Wer war Graf Bertold, der im Jahre 999 von Kaiser Otto III. das Marktrecht für Villingen erhielt? (Prof. Dr. Alfons Zettler)

Das Jubiläum 999 — 1999: 1000 Jahre Villinger Marktrecht, auf das man sich in Villingen allenthalben rüstete und das mit einer Fülle von Veranstaltungen begangen wird, reizt dazu, diesen frühen Abschnitt der Villinger Geschichte an der Wende zum zweiten Jahrtausend nochmals näher zu betrachten. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Markturkunde Kaiser Ottos III. vom Jahre 999 für den Grafen Bertold, sondern vor allem um die Person des Empfängers, der zu den Ahnherren der Zähringer zählt, jenes schwäbischen Fürstenhauses, dessen Herrschaft weite Teile des Schwarzwalds umfassen sollte, und um dessen Verbindung zu Villingen. Nachdem G. Althoff vor einigen Jahren in dieser Zeitschrift berichtet hat, „warum … Graf Bertold im Jahre 999 ein Marktprivileg für Villingen“ erhielt, mag dieser Aspekt, die Vorgeschichte der Marktrechtsverlei-hung, weitgehend beiseite bleiben, und es kann stattdessen stärker der Stellenwert der kaiserlichen Urkunde für die ältere Geschichte der Zähringer und Villingens ins Blickfeld rücken.

Graf Bertold oder „Bezelin von Villingen“ — ein Ahnherr der Zähringer

Was können wir über die Person und die Identität des Grafen Bertold sagen, der im Jahre 999 von Kaiser Otto III. ein Marktprivileg für Villingen erlangte? Es ist nicht viel, was in dieser Hinsicht als gesichert gelten kann, und weil wir den in der Urkunde begünstigten Bertold als historische Persönlichkeit nicht recht zu fassen und einzuordnen vermögen, gelang es bisher auch kaum, die Verbindungen des Grafen mit Villingen zu beschreiben oder gar zu erklären, warum er das Privileg ausgerechnet für diesen Ort auf der Baar erhalten hat. Genau das aber sind, unter dem Aspekt der Villinger Geschichte, die zentralen Fragen, auf die wir eine Antwort suchen wollen. Um in der Frage nach der Person und der historischen Identität Bertolds wenigstens einigermaßen sicheren Boden zu gewinnen, müssen zunächst die wichtigsten Dokumente, die Quellen unseres Wissens, und deren gängige Interpretation betrachtet werden. Höchste Aufmerksamkeit verdient ein Schriftstück, das einen „Bezelinus de Vilingen“, Bezelin von Villingen, im Kreise seiner adeligen Verwandtschaft erwähnt. Die anderen in diesem kleinen Stammbaum schwäbischer Fürstenhäuser des 12. Jahrhunderts mit ihren jeweiligen Verwandtschaftsgraden angeführten Personen bleiben ohne vergleichbare Orts- oder Herkunftsangaben. Da „Bezelin“ eine häufig vorkommende Koseform des Namens „Bertold“ ist und die so bezeichnete Person um das Jahr 1000 gelebt haben muß, andererseits die Zähringer Bertolde als Nachfahren des Villingers angegeben sind, meint „Bezelinus de Vilingen“ zweifelsohne den Grafen Bertold, der 999 das Marktprivileg erhielt (oder allenfalls, wie ein Zweig der Forschung geltend macht, einen Sohn desselben).

Das auffälligste Element in diesem Zeugnis für die Stellung unseres Villinger Bertolds im Gefüge des schwäbischen Hochadels um die Jahrtausendwende ist seine im ganzen Stammbaum einzigartige „Verortung“ nach Villingen. Offenbar hatte man auch schon im 12. Jahrhundert, als das Dokument erstellt und niedergeschrieben wurde, Schwierigkeiten damit, den Zähringervorfahren Bertold von seinen zahlreichen Namensvettern zu unterscheiden. Auch Grafen namens Bertold gab es zu jener Zeit mehrere, es hätte deshalb wenig genützt, wenn dem Namen Bezelin der Grafentitel hinzugefügt worden wäre. Als Ausweg aus dem Dilemma bot sich die nähere Kennzeichnung Bertolds durch ein außergewöhnliches Ereignis in seinem Leben an, und das war eben die besondere Privilegierung Bertholds seitens des Kaisers Otto, die seinerzeit—Aufsehen erregt hatte. Der Zusatz „de Vilingen“ zu Bezelin dürfte sich daher nicht bloß auf den Ort Villingen als solchen beziehen, sondern auch soviel bedeuten wie: „Bertold mit dem Marktprivileg“, um es zugespitzt zu formulieren.

Zähringer und Staufer in Wibalds Stammtafel von 1153

„Bezelinus de Vilingen“ heißt also unser Bertold in dem erwähnten Dokument aus dem 12. Jahrhundert, das eine Stammtafel der beiden rivalisierenden Fürstenhäuser Schwabens, der älteren Staufer und Zähringer bietet. Aber ist dieses Dokument überhaupt vertrauenswürdig, wie gut war der Autor informiert? Und bietet es weitere Aufschlüsse über die Herkunft der Zähringer? Die kleine Stammtafel findet sich im Briefbuch des Abtes Wibald von Stablo und entstand im Umfeld Kaiser Friedrichs I. Barbarossa, also am staufischen Hof. Sie war nicht dazu gedacht, der Nachwelt die Herkunft der Zähringer vor Augen zu führen, sondern diente einem ganz konkreten und recht pragmatischen Zweck. Bald nach seiner Erhebung zum König gedachte sich nämlich Friedrich Barbarossa von seiner Gemahlin Adela von Vohburg scheiden zu lassen, um die Ehe mit der süddeutschen Vohburgerin gegen eine politisch günstigere Verbindung einzutauschen: 1156 führte der Kaiser denn auch die burgundische Prinzessin Beatrice, die Erbin der Grafschaft Burgund, heim und begründete damit die unmittelbare staufische Herrschaft über bedeutende Teile des ehemaligen Königreichs Burgund. Eine Scheidung war im Mittelalter freilich nur möglich, wenn ein unabweisbarer Grund dafür geltend gemacht werden konnte, und ein solcher Grund war ein zu nahes Verwandtschaftsverhältnis der Ehegatten. Ein solches nachzuweisen, obwohl dies wahrscheinlich ohnehin ein offenes Geheimnis war, wurde einer der geistlichen Hofbeamten, Berater und Vertrauten Friedrichs, eben Wibald von Stablo beauftragt. Wibalds Stammtafel, in der „Bezelinus de Vilingen“ angeführt wird, stellt also ein juristisch verwertbares „genealogisches Gutachten“ dar. Der Mann, dem wir unser Wissen um die Zähringer-vorfahren verdanken, war einer der herausragenden Prälaten und Gelehrten des 12. Jahrhunderts, und wir dürfen deshalb ganz sicher sein, daß das hier Niedergelegte zutrifft. Allerdings: die älteren Ahnen vor der Generation, die um die Jahrtausendwende lebte, gab der Experte Wibald nur noch summarisch mit der Bezeichnung „gemeinsamer Vater / gemeinsame Mutter“ an, die Namen erfahren wir leider nicht.

Als ursprüngliche Heimat der Staufer scheint in dem Dokument das nordostschwäbische Ries auf, wo die ältesten namentlich bekannten Vorfahren Barbarossas um die Jahrtausendwende das Grafenamt verwalteten. Und dieser Anhaltspunkt deutet eigentlich schon zur Genüge darauf hin, daß für die Zähringervorfahren ähnliches gelten dürfte, denn beide Familien erscheinen ja zu jener Zeit in enger verwandtschaftlicher Verbindung. Auch die Ahnen der Zähringer dürften ursprünglich vor allem östlich des Schwarzwalds und in Inner-schwaben ansäßig und verankert gewesen sein. Einen schönen Beweis dafür liefert auch das Schicksal Herzog Bertolds I., des Sohnes „Bezelins von Villingen“, als dessen Sitz und Machtzentrum die Limburg bei Weilheim unter Teck ausdrücklich von den Zeitgenossen beschrieben wird. In der Chronik des Frutolf, der ein Zeitgenosse Herzog Bertolds war, heißt es in dem Bericht zum Jahre 1077 im Anschluß an die Schilderung der Erhebung Rudolfs zum Gegenkönig, zu dessen Anhängern unser Zähringer Bertold I. zählte: „König Heinrich aber zog mit einem Heer nach Schwaben … , um die Aufständischen zu bekämpfen, wobei er dieses Land schwer verwüstete. Bertold von Zähringen … saß in seiner durch die Natur befestigten Stadt Limburg, (und) als er sah, wie nach dem Willen des Königs alles ungestraft verwüstet wurde, soll er vor Schmerz von der Krankheit befallen worden sein, welche die Ärzte Wahnsinn nennen, und nach sieben Tagen, während denen er wie im Delirium irre Worte hervorbrachte, sein Leben geendet haben“.

Die Lehre von der breisgauischen Herkunft der Zähringer

Diesen unübersehbaren Hinweisen auf die Verankerung der Zähringervorfahren in Innerschwaben steht eine andere Lehre entgegen, die ursprünglich Eduard Heyck in seinem grundlegenden Handbuch über die Geschichte der Herzoge von Zähringen verfochten hat und die deshalb weithin Geltung erlangen konnte. Dort heißt es gleich zu Beginn des ersten Abschnitts über die „Vorgeschichte“ der Zähringer: „Das zähringische Haus hat die Berechtigung, sich an Alter, damit ist gemeint: an frühzeitiger Bedeutung und Macht sich jedem in Europa regierenden Mannesstamme voranzustellen … In den Bergen und der blühenden Ebene des Breisgau’s war es, wo seit und vielleicht schon vor dem 10. Jahrhundert das Grafenamt in den Händen desjenigen Geschlechts ruhte, dessen sich allmählich dem Dunkel entringende Geschichte in die des Hauses von Zähringen hinüberfließt. Nicht nur dies Grafenamt hat es auf diese überliefert, auch seinen Besitz diesseits und jenseits des Schwarzwaldes und außerdem den in beispielloser Weise bevorzugten Namen Bertold, neben dem die früheste Grafengruppe anderen Mitgliedern noch gerne den Namen Adalbero gegeben hat.“ Wir sehen, Heyck war aufgrund seiner Quellenstudien zu der festen Überzeugung gelangt, die Vorfahren der Zähringer seien unter den Grafen des Breisgaus, also den königlichen Beamten im Oberrheingebiet zwischen Basel und Freiburg, zu suchen. Deren Namen sind uns aus dem 10. Jahrhundert in einiger Zahl erhalten, aber es sind eben meist nur die bloßen Namen der alten Breisgaugrafen erwähnt, die zu einer regelrechten „Amtsträgerreihe“ zusammengestellt werden konnten.

Birchtilo — Graf im Breisgau und Gründer des Klosters Sulzburg

Die entscheidende Person in der Breisgauer Grafenreihe des 10. und frühen 11. Jahrhunderts ist in unserem Zusammenhang ein Graf Birchtilo, der vor allem in den Jahren 990 bis 1000 bezeugt ist. Er soll laut Heyck identisch, personengleich sein mit unserem Bezelin von Villingen bzw. dem Grafen Bertold, der 999 die Villinger Markturkunde erhielt. Tatsächlich aber gründete Birchtilo in den letzten Jahren des 10. Jahrhunderts, gleichsam im Angesicht des drohenden Endes der Welt, mit dem damals viele Leute zur Jahrtausendwende rechneten, ein Kloster in seinem Landsitz Sulz-burg, rund 20 km südlich von Freiburg im Mark-gräflerland. In dieses Kloster zog sich Birchtilo selbst zurück, trat in den geistlichen Stand und resignierte auf sein Amt als Breisgaugraf. In der Urkunde, die er über die Ausstattung von Kloster Sulzburg mit seinen ererbten Gütern ausstellen ließ, gab der ehemalige Graf seinem Wunsch Ausdruck, daß er dort, in seiner Gründung, begraben werden und so den Tag des Jüngsten Gerichts erwarten wolle.

Von König Heinrich II. erwirkte Birchtilo ein Marktprivileg für das nahegelegene Rinken-Steinen-stadt bei Neuenburg am Rhein, um seinem Kloster wirtschaftlich auf die Beine zu helfen, und als er die letzten Tage seines Lebens nahen fühlte, übertrug er die Stiftung, die er zuvor mit seinen Erbgütern ausgestattet hatte, mit Zustimmung seines Bruders Gebhard dem Bischof von Basel. Die Grafschaft im Breisgau wurde dadurch vakant und ging vielleicht in die Obhut unseres Bertold von Villingen über, — das wäre dann die erste einigermaßen nachweisbare Verbindung der Zähringervorfahren mit dem Oberrheingebiet. Die Güter jedenfalls, die Graf Birchtilo an Sulz-burg überwies, lagen sämtlich am Oberrhein, im Breisgau und reichen nicht über den Schwarzwald hinweg. Und auch sonst wies bei dem intensiven Studium der Sulzburger Dokumente, das ich im Rahmen der neuen Stadtgeschichte von Sulzburg unternehmen mußte, nichts daraufhin, daß der Breisgauer Graf und spätere Geistliche Birchtilo mit Bertold / Bezelin von Villingen identisch sei.

Eine vermeintliche „Zähringergenealogie“aus dem Kloster St. Peter

Wie aber konnte dann Eduard Heyck in seiner „Geschichte der Herzoge von Zähringen“ auf die offensichtlich problematische Gleichsetzung des Birchtilo von Sulzburg mit Bertold / Bezelin von Villingen kommen und darauf sozusagen seine ganze Frühgeschichte der Zähringer aufbauen? Heyck bezog seine Gewißheit aus der sog. „Zähringergenealogie“ von St. Peter auf dem Schwarzwald, einem Dokument, das die Zähringer von ca. 1000 bis zu deren Ende 1218 verzeichnet. Dort heißt es gleich zu Beginn: „Als erster unter den Vorfahren der Herzöge von Zähringen sei in dieser Schrift — unter Auslassung von anderen— Graf Bezelin genannt, der gemeinsam mit seinem Bruder Gebizo (das ist eine Kurzform von „Gebhard“) das Nonnenkloster Sulzburg erbaut hat. Beide Brüder wurden, als sie aus dem Leben schieden, in besagtem Kloster ehrenvoll bestattet“.

Doch hat Heyck nicht den historischen Kontext, in dem diese Schrift entstand, und auch nicht ihre späte Entstehung um 1300 in Rechnung gestellt. Er vertraute im Gegenteil sozusagen blind auf die dortigen Angaben, in der Annahme wohl, es handle sich um eine zähringische und auch zähringerzeitliche Familienchronik. Dem ist aber nicht so! Vielmehr haben wir in diesem Dokument Aufzeichnungen der Mönche von St. Peter in der Zeit um 1300 zu sehen, als das Kloster durch Brandkatastrophen und durch die Bedrückung seiner Kastvögte, den permanent bankrotten Freiburger Grafen, schlimm darniederlag. In dieser Not und in diesem Elend erinnerten sich die wenigen in St. Peter verbliebenen Klosterbrüder an die verflossenen Glanzzeiten, als die mächtigen und mildtätigen Zähringer Herzöge ihre Schirmherren waren, die das Kloster in aller erdenklichen Weise förderten. Und die Herzöge von Zähringen lagen zudem fast alle in St. Peter auf dem Schwarzwald, ihrem „Hauskloster“, begraben. Auch als Verstorbene waren sie gewissermaßen noch als „Hausherren“ von St. Peter präsent, was seinen sichtbaren Ausdruck in einem großen und reich geschmückten Grabmal im Kirchenschiff der Abtei fand. Auf diese Zähringer-Grablege bezieht sich die sog. „Zähringergenealogie“, die alle in St. Peter ruhenden Zähringer anführt und kurz charakterisiert. Andererseits sollte die Schrift St. Peter als Heimat aller Zähringer und als das zähringische Kloster herausstellen.

Und da gab es Erklärungsbedarf, warum bereits ein knappes Jahrhundert vor der Gründung des zähringischen „Hausklosters“ St. Peter im Jahre 1093 ein anderes Breisgauer Kloster ins Leben getreten war, das seine Gründung — ähnlich wie St. Peter den zähringischen Brüdern Bertold II. und Bischof Gebhard von Konstanz — einem Brüderpaar Bezelin und Gebhard / Gebizo verdankte: das erwähnte Nonnenkloster Sulzburg, gegründet um 993. Die Sanpetriner Mönche erklärten in diesem Rahmen die Sulzburger Gründer mit den verblüffend gleichen Namen wie die späteren Zähringer, die St. Peter ins Leben riefen, offenbar kurzerhand zu deren Vorfahren und Sulzburg zum Vorläufer von St. Peter. Es ist demnach wenig Verlaß auf die späte St. Peterer Sage von den angeblichen Zähringervorfahren Birchtilo und Gebizo / Gebhard von Sulzburg.

Bertold / Bezelin von Villingen war Graf im Thurgau

Graf Bertold, der 999 das Marktrecht für Vilingen erhielt, war also ganz gewiß nicht identisch mit dem Breisgaugraf Birchtilo, dem Gründer und ersten Vorsteher von Kloster Sulzburg. Welche Grafschaft aber hatte er sonst inne? Denn Bertold wird ja in der Markturkunde ausdrücklich als Graf bezeichnet? Nun hat sich eine Papsturkunde erhalten, in der ein Bertold als Inhaber des Grafenamts im links des Bodensees und Hochrheins gelegenen Thurgau bezeichnet wird. Die Urkunde ist höchst bemerkenswert, weil sie von Kaiser Otto III. gemeinsam mit dem Konstanzer Bischof Lambert in Rom von Papst Gregor V. erwirkt wurde — und zwar drei Tage nach der Kaiserkrönung Ottos durch den besagten Papst am 24. Mai 996. Es geht darin um die Bestätigung des Besitzstandes von Kloster Petershausen zu Konstanz, das dem Bischof Lambert unterstand, und um Vorrechte des Bischofs bei der Wahl von Abt und Vogt. Im Zusammenhang mit der genauen Lagebezeichnung der dem Kloster bestätigten Güter wird der Name und das Amt Bertolds nur sehr formelhaft genannt („in pago Turgewe, sub comitatu Perhetolti comitis“), weil diese Güter zum Thurgau, zum Sprengel oder Amtsbereich des Grafen Bertold gehörten. Gleichwohl bietet dieser einzige Beleg für einen Bertold als Graf im Thurgau am Ende des 10. Jahrhunderts wertvolle Informationen in unseren Fragen. Zum einen ist unmittelbar deutlich, daß dieser Bertold wohl erst kurze Zeit zuvor seine Thurgauer Grafschaft erlangt hatte, wahrscheinlich auf Veranlassung des seit 994 selbständig regierenden Königs Otto, der ihm später in Ansehung besonderer Verdienste auch das Villinger Marktrecht verleihen sollte. Der voraufgehende Thurgauer Graf Landold war vermutlich im Jahre 991 verstorben, jedenfalls stammte er aus einer anderen Familie als Bertold, nämlich aus einer links des Rheins, in der Nordschweiz und im Elsaß, verankerten Familie, in deren Kreis man die Vorfahren der Habsburger sucht. Wenn das zutrifft, dann ist für Bertold, der in der zentralen schwäbischen Grafschaft des Thurgaus sozusagen ein „new-comer“, ein „homo novus“ von Ottos Gnaden war, eine enge Verbindung zum neuen Herrscher, oder wie man das in der Geschichtswissenschaft auszudrücken pflegt, eine bemerkenswerte „Königsnähe“ zu konstatieren. Durch seine Beförderung zum Thurgaugrafen wurde Bertold neben dem schwäbischen Herzog zu einem der mächtigsten Männer in Schwaben, und er erlangte mit dieser ausgedehnten und im Herzen Schwabens gelegenen Grafschaft auch die Kontrolle über die Straßen nach Italien, die in der ganz nach Süden und auf eine Renovatio Imperii, die Erneuerung des römischen Kaisertums, ausgerichteten Politik Kaiser Ottos III. eine elementare Rolle spielten. Unter diesem Gesichtspunkt sei noch eine weitere mögliche Schlußfolgerung aus dem Beleg Bertolds als Graf im Thurgau 996 angedeutet: Wie es scheint, zählte Bertold zu den vertrauten Waffengefährten des jungen Königs, was auf ein noch jugendliches Alter des Grafen hindeutet und in der Diskussion um die eingangs angedeutete Frage, ob „Bezelin von Villingen“ Bertold mit dem Villinger Marktprivileg oder vielleicht dessen Sohn sei, nicht unwichtiges Argument sein könnte. Bertold braucht zwar nicht genau gleichen Alters wie Otto gewesen sein — der König und eben in Rom gekrönte Kaiser Otto zählte 996 gerade eben 16 Jahre — aber es bereitet doch große Schwierigkeiten, sich unter den geschilderten Umständen den frischgebackenen Thurgaugrafen als Herrn im fortgeschrittenen Alter vorzustellen, der dann bereits um 1005 das Zeitliche gesegnet hätte. Am ehesten wird man an ein Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren denken, in dem er sein Amt erlangte. Das würde gut passen zu dem überlieferten Todesdatum 1024; Bertold wäre dann mit rund 60 Jahren gestorben.

Der Wechsel der gräflichen Würde im Thurgau von Landold (t 991) auf Bertold könnte demnach auf das politische Revirement in Schwaben zurückgehen, das Otto III. nach seinem Eintritt in die selbständige Regierung und nach dem Tod der schwäbischen Herzogin Hadwig, einer nahen Verwandten, deren Erbe er beanspruchte, bewirkte. Gleichwohl scheint Bertold eine gewisse Anwartschaft auf die Grafenwürde im Thurgau durch die Heirat einer Tochter seines Vorgängers erworben zu haben, aber dieser Ehebund könnte auch erst im Zusammenhang mit der Übertragung der Grafschaft oder als deren Folge zustandegekommen sein; das wissen wir leider nicht. Eine Einsiedler Notiz jedenfalls nennt den Bertold voraufgehenden Thurgaugrafen Landold einen „Zähringer“, der mit einer Dame Liutgard verheiratet gewesen sei. Daß in der auf „Bezelin von Villingen“ folgenden Generation der frühen Zähringer der Name Liutgard wieder aufgegriffen wird, wäre ein weiteres Indiz für eine Eheverbindung zwischen dem Villinger Bertold und einer Tochter oder Schwester des Landold. Der Erwerb des Thurgaus aber stellt den eigentlichen Beginn des Aufstiegs der Bertolde oder Zähringer in Schwaben dar, dazu kamen im Verlauf der späteren Jahre die Baargrafschaft, der Breisgau und die Ortenau, bis das zähringische Einflußgebiet den Schwarzwald in weitem Bogen überspannte und sich die Kernlandschaften Schwabens in den Händen der Bertolde befanden. Eine wichtige Station auf diesem Weg war die Verleihung des Marktrechts für Villingen.

In der klassischen, von Heyck entworfenen Lehre von den Anfängen und der Herkunft der Zähringer Herzöge spielte Villingen und die Verleihung des Villinger Marktrechts an den Grafen Bertold im Jahre 999 eine untergeordnete Rolle. Fassen wir noch einmal kurz die hauptsächlichen Ergebnisse unseres dornigen Streifzugs durch die Vor- und Frühgeschichte der Zähringer zusammen, so erkennen wir nun deutlich die Veränderungen an dem traditionellen Bild. Zwar bleiben die Vorfahren unseres Villinger Grafen Bertold weiterhin verschwommene Gestalten am Horizont der Geschichte, zu denen wir nicht vordringen konnten; aber die Person des Grafen selbst, der das Marktrecht erhielt, gewinnt schärfere Konturen. Bertold war „Bezelin von Villingen“ — das zumindest läßt sich nun mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen. Und dieser Bertold / Bezelin von Villingen 999 ist zweifellos zu unterscheiden von dem im Breisgau und Elsaß verankerten Grafen und Klostergründer Birchtilo von Sulzburg. Anders als die Heycksche Lehre will sind die Zähringer nicht aus dem Breisgau hervorgegangen, haben nicht vom Oberrhein über den Schwarzwald nach Innerschwaben hinein expandiert und sind auf diesem Weg neben den Welfen und den Staufern zu einem der großen Fürstengeschlechter Süddeutschlands aufgestiegen, sondern der Weg verlief — um es so auszudrücken — umgekehrt: Von inner- und südschwäbischen Positionen aus drangen die Bertolde im Dienst der Herrscher weiter nach Westen vor und dehnten ihren Einfluß über den Schwaben gleichsam zerteilenden Schwarzwald hinüber aus. Diese Bewegung fand ihren augenfälligen, vorläufigen Abschluß mit der Eroberung des Breisgaus durch Bertold II. im Jahre 1078. Und während sich das Marktprivileg Kaiser Ottos III. für Graf Bertold im Rahmen der Breisgau-Doktrin Eduard Heycks eher als erratischer Block ausnimmt, fügt es sich als bedeutende und frühe Wegemarke ausgezeichnet in das neue Bild von der Expansion und dem Aufstieg der Bertolde in Schwaben ein.

Die Vitrine mit der 1000jährigen Original-Urkunde auf der Ausstellung „Menschen, Mächte, Märkte“ im Villinger Franziskanermuseum

Markt-, Münz- und Zollprivileg für Graf Bertold betr. Villingen Kanzlei Ottos III. (Notar „Heribert C“), Rom, 29. März 999, Pergament, 60 x 52 cm. Bleibulle Ottos Umschrift Vorderseite: OTTO IMPERATOR AVGVSTVS; Rückseite: RENOVATIO IMPERII ROMANO RVM. Vermutlich wurden Graf Bertold die Markt-, Münz-, Zoll- und Gerichtsrechte zu Villingen verliehen, weil er sich bei Niederschlagung des Aufstandes in Rom 998 Verdienste erworben hatte. Er war damit einer der ersten weltlichen Machthaber, der ein solches Marktrecht zugebilligt bekam. Bis 1809 wurde die Urkunde in Villingen verwahrt, dann gelangte sie auf dem Postwege nach Karlsruhe. (Generallandesarchiv Karlsruhe, A 72)