Seelische Grausamkeit mit Queue

Belgien gewinnt die 2. Mannschafts-Weltmeisterschaft im Billard / Holländer van Bracht mit Kugel im Kopf  ■  Aus Essen Fred Schywek

Rini van Bracht schiebt die linke Augenbraue hoch und tritt an den Tisch. Der Tisch ist groß - sehr groß. Um ganz genau zu sein: 1,42 Meter mal 2,84 Meter. Seine zwei Tonnen Eigengewicht bewirken in jedem Betrachter ein beruhigendes Gefühl. Sein grünes Kammgarntuch hält konstant eine Temperatur von 30 Grad, damit die Schweißtropfen der Spieler auf der Schieferplatte sofort in die Luft verdunsten und der Stoff eine konstante Spannung hält.

Rini van Bracht, Weltmeister von 1982, verzieht den Mund in gepflegter Konzentration, während er so dasteht in seinem orangefarbenen Pullover der Niederlande; die Hände auf den Hüften, und die drei Kugeln sorgsam im Auge, ehe er sich niederbeugt, um den Stoß auszuführen. In der Essener Grugahalle ist es jetzt still unter den 2.000 Zuschauern. Nur die seichte Tanzmucke lambadert gnadenlos von den Lautsprechern unter der Decke und auch das Klack-klack von den beiden Nebentischen schallt herüber.

Zwölf Mannschaften hatten in vier Gruppen versucht, bis hierher zu gelangen. Das Finale am Sonntag hieß Belgien gegen die Niederlande. Die beiden Stammländer des Billardsports trafen aufeinander, um den Titel der „2. Weltmeisterschaft für Nationalmannschaften im Billard -Dreikampf“ unter sich auszuspielen. Die Disziplinen Einband, Cadre 71/2 und das Königsspiel Dreiband standen auf der Programmkarte. Doch beschränken wir uns auf das Dreiband unseres achtfachen holländischen Meisters Rini van Bracht (42): Seinen Spielball (in Fachkreisen heißen die Kunststoffkugeln Bälle) muß er bei einem Stoß dreimal an die Bande bringen. Dabei ist es gleich, ob er Ball2 sofort anspielt oder erst nach einer Bandenberührung seiner eigenen gelben Kugel. Auf jeden Fall müssen die Seiten des Tisches dreimal getroffen sein, vor der Karambolage am Schluß mit Ball3.

Van Brachts Brücke ist kunstvoll und er läßt das Queue mehrmals hin und her durch die Finger gleiten, ehe er die Lederpomeranze auf den rechten Teil des Balles knallt. Endlich stößt er den Spielball an, der berührt Ball2, prallt, wie es sich gehört, von drei Banden ab und kollidiert ordnungsgemäß mit dem dritten Ball. Ein Punkt. Das Publikum klatscht wie wild, denn es war der achte in Folge. Die höchste Serie dieser vier Billardtage in Essen.

Sein Gegner, der belgische Bankdirektor Paul Stroobants (ebenfalls 42) nickt anerkennend mit dem Kopf. Stroobants ist ein kleiner Dicker mit Halbglatze, der Mühe hat, in schwierigen Situationen sein Bein auf den Holzrand des Tisches zu bekommen. Doch keiner sollte sich durch die gemütliche Statur dieses Weltklassemanns täuschen lassen. Beim Kampf um die belgische Meisterschaft hatte er sogar Altmeister Raimond Ceulemans aus dem Rennen geworfen.

Und Rini van Bracht ist müde. Er hat im Halbfinale den Berliner Billardhallenbesitzer und Pferdeschwanzträger Dieter Müller in einem nervenaufreibenden Dreistundenspiel (das Doppelte der normalen Spielzeit) hauchdünn mit 3:2 Sätzen besiegt. Das bedeutete das Aus für das bundesdeutsche A-Team. „Man hätte beide wegen seelischer Grausamkeit bestrafen sollen“, schmunzelte der hessische Verbandsvorsitzende, denn das Spiel der beiden bestand hauptsächlich darin, dem Gegner möglichst schwierige „Bilder“ auf die Platte zu legen.

Rechtshänder Rini van Bracht schafft jetzt einen guten, glatten Stoß, trifft sauber den Spielball und bringt ihn ins Rollen. Aber er verfehlt die Karambolage. Diesen Satz wird er noch mit einem „Fuchs“ gewinnen. Das ist ein glücklicher Ball, der eigentlich nicht so gedacht war.

Doch Paul Stroobants setzt fünfzehn Minuten später mit zwei „Riesen“ (sehr kompliziertes Bild in voller Konzentration erfolgreich ausgeführt) den Schlußpunkt zum 3:2-Sieg. Damit sind die Belgier die neuen Weltmeister.

In der Bundesrepublik greifen 3,5 Millionen Menschen regelmäßig, doch meistens mäßig, zum Billardstock. Allein in der Billard-Hochburg Essen treffen sich gut tausend Spielerinnen und Spieler in 30 Vereinen, und auch der Deutsche Mannschaftsmeister Steele-Horst hat unten an der Ruhr seine Stammkneipe.

Doch Billard ist mehr als Sport und Vereinsmeierei. Es ist Meditation und im Betrachten der Dreieinigkeit der Bälle eine Übung in der Konzentration auf das Wesentliche. Und Billard ist auch eine Spielwiese für Genies wie den neuen Billard-Vizeweltmeister Rini van Bracht. Denn: van Bracht, seit Jahren gehört er zu den acht besten Billard-Cracks der Welt, verlor in seiner Kindheit das rechte Auge - und seit dieser Zeit spielt der blonde Holländer mit einer Glaskugel im Kopf.

Ergebnisse: 1. Belgien, 2. Niederlande, 3. Österreich, 4. BRD A, 5. BRD B.