die Autoren dieser Richtung unterscheiden sich allerdings auch wieder, und zwar in der Gewichtung der Bedeutung einer Situation, auf die im seelischen Erleben wie in der leiblichen Reaktionsweise eine Antwort gegeben wird. Belastende Konstellationen in der Kindheit werden von ihnen eher ignoriert.

Körperlicher Ausdruck ist immer auch Kommunikation mit der Umwelt und gestaltet die Beziehungen zu den Mitmenschen mit. Der Kommunikationsaspekt wurde von Autoren wie Bateson, Beaven, Jackson und Watzlawick breit ausgebaut. Doch manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Körper ein Kauderwelsch spricht, der nur schwer oder gar nicht zu entziffern ist. Weil der Körper so wenig Ausdrucksmöglichkeiten hat (neben Wohlbefinden eigentlich nur Müdigkeit, Schmerz, Entzündung und Krebs), läßt sich viel hineininterpretieren.

In der anthropologischen Medizin wird der Konflikt als Ausgangspunkt einer psychosomatischen Erkrankung angesehen. "Konflikt" weist auf die Widersprüchlichkeit des menschlichen Handelns und Wollens hin, ferner auf die situationsbedingte, dynamische Form des menschlichen Lebens. Die Idee vom "Konflikt" verschmilzt mit dem Kommunikationsaspekt in der Theorie von der Krankheit als Kommunikationseinschränkung. Die situative Dynamik entsteht durch die Art und Weise, wie wir kommunizieren (einschließlich der nonverbalen Kommunikation und der Verweigerung von Kommunikation). Krankheit ist dann der Verlust von Möglichkeiten, sich frei und angemessen auszutauschen. Jegliche Krankheit ist so gesehen eine "Dekompensation der Ganzheit der Person". Krankheit macht den Menschen kleiner. Dieter Wyss hat dies am Beispiel der Frigidität ausgeführt: Frigidität wäre demnach eine Einschränkung oder ein Abbruch der innerpersonalen Beziehungen zum leiblich-sinnlichen Bereich. Kommunikationseinschränkungen implizieren Angst. Warum diese Angst sich z.B. nicht als Herzangst äußert, könne aus der besonderen Bedeutung des Orgasmus für die Person erschlossen werden. Ein Triebkonflikt (auf den die Psychoanalyse so stark insistiert) ist für diese Schule der Psychosomatik allerdings keine Krankheitsursache, sondern ein nicht zu umgehender Bestandteil der menschlichen Existenz und damit nicht spezifisch genug, um eine psychosomatische Erkrankung zu erklären. (Kindlers Psychosomatik, Bd.1, 195ff)

Aber ich greife vor. Die Psychosomatik kam nach dem Ersten Weltkrieg deutlich in Fahrt durch Personen wie Ludolf von Krehl (seit 1907 Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg; er kreierte die "Heidelberger Schule"), Georg Groddeck, Viktor von Weizsäcker, Felix Deutsch, Flunders Dunbar, Franz Alexander, Arthur Jores und Alexander Mitscherlich.

Die "funktionelle Pathologie" des Internisten Gustav von Bergmann (1878 - 1955) repräsentiert einen Teil des Missing link zwischen der seelisch-geistigen Befindlichkeit eines Menschen (beispielsweise seiner Affekte) und seiner körperlichen Gesundheit oder Krankheit. Die schon von Franz Alexander 1950 formulierte These lautet, daß lang anhaltende Affekte funktionelle Störungen eines Organs hervorrufen oder begleiten, z. B. verringerte Durchblutung, was sich über längere Zeit anhaltend zu einem körperlichen Schaden auswächst. Kann emotionale Dauerspannung nicht abklingen und zur Ruhelage zurückkehren, kann eine organische Erkrankung resultieren, die wiederum weitere Störungen nach sich zieht. Viele Erkrankungen gedeihen auf dem Boden starker, den Körper und das Vegetativum in Aufruhr versetzende Affekte. Neid, Geiz, Eifersucht, Haß, Ärger, Angst oder Wut fehlen nach Ansicht einiger psychosomatischer Theoretiker (angeblich) fast nie in der Vorgeschichte und im Verlauf chronischer und psychosomatischer Erkrankungen. Nach Alexander muß aber noch etwas hinzukommen: die Hemmung dieser feindselig-aggressiven Antriebe, ihre nicht adäquate Abführung. Es reicht psychodynamisch also nicht, Affekte festzustellen und zu bearbeiten, teilweise muß auch die Hemmung und Blockierung aufgelöst und den Affekten einen angemessenen Ausdruck verschafft werden. Es wäre zudem falsch, sich nur auf unsoziale Affekte zu konzentrieren. Auch unerfüllte Wünsche beispielsweise nach Zärtlichkeit in einer emotional kargen Familie können zu einer Dauerspannung mit körperlichen Veränderungen - akut oder chronisch - führen.

Für eine Reintegration der Geisteswissenschaften in die Naturwissenschaften und damit auch in die Medizin setzt sich der Internist und Neurologe Ludolf von Krehl (1861 - 1937) ein. Während Ärzte wie Friedrich Kraus in Berlin den Urgrund alles Menschlichen im Vegetativen sahen, hatte Krehl die Vorstellung, daß der Motor aller Vorgänge und Handlungen etwas Seelisches sei, nämlich die "Einheit der Persönlichkeit". Diese Medizin versucht, nicht Krankheiten, sondern kranke Menschen zu behandeln. Krehl hatte damit Grundlagen einer anthropologischen Medizin und personalen Heilkunde gelegt. Man könnte auch von biographischer Medizin sprechen, wie der ebenfalls in Heidelberg tätige Richard Siebeck (1883 - 1965) sein Programm nannte, das sich ernsthaft mit der Not und dem Schicksal der Kranken befaßt.

Mit dem Internisten und Neurologen Viktor von Weizsäcker (1886 - 1957), Nachfolger von Krehl und Siebeck in der "Heidelberger Schule der Psychosomatik", betreten wir das eigentliche Feld der Psychosomatik, in dem der Arzt die Krankheit des Patienten verstehen und ihr einen Sinn geben will. Weizsäcker vertrat die Auffassung, daß Krankheiten zwischen den Menschen und ihren Begegnungsarten stattfindet. Im Rahmen seiner "Pathosophie" prägte er dafür in den 30er und 40er Jahren den Begriff des "Gestaltkreises" (Der Gestaltkreis 1940). Körperliche Krankheit wird nicht als isolierte Organstörung aufgefaßt, sondern als Produkt psychosozialer Beziehungen. Die Erkrankung ist eine Krise mit Stellvertreterfunktion für eine aus dem Gleichgewicht geratene soziale Situation. Von Bedeutung für das Verständnis ist die Einbettung der Krankheit in einen Lebensentwurf und die Ausrichtung auf das Lebensziel des Erkrankten hin. Dann ist der Schritt nicht mehr weit festzustellen, daß sie vom Subjekt gestaltet, gemacht, ja gewollt ist. (Rattner/Danzer 1998, 110ff)

Einige Krankheiten wurden von Weizsäcker als "Ersatz für nicht gelebtes Leben" aufgefaßt. Dazu ein Beispiel: "Ein junges Mädchen wird mit starker Angina, unfähig auch nur zu sprechen, in die Klinik eingeliefert. Ein junger Arzt äußert nach der Untersuchung: 'Na, da haben Sie sich ja was Schönes geholt', worauf sie spricht und sagt: 'Das ist immer noch besser, als ein Kind kriegen'. Später stellt sich heraus, daß sie am Vortage dem Drängen des Verehrers, welches solche Folgen hätte haben können, widerstanden hat." (Weizsäcker, zit.in. Kindlers Psychosomatik, Bd.1, 192f)

Psychosomatik als Ersatz für nicht gelebtes Leben? So lautete die These von Weizsäcker. Aber ist nicht auch ein psychosmatisches Symptom "gelebtes Leben"? Jedes Leben ist "gelebt"; wenn es nicht gelebt wird, ist der Tod eingetreten. Auch Krankheiten sind "gelebtes Leben", wenn auch von anderer, möglicherweise minderer Qualität als Gesundheit. Halten die Ärzte eine starke Angina für minder wertvoll im Verhältnis zu einer Schwangerschaft? Womöglich zu einer ungewollten Schwangerschaft? Drückt sich darin nicht eine männliche Wertvorstellung aus, die dem "jungen Mädchen" fraglos übergestülpt wird? Fragen über Fragen. Bei genauerem Nachdenken erweist sich die These als brüchig, wenn nicht gar als falsch.

Wie auch immer - körperliche Prozesse und Störungen wurden von Weizsäcker als Äquivalente, nicht als Folge einer lebensgeschichtlichen Krise des betroffenen Patienten verstanden. Das heißt auch: Zwischen dem Beginn lebensgeschichtlicher Krisen und den körperlichen Veränderungen besteht kein kausales Verhältnis. Seele und Leib sind vielmehr zwei Seiten einer Medaille, die sich gegenseitig in ihren Ausdrucksmöglichkeiten ergänzen und vertreten können. Der Arzt befindet sich wie in einer Drehtüre, die ihn abwechselnd in zwei Räume führt, ohne daß er in beiden gleichzeitig sein könnte. Mal steht die seelische, mal die körperliche Seite des Patienten im Vordergrund der Betrachtung des Arztes. Anhand vieler Fallgeschichten - veröffentlicht u.a. in Körpergeschehen und Neurose 1947 - konnte Weizsäcker für so unterschiedliche Krankheiten wie hysterische Lähmungen, Tachykardie oder Diabetes insipidus nachweisen, daß sie "an Wendepunkten biographischer Krisen stehen oder in die schleichende Krise eines ganzen Lebens eingeflochten sind".

Gerade Psychosomatik-Patienten mit psychischer Unauffälligkeit verbergen große existentielle Nöte, die einer "doppelten Verdrängung" anheimfallen, wie es der Heidelberger Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908 - 1982) es formulierte. Die erste Verdrängung seelisch "unverdaulicher" Zustände geschieht noch kraft mentaler Anstrengung. Die zweite Phase der Verdrängung wird für Mitscherlich dann erforderlich, wenn die seelische Abwehrstrategie allein nicht mehr imstande ist, einen Konflikt ins Unbewußte abzudrängen. Dermaßen bedrängte Menschen greifen dann zu körperlichen Erkrankungen. Eßstörungen, Magengeschwüre, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Scherzen, Verdauungsstörungen, Atmungsanomalien sind dieser Auffassung zufolge Resultat einer zweiphasigen Abwehr. Anhand des Ulcus ventriculi et duodeni führte Mitscherlich seine These weiter aus: Magengeschwürs-Patienten hätten schon eine relativ hohe Magensäure-Sekretion, die bei Affekten noch weiter in die Höhe schnelle und so zu einer Ulcus-Genese beitrage. (Rattner/Danzer 1998, 112ff)

Einer, der sich virtuos in der Psychosomatik bewegte, war der Zürcher Arzt Medard Boss, der seine Schule "Daseinsanalyse" nannte und der stark von Martin Heidegger beeinflußt war. Er suchte nach dem Kern, dem Wesen, dem eigentlichen Gehalt von seelischen wie körperlichen Erkrankungen, mit anderen Worten, er wollte den Phänomenen auf die Spur kommen und ihnen ein anthropologisches Fundament geben. Neben der Hermeneutik kommt hier eine spezielle Auffassung von Phänomenologie als Methode des Erkennens zum Tragen. Eine daseinsanalytische Kernthese besagt, daß der Mensch erkrankt, wenn existentielle Lebensbezüge gekappt werden. Während der Gesunde über seine Möglichkeiten frei verfügen kann, geht dem Kranken diese Autonomie teilweise oder ganz verloren. Die Kümmerform eines adäquaten, gesunden Verhaltens nannte Boss eine Privation, was wörtlich Beraubung, Mangel bedeutet.

Arthur Jores (1901 - 1982), ein Hamburger Internist, setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg für die Integration der Tiefenpsychologie und ihres Konzept des Unbewußten in die wissenschaftliche Medizin ein und erhielt den ersten Lehrstuhl für Psychosomatik in Hamburg. Sein Werk Der Mensch und seine Krankheit (1956) weist ihn als "anthropologischen Mediziner" aus. Seine Ausgangsthese war, daß Krankheiten wie Hypertonie, Magengeschwüre, Allergien, Fettsucht, Asthma usw. "spezifisch menschliche Krankheiten" seien, weil sie angeblich bei in freier Natur lebenden Tieren nicht auftreten. Die anthropologische Medizin fragt nicht nach den Ursachen, sondern nach dem Wozu? Dazu werden menschliche Kategorien wie Liebe und Haß, Treue und Glauben in die Betrachtungen mit einbezogen. Der Mensch habe die evolutionäre Aufgabe, sich zu entfalten, aber diese Freiheit könne er auch benutzen, sich gegen "das Leben" zu entscheiden. Ein instruktives Beipiel von verhinderter Selbstentfaltung und verfehltem Lebenssinn gibt die gemeinsam mit H.C.Puchta durchgeführte Untersuchung an 63 Hamburger Beamten, die 1945 wegen ihrer Tätigkeit unter den Nazis entlassen worden waren. Innerhalb von fünf Jahren starben zwei Drittel von ihnen an Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs, obwohl manche von ihnen zwischen 30 und 40 Jahre alt waren. Jores machte ethisches Versagen, Sinn- und Hoffnungslosigkeit, existentielle Angst und Entwurzelung als Krankheitsursachen namhaft. Ein wesentlicher Sinn der Krankheit liegt somit darin, den Menschen aufzurütteln, und ihm klarzumachen, daß er seine humanen Möglichkeiten nicht entfaltet hat. (Rattner/Danzer 1998, 135ff)

Einige Gemeinsamkeiten

Die personale und anthropologische Medizin ist beobachtend, verstehend und intuierend; sie stellt die Rolle des distanzierten Arztes in Frage. Der Kernpunkt ist, daß der Mensch seine Krankheit nicht nur bekommt und hat, sondern in gewissen Grenzen macht und gestaltet; daß er sein Leiden nicht nur duldet und fortwünscht, sondern manchmal auch benutzt, braucht und möglicherweise will. Die Betrachtung des gelebten Lebens und der Tat spielt dabei eine ebenso große Rolle wie die Betrachtung des ungelebten Lebens und der verhinderten Tat, man könnte auch von der Teleologie des Menschen und seines Noch-Nicht sprechen. Der Mensch ist auf zukünftige, oft noch nicht klar definierte Wünsche und Ziele ausgerichtet. Unausgesprochene und oft widersprüchliche Erwartungen haben psychosomatische Relevanz. Dieser Zugang, wie ihn Viktor von Weizsäcker 1956 in seiner "Pathosophie" ausformulierte, führt Kategorien ein wie das Erleiden und Erfahren des Lebens, die Verflochtenheit in das Dasein, die Kategorien Wollen, Können, Müssen, Dürfen und Sollen, die auch den Zwang zur Entscheidung und Stellungnahme beinhalten, aber auch die Freiheit der Gestaltung. Zentral ist hier der Gebrauch des Begriffs der Krise, der Wendepunkt und Umschlag bezeichnet auf dem Lebensweg. Der Mensch ist in seiner Umwelt hineingesetzt und schafft sie sich gleichzeitig, was den Handlungs- und Gefühlsspielraum des Individuums betont.

Neben diesen Kategorien und Elementen weist die Menschen nach Weizsäcker auch noch "antilogische" Tendenzen auf. Krisen und Konflikte ergeben sich aus dem Widerstreit mit anderen, mit den Institutionen und mit den eigenen widersprüchlichen Wünschen. Vernunft und Geist sind nach logischen Prinzipien aufgebaut - sollten es zumindest sein -, aber Weizsäcker erkannte ganz richtig die Widersprüche und Brüche in den Biographien, den Wünschen und den Entscheidungen. Die Zerrissenheit im Menschen ist ebenso eine Konstante wie der ständige Versuch, sich eine geradlinige und "glatte" Biographie zuzulegen, und die Zufälle und Absurditäten, die das Leben bereithält, zu dämpfen oder zu integrieren. Antilogisches Verhalten ist ebenso ein Anthropinon wie der stete Versuch, logisch zu bleiben. Eine zu stark auf die Kausalität orientierte Medizin muß diesbezüglich ins Leere laufen. Mit der Antilogik hat Weizsäcker die anthropologische Psychosomatik erweitert, wie er überhaupt als ein Autor gerühmt werden kann, der wie kaum ein anderer alle Aspekte des Menschseins in Krankheit und Gesundheit wahrnahm, erfaßte und verstand. Wenn seine Wirkung begrenzt blieb, dann vielleicht auch, weil sein Denken bisweilen mythologisch dunkel blieb und vom Hang zum Übersinnlichen angekränkelt war. (Rattner/Danzer 1998 zu Weizsäcker, 154-157)

Es erwächst daraus die Gefahr, daß in vielen tiefsinnigen Interpretationen der "wahren Existenz" des Menschen nur schönes Gerede steckt; ein Text drückt nicht schon deshalb eine Wahrheit aus, weil er gut formuliert ist. Es gibt viele somatische Erkrankungen, bei denen beim besten Willen keine "Wahl" angenommen werden kann und deren direkter Symbolgehalt gering oder gleich Null ist. "Im Gegenteil: Die Symbolisierung bestimmter Erkrankungen - etwa bei Aids oder bestimmten Krebserkrankungen, bei erblich disponierten Krankheiten oder bei manchen Infektionskrankheiten - kann zu grundfalscher Diagnostik und Therapie sowie zu völlig unberechtigter Schuldzuweisung an den Kranken bezüglich der Entstehung seiner körperlichen Krankheiten führen", warnt Danzer (1994, 83).

Einige Autoren haben sich nicht an diese Warnung gehalten. So Georg Groddeck, dem man zu Recht den Mystizismus vorwarf, den er seiner Konzeption des vitalen Es unterlegte. Unbeeindruckt von differenzierten Erwägungen hat er versucht, in jeder Krankheit einen Sinn zu sehen, und er vertrat die radikale Meinung, daß Krankheit nicht von außen kommt, sondern immer vom Es, der Lebenskraft gemacht wird, mit dem das Es etwas ausdrücken will. Ebenso hat Groddeck den Symbolbegriff überstrapaziert. Es bleibt aber, daß einige somatische Erkrankungen als "Ausdruck" oder Äquivalent einer verborgenen existentiellen Not verstanden werden können, ohne daß ein kausaler Zusammenhang konstruiert und herbeigeredet werden muß. Als Beispiel mögen die Eßstörungen gelten - die Anorexie, die Bulimie oder auch die Adipositas -, die in Situationen von Wachstums- und Reifungskrisen auftreten.

(folgt Geschichte der Psychosomatik II und Psychosomatik heute)

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(12. November 1997)