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Reinhold Brinkmann: Dem Ton der Epoche nachgehört
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Reinhold Brinkmann:
Dem Ton der Epoche nachgehört

Reinhold BrinkmannDas folgende Interview mit Reinhold Brinkmann entstand 2001 im Auftrag der Ernst von Siemens Musikstiftung, als der in Harvard tätige Musikwissenschaftler mit dem Musikpreis der Stiftung  ausgezeichnet wurde. Es befand sich bisher auf der alten Webseite beckmesser.de. Im Hinblick auf seinen 10. Todestag – Brinkmann starb am 10. Oktober 2010 in Eckernförde – wurde es nun auf beckmesser.info transferiert, in der Hoffnung, dass seine bemerkenswerten Reflexionen neue Leser finden werden.

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Vorbemerkung: Seit 2001 haben sich, nicht zuletzt auch unter dem Einfluss der neuen Medien, die Schwerpunkte im musikalischen Diskurs verschoben. Doch die Gedanken von Reinhold Brinkmann sind nach wie vor hochaktuell. Er betrachtet die Geschichte der musikalischen Moderne vor einem beeindruckend weiten zeitgeschichtlichen Horizont und liefert eine scharfsichtige Diagnose der kulturellen Krise zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die sich inzwischen vertieft hat; er wünscht sich eine größere Nähe der Wissenschaft zum aktuellen kompositorischen Schaffen und plädiert für eine Sprache, die über die akademische Fachwelt hinaus auch den sogenannt gebildeten Laien erreichen kann; und schließlich macht er, ausgehend von persönlichen Erfahrungen, die großen Unterschiede deutlich, die es zwischen Europa – inbesondere Deutschland – und den USA sowohl im Verständnis der beiden Musikkulturen als auch in Lehre und Forschung gibt.
Solche Gründe mögen die beiden emeritierten, ehemals an der Eastman School of Music der University of Rochester lehrenden Musikologen Ralph P. Locke und Jürgen Thym bewogen haben, das Interview ins Englische zu übertragen, um damit an ihren vor  zehn Jahren verstorbenen Kollegen zu erinnern. Ihre mit Kommentaren versehene Übersetzung erscheint noch 2020 in der amerikanischen Zeitschrift Musical Quarterly.

Kurzporträt Reinhold Brinkmann

Interview mit Reinhold Brinkmann

Von Berlin nach Harvard

Es ist nicht gerade alltäglich, dass ein deutscher Musikwissenschaftler an eine amerikanische Universität berufen wird. Wie kam es, dass sie nach Harvard gingen, und was hat sie daran gereizt?

Es ist nicht so selten, wie es vielleicht aussehen mag. Zum einen sind wir ja doch relativ international als Fach, und es gibt sehr viele Verbindungen von Europa in die USA und zurück. Es sind ja auch amerikanische Kollegen an deutschen Universitäten beschäftigt. Zum andern war mein Spezialgebiet die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, und das ist in Amerika bis vor zehn, fünfzehn Jahren vor allem von Musiktheoretikern vertreten worden. Die Harvard University hat dann jemanden gesucht, der das 20. Jahrhundert als Musikhistoriker vertreten kann und das zuendegehende 20. Jahrhundert nicht primär via Analyse und Musiktheorie aufarbeitet. Da ist man wohl auf mich gekommen und hat mich eingeladen zu einer Gastprofessur. Zwei Jahre später bekam ich dann den Ruf. Es hat mich und meine Frau gereizt, im Alter von fünfzig Jahren noch einmal etwas ganz Neues anzufangen, sozusagen einen Verjüngungsprozess zu initiieren. Das hat zwar bedeutet, dass ich etliche Jahre an Publikationszeit eingebüßt habe, weil ich mich in ein neues System einarbeiten musste. Aber es war, was man in Amerika „a new challenge“ nennt: Noch einmal ganz neu beginnen. Das hat mir nochmals einen großen Schub gegeben: Lebensfreude, Neugier, Arbeitsintensität, Zufriedenheit…

Waren die Erwartungen, auf die Sie als Wissenschaftler gestoßen sind, verschieden von denen hier in Europa?

Sie waren insofern vielleicht nicht verschieden, als sie eher eine traditionelle methodische Ausrichtung, nämlich eine geschichtliche Perspektive auf „music and its context“ betrafen. Man wollte das 20. Jahrhundert als geschichtlich betrachtet wissen und nicht so sehr systematisch-theoretisch. Man wollte geschichtliche Reflexionen einholen in das Schreiben über das 20. Jahrhundert, das bisher – man denke an die Zeitschriften wie „Perspectives of New Music“ – eher eine Komponistenperspektive hatte und jetzt eine humanistische Geschichtsperspektive bekommen sollte. Ich glaube, mit meiner musikhistorischen Ausrichtung bei gleichzeitiger Nähe zur aktuellen neuen Musik konnte ich diese Erwartung durchaus erfüllen.

Welche Unterschiede im Universitätsbetrieb fielen Ihnen auf, als Sie nach Harvard kamen?

Schon allein von der materiellen Ausstattung her sieht es in Amerika ganz anders aus. An der Harvard Universität haben wir Bedingungen, die man sich in Deutschland überhaupt nicht vorstellen kann. Insofern bin ich wirklich in einem Paradies gelandet. Die Lehrsituation ist hervorragend, die Forschungsbedingungen sind ganz unvergleichlich, mit Ressourcen und aller denkbaren Unterstützung. Nur ein Beispiel: Es gibt in der großen Universitäts-Bibliothek mehrere Wände mit Büchern, die sich mit Wien in der 2.Hälfte des 19. Jahrhunderts und im Fin de siècle beschäftigen, Texte die ich nie gesehen hatte, die aber dort stehen, weil seit mehr als einem Jahrhundert systematisch alles aus dieser Zeit und dieser Stadt und ihrer Kultur gesammelt wird. In Deutschland gibt es hingegen eine Finanzkrise, die voll durchschlägt in die Bibliotheksbelange. Da ich im Sommer meist in Berlin und überhaupt in Deutschland bin, merke ich als Betroffener, wie die Lücken in den Anschaffungen immer größer werden. Irgendwann wird diese Quantität notwendigerweise in Qualität umschlagen müssen, weil die Arbeitsbedingungen einfach schlechter sind. Meine europäischen Kollegen sind zu bewundern, wie sie es trotz dieser Misere noch schaffen, gut Forschung zu betreiben.
Außerdem sind wir in der glücklichen Lage, dass wir nicht wie unsere deutschen Kollegen acht Wochenstunden Lehre machen müssen, sondern nur vier. Dadurch haben wir auch mehr Zeit für die Studenten. In Harvard nehmen wir in der Musikwissenschaft bei den graduate students nur drei bis vier Studenten pro Jahr auf, und wir sind fünf Professoren. Das bedeutet: Meine Seminare haben acht bis zehn Teilnehmer, und das Verhältnis von Professoren zu Studenten ist etwa eins zu vier. Das gibt eine ganz andere Betreuungssituation. Wir sind den Studenten näher, wir müssen viel öfter für sie da sein. Es wird auch erwartet, dass man den ganzen Tag in der Universität ist und nicht zu Hause am Schreibtisch. Dadurch ist man in das ganze Universitätsleben viel mehr integriert.

Auf welche Mentalitätsunterschiede sind Sie getroffen?

Ich bin in Deutschland aufgewachsen unter dem sehr starken Einfluss von Theodor W. Adorno; zu meiner musikwissenschaftlichen Väter-Generation gehören Rudolf Stephan, und Carl Dahlhaus, promoviert habe ich bei Hans Heinrich Eggebrecht. Sie alle schreiben keine leichte Prosa, sondern ein kompliziertes Deutsch und produzieren komplizierte Gedankenwindungen, was sich in der Sprache niederschlägt. Das ist in den USA ganz anders. Es liegt schon an der Sprache selbst. Die englische Sprache verlangt knappere, klarere Sätze. Ich musste lernen, mich in einer Weise auszudrücken, die nicht diese Komplikationen bringt, die ich gewohnt war. Ganz habe ich es sicher noch nicht geschafft, aber ich hoffe doch, dass man inzwischen einen Unterschied bemerkt. Und noch ein allgemeinerer Aspekt: Es gibt drüben eine viel größere Unbefangenheit der Geschichte gegenüber. Das hängt damit zusammen, dass die Künste in den USA noch sehr jung sind. Bedeutende Komponisten kennt die USA erst seit den zwanziger Jahren. Ives hat zwar früher gearbeitet, ist aber erst viel später entdeckt worden. Mit bildender Kunst ist es nicht anders. Diese Geschichtsferne – oder Gegenwartsnähe – verändert auch den Blick auf die alte Musik. Das war eine ganz neue Erfahrung für mich.

Europäische Musikkultur und Amerika

Da könnte man ja fast annehmen, dass die europäische Musiktradition an den amerikanischen Universitäten besser aufgehoben ist als in Europa.

Ja und nein. Es ist merkwürdig, wie stark die Amerikaner musikalisch von Europa abhängen. Ein Beispiel ist die Beethoven-Rezeption. Wenn Sie in Chicago in die 1905 erbaute Symphony Hall gehen, dann sehen Sie über dem Eingang ein Fries mit fünf Komponistennamen: Bach, Haydn, Mozart und Schubert, und in der Mitte steht Beethoven. Im Konzertsaal der Harvard University, errichtet 1914, gibt es ein dreiseitiges Fries von Komponisten-Namen, alles Europäer, und in der Mitte wieder Beethoven. Und in der gerade hundertjährigen Boston Symphony Hall haben Sie allein den Namen Beethoven über dem Podium. Die amerikanische Musikpraxis war seit dem 19. Jahrhundert ganz auf Europa ausgerichtet und hat erst mühsam lernen müssen, eine Identität im eigenen Lande zu finden. Es ist interessant, die Aufführungsstatistiken aus dem Kriegsjahr 1944 zu studieren. Obwohl man mit Deutschland Krieg führte, war immer noch Beethoven der am meisten gespielte Komponist. Es gibt eine außerordentlich mächtige Tradition europäischer Musik in den USA, gegen die die neue Avantgarde ankämpfen muss, und das macht die Situation auch heute noch sehr schwierig. Andererseits, und das ist neu, gibt es immer mehr Amerikaner, die auf eine nationale Identität in der Kunst großen Wert legen, und die europäische Tradition wird gerade von den jüngeren Leuten zunehmend kritisch betrachtet. Von da her hat die amerikanische Musik der Gegenwart eine ganz große Chance gegenüber der Musik der Vergangenheit.

Wo stehen Sie in dieser Auseinandersetzung? Fühlen Sie sich mehr der europäischen Tradition verpflichtet, oder beteiligen Sie sich auch an der Diskussion über die amerikanische Problematik?

Man kann über dreißig Jahre Beschäftigung mit der europäischen Tradition nicht einfach ausradieren. Von daher bin ich natürlich mit ausgeprägt europäischen Maßstäben rübergegangen. Aber da ich ja die Musik des 20. Jahrhunderts betreue, mache ich selbstverständlich auch Seminare über amerikanische Musik, jedoch meist in der Form, dass ich europäische und amerikanische Themen verbinde. Zum Beispiel habe ich vor zwei Jahren ein Seminar gemacht, das sich auf die großen Zentren zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezog, mit dem Titel „Paris – Wien – Moskau – New York von 1900 bis 1920“. Und jetzt habe ich gerade ein Seminar beendet, das hieß „Music after World War II“. Wir verglichen die Entwicklung der vierziger und fünfziger Jahre in den USA und in Europa, mit dem frühen Darmstadt, Tanglewood usw. Solche Verbindungen scheinen mir wichtiger zu sein als nationale Identitäten zu befördern, und das ist auch das, was die Studenten brauchen, wollen und lieben.

Es wäre ja schön, wenn solche übergreifenden Darstellungen auch in Europa mehr an der Tagesordnung wären.

Das geschieht da und dort, zum Beispiel hat sich mein Kollege Hermann Danuser sehr bemüht, auch mit Publikationen, die amerikanische Musik in Deutschland näher zu bringen. Aber leider ist die deutsche Sicht auf die Nachkriegsentwicklung oft noch etwas beschränkt. Man tut zum Beispiel so, als ob die serielle Musik in Europa erfunden worden sei. Doch Milton Babbitt hatte seine eigene serielle Musik schon definiert, bevor überhaupt Stockhausen und Boulez ihre Theorien zu Papier brachten. Unter musikgeschichtlichen Gesichtspunkten muss heute auch einer Figur wie John Cage zentrale Bedeutung für die Entwicklung im frühen Nachkriegseuropa beigemessen werden; nach dem kürzlich veröffentlichten Briefwechsel zwischen Cage und Boulez muss er als einer Väter der seriellen Musik betrachtet werden, denn er hat bestimmte kompositionstechnische Verfahren mit Boulez besprochen, die dann direkt in die serielle Technik eingegangen sind. Man müsste eigentlich die Musikgeschichte von dieser internationalen Perspektive aus neu schreiben.

Sie haben in Ihrem Seminar also auch Cage behandelt?

Selbstverständlich. Cage ist in Amerika sehr umstritten, anders als etwa in Deutschland. Cage und New York: ein finsteres Kapitel, was die Presse angeht. Für die amerikanischen Studenten war es eine neue Erfahrung, zu hören, dass aus der Perspektive des europäischen Materials, das jetzt zur Verfügung steht, Cage als eine zentrale Figur in der Musikentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen werden muss.

Nachkriegsjahre als Provokation

Ihr persönlicher Werdegang als Musiker und Musikhistoriker war stark geprägt durch die spezifische Situation der fünfziger Jahre. Wie erinnern Sie sich heute an diese Zeit – an ihre persönliche Situation und das zeitgeschichtliche Umfeld der neuen Musik?

Ich komme aus einem ganz kleinen Ort, in dem es neue Musik überhaupt nicht gab. Es gab ein Blasorchester, in dem mein Vater Tenorhorn spielte, und das waren meine ersten Erfahrungen. Durch ihn kam ich zur Musik. (Übrigens war er einer der letzten Musiker, die in den Zwanziger Jahren noch die alte Stadtpfeifer-Ausbildung absolvierten: Internat beim Stadtmusikus, Unterricht in drei verschiedenen Instrumentengruppen: Streicher, Holz- und Blechbläser – um in vielen Bereichen einsetzbar zu sein, vom morgendlichen Gottesdienst über das Mittagskonzert auf dem Marktplatz bis zum abendlichen Ball.) Ich hatte dann eine ganz konservative Ausbildung als Klavierspieler und studierte Musikerziehung, weil das ein sicherer Weg schien. Dann merkte ich, dass mich die Wissenschaft sehr interessierte. Die Musikwissenschaft damals war ganz eingeschworen auf Renaissance und Barock, auch Mittelalterforschung stand hoch in der Gunst der Fachleute, nicht zuletzt ihrer scheinbaren politischen Neutralität wegen – ein wichtiger Faktor für Wissenschaftler, die gerade aktiv am geglaubten Aufbau des Tausendjährigen Reiches mitgearbeitet hatten. In der neuen Musik waren Hindemith, Strawinsky die großen Namen. Die Komponisten der zweiten Wiener Schule waren totale Außenseiter, was mit der Geschichte der deutschen Musikwissenschaft in der Nazizeit und mit der unterbrochenen Rezeption der neuen Musik in den zwölf Jahren Naziherrschaft zusammenhing. Ich kam nach Hamburg an die Musikhochschule, wo ich Orff sang und Strawinsky. Und dann, in einem der frühen Studienjahre, war ich in einem Konzert der Alpbacher Hochschulwochen in Österreich plötzlich konfrontiert mit der Musik von Schönberg und Stockhausen. Der amerikanische Pianist Paul Jacobs spielte das gesamte Klavierwerk von Schönberg und einige Klavierstücke von Stockhausen. Das war für mich ein überwältigendes Erlebnis. Ich werde nie vergesen, wie am Morgen nach dem Konzert der freundliche Künstler dem jungen Studenten Stockhausens Klavierstück XI und Schönbergs Suite op. 25 erläuterte. Ich habe mich sofort auf diese Stücke geworfen, habe sie studiert und darüber geschrieben. Eine zweite Erfahrung dieser Art war für mich nur noch der „Jahrhundert-Ring“ in Bayreuth; die Inszenierung durch Patrice Chérau hat mich noch einmal fundamental getroffen. Doch jenes Schönberg-Erlebnis hat in einer bestimmten Weise mein ganzes Leben als Wissenschaftler begleitet.

Zehn Jahre später führte es zu Ihrer Dissertation über Schönbergs Drei Klavierstücke op.11. (Anm.1) Das Buch erscheint jetzt neu in zweiter Auflage. Im Vorwort zur zweiten Auflage beschreiben Sie, wie damals, 1967, Schönberg noch Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen war. Heute ist das anders, Schönberg ist weit herum akzeptiert.

Die damaligen Probleme hingen einmal zusammen mit der Kompositionsart dieser Musik, ihrer Kompliziertheit, aber natürlich auch mit der Tatsache, dass Schönberg Jude war und emigrieren musste. Diese politischen Hintergründe schlugen in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren immer noch voll durch auf die Rezeption. Jemand wie Adorno, der Schönberg verteidigte, wurde damals noch kaum gehört, zumindestens nicht in Musikwissenschaftlerkreisen. Kürzlich las ich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Rezension einer Aufsatzsammlung, in der auch Adorno vorkam, und der Autor, ein jüngerer Musikwissenschaftler, nannte Adorno einen Säulenheiligen der deutschen Musikwissenschaft. Ich habe das zuerst mit Verwunderung gelesen, und dann doch begriffen, dass die jüngere Generation natürlich die Situation der fünfziger und sechziger gar nicht kennt. Adorno war damals keineswegs ein Säulenheiliger der Musikwissenschaft, sondern ein totaler Außenseiter, ein Verdammter fast, könnte man sagen. Wenn man im Riemann-Musiklexikon, in der 12. Auflage von 1962, den Artikel über Adorno liest, dann kann man bemerken, dass all die Vorurteile, die zwischen 1933 und 1945 gegen die Intellektuellen geherrscht haben, hier wieder versammelt sind. Adornos Eintreten für Schönberg bekam dadurch politische Dimensionen. Das kann man heute nicht mehr verstehen. Mir hatte man gesagt: Wenn du über Schönberg promovieren willst, musst du dich fragen, ob du überhaupt eine Karriere machen kannst. Dass es dann binnen kurzem umschlug und man als Schönberg-Kenner plötzlich zur gesuchten Person wurde, ist fast eine Ironie der Geschichte. Diese schnelle Akzeptanz, die durch Adorno und andere wesentlich befördert wurde, konnte man damals nicht voraussehen.

Der Verlust des kritischen Denkens und die Krise des Musiklebens

Dieser Wechsel der Interessen und Perspektiven hängt sicher mit der Veränderung des Kulturbegriffs in den sechziger und frühen siebziger Jahren zusammen. Doch wie Sie gerade gesagt haben, ist diese Zeit für die jüngere Generation schon wieder weit entfernt. In Bezug auf eine Figur wie Adorno ist häufig eine Art Überdruss zu beobachten. Der heutige Kulturbetrieb ist geprägt durch den Glanz der Repräsentation, und kritische Denkmodelle scheinen heute nicht mehr besonders gefragt zu sein. Auch die Kritik tendiert mehr zur unterhaltenden Information und manchmal schlicht zur Reklame. Die kritische Auseinandersetzung mit dem musikalischen Gegenstand scheint nachzulassen. Wie aktuell sind heute noch Adornos Positionen?

Das Bild, das Sie eben gezeichnet haben, ist ein Plädoyer für seine Aktualität. Ob die Inhalte noch dieselben sind, ist eine andere Frage. Aber diese Art von kritischem Kommentar zur – man muss schon sagen – Krise der Kultur fehlt ja leider heute. Nun ist die Interessenlage, was Adorno angeht, in Europa und in den USA allerdings auch unterschiedlich. Nicht zuletzt wegen der Sprache und wegen der Art seines Denkens ist Adorno in Amerika nie wirklich zur Kenntnis genommen worden. Es gibt zur Zeit eine gewisse Adorno-Renaissance, die aber mehr an die Rezeption Benjamins angehängt ist. Benjamin ist im Moment ein ganz großes Thema an den amerikanischen Universitäten, auch publizistisch, mit Übersetzungen und Neuausgaben.
Aber unabhängig von Adorno möchte ich den andern Punkt in Ihrer Frage akzentuieren: Die gesamte Krise des Schreibens und des Nachdenkens über Musik spiegelt eine fundamentalere Krise, nämlich die der klassischen Musikkultur überhaupt. Diese Krise lässt sich statistisch nachweisen. Alle zehn Jahre veröffentlicht in den USA das National Endowment for the Arts, eine staatliche Institution, einen Bericht über die Entwicklung der Konzertveranstaltungen, der Museen und Theater. Dem neusten Bericht kann man entnehmen, dass die Besucherzahlen der klassischen Konzerte enorm zurückgegangen sind und der Verkauf von CDs und Videos stark geschrumpft ist, während es in den Theatern einen leichten und in den Museen einen starken Aufwärtstrend gibt. Das betrifft vor allem die Generation der Zwanzig- bis Vierzigjährigen, also die für die kulturelle Entwicklung der nächsten dreißig Jahre zentrale Altersgruppe. Es sind diejenigen, die die Kultur auch materiell tragen, denn in den USA ist bekanntlich das Kulturleben vorwiegend privat finanziert. Die Zahl sowohl der Konzertbesucher als auch der Geldgeber vermindert sich im Moment rapide. Das ist eine ganz schlimme Entwicklung. Die jüngere Generation wandert in andere Bereiche ab, und zwar gar nicht einmal weg von der klassischen Kultur, sondern einfach in die Theater und Museen, wo sie eine besser organisierte Kunstszene vorfindet. Mit diesem Problem müssen sich unsere Musikmanager heute befassen. Wenn jetzt ein Herr Ohnesorg mit großen Fanfaren nach Berlin geholt wird, dann muss man von ihm erwarten, dass er die Philharmonie wieder in irgend einer Weise aktuell macht. Doch dieses Aktuellmachen kann nicht darin liegen, den bloßen Unterhaltungswert zu akzentuieren. Die reine Veranstaltung von Popkonzerten oder die Durchmischung von Sinfoniekonzerten mit leichter Muse, die Entwicklung neuer Präsentationsformen usw. – das alles wird es nicht bringen.
Diese allgemeine Krise schlägt auch voll durch auf mein Fach. Wenn die Musikwissenschaft sich nicht aufraffen kann, in diesen Fragen Stellung zu beziehen und in welcher Weise auch immer einzugreifen, dann hat sie selbst keine Funktion mehr und wird auch in diesen Prozess des Verschwindens hineingezogen werden. Nun muss ich als Historiker sagen: Wir wissen, dass die klassische Musikkultur so ungefähr 250 Jahre alt ist. Sie ist irgendwann einmal entstanden, und dass sie einmal verschwinden wird, ist für mich als Historiker kein Schreckensgedanke. Es könnte etwas ganz Normales sein. Es könnte sein, dass in hundert Jahren diese Art von Musikkultur gar nicht mehr besteht, dass eine neue Generation ganz neue Dinge entwickelt, von denen wir noch gar nichts wissen können. Möglicherweise stehen wir im Moment am Beginn dieses Prozesses, und später könnte es so aussehen, dass nur noch eine kleine, elitäre Gruppe sich um den alten Kanon kümmert, während die Masse der Kulturinteressierten in andere Bereiche abgewandert ist.

Das ist ein vehementes Plädoyer für eine Musikwissenschaft, die eingreift in die aktuellen Probleme des Musiklebens. Haben Sie ihre Aufgabe als Musikwissenschaftler immer so verstanden?

Nein. Und man muss auch gleich sagen: Die Möglichkeiten des direkten Eingreifens sind geringer als man denkt. Aber es ist klar, dass sich die jüngere Generation mehr auf die Publikation in Medien mit einem breiteren Publikum einstellen muss. Ich selbst habe in meiner deutschen Zeit viele Rundfunksendungen gemacht. Natürlich waren das auch spätabendliche Programme, aber mir schien es wichtig, dort auch Themen auf eine Weise anzusprechen, die nicht so fachspezifisch ist wie in den akademischen Veröffentlichungen. Ich denke, dass sich in dieser Hinsicht auch unsere Ausbildung ändern muss. Das betrifft nicht zuletzt auch die Sprache: eine allgemein verständliche Ausdrucksweise geht uns oft ab. Die knappe, präzise Berichterstattung, das Einfangen der Aufmerksamkeit des Hörers usw. sind die Punkte, die eine neue Generation lernen muss. Sich mehr in der Öffentlichkeit bewegen und nicht so akademisch agieren.
Das fängt am eigenen Arbeitsort an. Ich mache mit großer Freude die Studium Generale-Vorlesungen, deren Besuch die Harvard University von den Undergraduates verlangt. Da habe ich ein ganz anderes Publikum – Hörer aller Fächer, Physiker, Biologen usw. Es sind Studenten, die überhaupt nie Musik praktiziert haben, die aber sehr interessiert sind. Das sind manchmal hundertfünfzig Leute, manchmal achtzig oder sechzig, denen ich die Geschichte der Symphonie im 19. Jahrhundert oder die Anfänge der Atonalität in Wien um 1910 nahe bringe. Kulturpolitisch erscheint es mir außerordentlich wichtig, dass wir den Studenten die Möglichkeit geben, diese Kultur, die irgendwann vielleicht zu Ende geht, noch zu begreifen und vielleicht fortzuführen, so lange es möglich ist. Es ist der alte Bildungsgedanke, der hier zum Vorschein kommt und zu dem ich hundertprozentig stehe. Für mich gibt es nichts Schöneres, als wenn ich irgendwann in der Boston Symphony Hall im Konzert bin und ein salopp gekleideter junger Mann oder eine junge Dame vorbeigeht und sagt: „Hi, Professor Brinkmann!“ Dann weiß ich, sie waren in meinem Kurs.

Eine zukünftige Legimitation der Musikwissenschaft läge also vor allem in der Öffnung zu anderen Disziplinen und einem breiteren Publikum?

Ich möchte nochmals auf den Artikel in der Frankfurter Allgemeinen zurückkommen. Er bezog sich auf eine Veröffentlichung im Archiv für Musikwissenschaft, wo deutsche Musikwissenschaftler sich über die Zukunft des Faches Gedanken gemacht haben. Einer der Kollegen, ein hervorragender Wissenschaftler, sieht das Heil der Musikwissenschaft darin, dass man wieder mehr Mittelalter und mehr Renaissance macht. Ich halte das für eine völlig falsche Perspektive. Es geht nicht darum, dass diese historischen Zeiten nicht mehr behandelt werden und daher wieder aktiviert werden müssten, sondern es geht meines Erachtens darum, dass die Musikwissenschaft ihr Verhältnis zur aktuellen, neuen Musik verändert. Das ist das durchschlagende Thema seit den fünfziger Jahren. Die Misere der Musikwissenschaft kommt zum Teil auch daher, dass sie kein Verhältnis zur aktuellen musikalischen Produktion hat. Das sieht in den USA anders aus, weil man dort an den Universitäten ja auch Komposition als Fach studiert, und ich habe in meinen Kursen Studenten, die sowohl Musikgeschichte und Musiktheorie als auch Komposition betreiben. So sind die Musikhistoriker dort von vornherein mit Komponisten als Kollegen zusammen und diskutieren die neuesten Entwicklungen der gegenwärtigen Musik. Das unterscheidet sich fundamental von der Perspektive – oder besser Perspektivenlosigkeit – an deutschen Universitäten, die durch die Trennung von der praktischen Musik zustande kommt. Hier studieren die Komponisten an den Konservatorien und Musikhochschulen und die Musikwissenschaftler an den Universitäten. Deswegen hatte ich meine letzte Stelle in Deutschland an der Hochschule der Künste in Berlin, der früheren Hochschule für Musik, angenommen. Ich versprach mir: Wenn dort, an der Nahtstelle von Komposition und musikalischer Praxis, eine starke Musikwissenschaft etabliert würde, könnte daraus ein neuer Typus von Musikwissenschaftler hervorgehen

Musikwissenschaft und aktuelles Komponieren

Welchen Stellenwert hat für Sie als Musikwissenschaftler und Musikhistoriker der Kontakt zu den heutigen Komponisten?

Das ist für mich wesentlich geworden. Ich habe über das Konzert gesprochen, in dem ich erstmals der Klaviermusik von Schönberg und Stockhausen begegnet bin. Seit jenem Erlebnis bin ich nach Darmstadt gefahren, habe Konzerte mit neuer Musik besucht und sowohl zu den Komponisten als auch den Interpreten ein engeres Verhältnis gesucht. Das hat auch meine wissenschaftliche Arbeit konkret beeinflusst, und natürlich mein Verständnis von Geschichte. Die Bekanntschaft mit Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Luigi Nono, Donald Martino, John Cage, Helmut Lachenmann…, die Freundschaft mit Wolfgang Rihm, Dieter Schnebel, Ivan Tcherepnin, Earl Kim, Mario Davidovsky, Luciano Berio, Yehudi Weiner…: das ist für mich wichtiger als der Kontakt zu bestimmten Kollegen im eigenen Fach. Dazu kommen die Interpreten: Aloys Kontarsky, Siegfried Palm, Siegfried Mauser, James Avery, Robert Levin und andere.
Deshalb beziehen sich meine Überlegungen zum Teil auch mehr auf Komposition als auf Geschichte. Das war ein Manko der Musikwissenschaft, als ich eingestiegen bin; die aktuelle Musik wollte man gerade nicht. Sie erinnern sich vielleicht an die damalige Auseinandersetzung von Friedrich Blume, seinerzeitiger Präsident der Gesellschaft für Musikforschung (und bereits in der Nazizeit einer der „führenden“ Musikwissenschaftler) mit Karlheinz Stockhausen, und wie Blume Stockhausen angegriffen hat: „Ist das noch Musik?“ Damals kam ein Melos-Heft mit solchen Schlagzeilen heraus. Das war für mich immer ein unverständlicher Standpunkt, diese Attitüde, sich gegen die Komponisten zu stellen. Nun habe ich bereits gesagt, dass das in Amerika sehr viel einfacher ist, weil schon in der Ausbildung die Musikwissenschaftler und die Komponisten an den großen Universitäten zusammen sind. Es gibt merkwürdigerweise einen PhD für die Komponisten, der aber mit sich bringt, dass die Komponisten auch in den musikwissenschaftlichen Seminaren sitzen und von daher auch Musik historisch denken lernen, während umgekehrt – und das ist vielleicht sogar wichtiger – die Musikwissenschaftler mit dem kompositorischen Denken direkt konfrontiert werden. Sie werden zum Beispiel Zeuge, wie in einem Seminar ein Komponist einen Satz von Mahler analysiert und interpretiert, oder Stockhausens „Gruppen“. Das ist eine andere Perspektive als die des Musikhistorikers. Es ist ungeheuer wichtig, dass das wissenschaftliche Fach diese Nähe zur aktuellen Komposition sucht.

Ihren Publikationen kann man entnehmen, dass die Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik ganz selbstverständlich auch zu einer Neubewertung der traditionellen Musik und zu einem neuen Blick auf die Geschichte überhaupt führt.

Ich bin nie ein Vertreter einer antiquarischen Geschichtsauffassung gewesen, sondern habe immer die Vergangenheit aus dem Blickwinkel der Gegenwart sehen wollen. Deswegen habe ich auch sehr viel Rezeptionsgeschichte geschrieben, also eine Methode genutzt , die dieser Grundthese sehr gut entspricht. Ich glaube nicht, dass man eine Rekonstruktion der Vergangenheit vornehmen kann. Unsere Methode muss vielmehr die Vergangenheit in dem begreifen, was sie an die Gegenwart weitergegeben hat, und sie von diesem gegenwärtigen Standpunkt aus betrachten. Wobei man natürlich die eigene Position selber reflektieren muss, aber das ist ein ganz normaler wissenschaftlicher Prozess. Walter Benjamin hat gesagt, dass Wissenschaft ihren Gegenstand, zum Beispiel das Musikwerk, zu einem Organon der Geschichte machen solle, und seine Rezeption, seine Höhen und Tiefen von der Entstehung bis in die Gegenwart hinein durchzudenken hat. Das scheint mir immer noch ein vernünftiges Programm für eine Wissenschaft heute zu sein.

Zurücknahme von Beethovens Neunter:
Von Brahms bis Leverkühn

Sie haben zwei Bücher über Brahms und Schumann geschrieben, und in Ihrer Darstellung rücken uns diese beiden Komponisten des 19. Jahrhunderts erstaunlich nahe. Im Schlusskapitel zur amerikanischen Ausgabe Ihres Brahms-Buches (Anm.2) ziehen Sie zum Beispiel eine interessante Querverbindung zwischen der Zweiten von Brahms und der fiktiven Symphonie des Adrian Leverkühn in Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Es geht in beiden Fällen um das Problem der „Zurücknahme“.

Wenn man Brahms in die Tradition der Beethoven-Rezeption stellt, dieses emphatischen bürgerlichen Pathos der Freiheit, wie es im letzten Satz der Neunten sogar noch verbal ausgedrückt wird – das, was die Kollegen in Amerika den „archetypal plot“, den symphonischen Archetypus des 19. Jahrhunderts nennen – dann kann man sehen, wie Brahms am Ende dieses so optimistisch beginnenden 19. Jahrhunderts eine ganz andere Haltung hat: einen Skeptizismus gegenüber der ins 20. Jahrhundert mündenden Entwicklung. Dieser schlägt sich in der Komposition eben als „Zurücknahme“ nieder. Von daher ergeben sich ganz enge Verbindungen zur neuen Musik am Anfang unseres Jahrhunderts. Das versuchte ich im Buch über die zweite Symphonie von Brahms, vor allem im Kapitel über das Melancholie-Problem, darzustellen. (Übrigens ist die US-Ausgabe des Brahms-Buches die definitive, sie ist gegenüber der deutschen erweitert und korrigiert.) Dass die Analyse eine große Rolle spielt, das ist nun wieder ein Erbe der fünfziger und sechziger Jahre, der Zeit meiner eigenen „Lehrjahre“. Das würde ich heute nicht mehr so machen, sondern mehr auf die generellen Aspekte Wert legen – das, was Thomas Mann als Vermittlungskategorie zwischen Politischem und Künstlerischem angesehen hat. Die Idee der Zurücknahme der neunten Symphonie ist ja eigentlich ein Symbol dafür, dass das 20. Jahrhundert nicht die Hoffnungen erfüllt hat, die der große bürgerliche Aufbruch seit der französischen Revolution voraussehen wollte. Angesichts der zwei großen Kriege muss man eher von ganz umgekehrten Vorzeichen sprechen.
Nun ist aber diese Zurücknahme eine Kategorie, die als Reflexion auf das 19. Jahrhundert entstanden ist. In Thomas Manns Beschreibung von Leverkühns Komposition „Doktor Fausti Wehklag“, auf die er den Begriff bezieht, tritt ein deutlicher Bezug zu Mahler zutage. Da gibt es diesen einen hängenden Celloton, der ist aus einem Satzschluss von Mahlers siebter Sinfonie, und dann verebbt das ganze Orchester – das ist die neunte Symphonie, die so schließt. Doch man kann noch weiter zurückgehen: Die erste große Symphonie, die mit einem Adagio, also sozusagen negativ schließt, war Tschaikowskys Sechste, die „Pathétique“. Und weiter: Derjenige, der zum ersten Mal das Beethovensche Pathos ironisiert hat und sich direkt auf die Überlagerung der beiden Hauptthemen im vierten Satz der Neunten bezogen hat – „Freude schöner Götterfunken“ und „Seid umschlungen Millionen“ kommen da ja zusammen -, war Berlioz. Im „Hexensabbath“, dem fünften Satz seiner Symphonie fantastique, bringt er das „Dies irae“ und den Danse macabre zusammen. Die Beethovenkritik hat also sehr früh eingesetzt: romantisch ironisiert bei Berlioz, dann bei Brahms ganz ernst genommen und mit einem Gegenentwurf beantwortet, wie ich das interpretiert habe, und dann bei Tschaikowsky und Mahler in der Absage an das Formschema, diesen Archetyp des 19. Jahrhunderts. Das hat Thomas Mann in seinem Roman reflektiert.

Und das alles immer noch innerhalb der Tradition der bürgerlichen Symphonik.

Ja, ganz klar. Es ist interessant, in Manns Tagebüchern, die ja nun zur Verfügung stehen, zu verfolgen, was er gehört hat. Er hat jeden Abend Musik von Schallplatten gehört. Und als er mit Adorno zusammensaß, haben sie an einem bestimmten Punkt der Arbeit am Roman, den man fast auf den Tag genau bestimmen kann, Tschaikowsky gehört. Es war wahrscheinlich die Sechste, denn zu dieser Zeit schrieb er das Kapitel über die Zurücknahme. Und er hat Mahler gehört und Bruno Walter konsultiert. Thomas Mann zog hier die Summe der großen bürgerlichen Musik und formulierte daraus die Absage an die neunte Symphonie, den Erfahrungen folgend, die die Komponisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gemacht hatten. – Von Klaus Mann, dem Sohn von Thomas Mann, gibt es bekanntlich eine Tschaikowsky-Biographie, „Symphonie pathétique“. Er schreibt dort über die Uraufführung der „Pathétique“, dass es alle Anwesende beim Hören dieser Musik gefröstelt habe. Die Kälte ist wiederum das Moment, das Thomas Mann dann im Doktor Faustus als ein Ingrediens des Teufels darstellt; vom Teufel geht Kälte aus, wenn Leverkühn ihn in Palestrina trifft. Ich frage mich, ob Thomas Mann vielleicht durch den Tschaikowsky-Roman seines Sohnes auf die Idee der Kälte gekommen ist. Das Kälte-Motiv spielt bei Thomas Mann auch anderswo eine Rolle; die Interpretation der „Winterreise“ im „Zauberberg“ gehört hierhin und anderes mehr. Das ist ein großes Thema der bürgerlichen Kunst: Das Einfrieren der bürgerlichen Hoffnungen in Kälte und Schnee.

Bürgerliche Verinnerlichungsprozesse

Im Vorwort zur zweiten Auflage Ihres Schönberg-Buchs weisen Sie darauf hin, dass viele Ihrer Arbeiten sich mit Verinnerlichungsprozessen im Medium der Musik befassen.

In meinen Veröffentlichungen habe ich eine Art kleiner Leitidee gehabt. Schönbergs op.11, Weberns Bagatellen, Brahms‘ Sinfonie, bestimmte Aspekte von Wagners Musikdramatik, Schumann und die Beethoven-Rezeption – in all diesen Untersuchungen haben mich immer die bürgerlichen Verinnerlichungsprozesse interessiert, wo eine Realitätserfahrung ganz nach innen schlägt und neues Nachdenken, neue Strukturen hervorbringt. Schumanns Aktualität liegt ja zum Beispiel darin, dass er wirklich am Beginn der Moderne steht und auch in diesem Sinne rezipiert werden sollte; für die Musik bedeutet er mit seiner musikalischen Lyrik (das heißt: Lied und lyrisches Klavierstück) das, was Baudelaire und andere Poeten für die Literatur bedeuten. Da wir immer noch im bürgerlichen Zeitalter leben und unsere eigenen Erfahrungen mit der Verinnerlichung von Realität haben, ist uns Schumanns Musik sehr nahe. Noch deutlicher erscheint das bei Brahms. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, solche Verinnerlichungsprozesse zu betrachten. Einerseits in der gängigen Art, sie als Rückzug aus der Realität, als Flucht zu verdammen. Doch mir ist immer ein Wort von Henze sehr aufschlussreich gewesen. Er sieht in der Kammermusik eine Möglichkeit zum „Nach- und Weiterdenken“. Das bedeutet: Ein verinnerlichtes Genrefeld wie Kammermusik birgt, wenn es richtig durchdacht wird, ein erhebliches Zukunftspotential. Diesen Anspruch versuchte ich in meinen Büchern einzulösen. Das ist aber eine Reihe, die nun zu Ende geht, und ins Zentrum rückt für mich jetzt mehr die Fortsetzung dieser Thematik im 20. Jahrhundert: das, was bei Thomas Mann mit der Kategorie der Zurücknahme bezeichnet wird und mit der Reflexion auf den Nationalsozialismus als ein Ergebnis der deutschen Geschichte dargestellt wird. Da komme ich jetzt auch zurück auf Kindheitserfahrungen. Meine allerfrüheste Erinnerung ist die brennende Synagoge in meiner kleinen Heimatstadt Wildeshausen in der sogenannten Reichskristallnacht. Mehr und mehr, eigentlich gegen meinen Willen, erscheint mir das als ein Symbol meiner Generation, und deswegen habe ich jetzt auch vor, das, worüber ich schon mehrere Seminare gemacht und viel nachgedacht habe, nämlich die Erfahrung mit der Musik im Faschismus, zum Thema von Veröffentlichungen zu machen.

Musik und Ideologie

Sie arbeiten auch an einem Buchprojekt, das zwar ein ästhetisches Phänomen behandelt, aber zwangsläufig in musikpolitische Bereiche hineinführt: „The Distorted Sublime.“ Es geht offenbar darum, wie im Nationalsozialismus die große bürgerliche Tradition umgedreht und verfälscht wurde. In welche Richtung wird Ihre Arbeit tendieren?

Zunächst ist es ein Reflex auf das, was bisher in der Erforschung der Musik im Nationalsozialismus geschehen ist. Das sind sehr verdienstvolle, mit ungeheurer Akribie betriebene Forschungen, aber sie haben meist eine persönliche Perspektive: Strauss im Dritten Reich, Furtwängler im Dritten Reich, Karajan im Dritten Reich usw. Solche personenbezogenen Untersuchungen waren eine Zeitlang wichtig, und es waren vor allem Außenseiter wie Fred K. Prieberg und nicht Musikwissenschaftler, die sich hier große Verdienste erworben haben. Ich möchte nun mehr auf eine grundsätzliche Problematik der Musik in ihrem Verhältnis zur nationalsozialistischen Ideologie insgesamt eingehen. Da bietet sich die Theorie des Erhabenen („the sublime“) an. Die ästhetische Theorie der Symphonie hatte ja ihre Kategorien aus der Erhabenen-Diskussion des 18. Jahrhunderts entlehnt. Meine These ist, dass die Musikideologie der Nazis eine zerstörte Ideologie des Erhabenen darstellt. Diese theoretische Diskussion möchte ich mit der Situation der Musik im Dritten Reich zusammenbringen, und da gibt es zwei Ansatzpunkte. Einerseits war da der dringende Wunsch von Hitler und Goebbels nach jenem großen sinfonischen Werk, das das Dritte Reich glorifizieren sollte. Deswegen schrieben Komponisten Stücke, die sich mit der von diesen sogenannten „Kampfzeit“ der Nationalsozialisten in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren beschäftigen, und da kommen die alten Topoi wieder hervor: Durch Kampf zum Sieg etc. Bei diesen Werken gibt es wiederum zwei Tendenzen zu unterscheiden. Einerseits diese große Symphonie, die nie geschrieben wurde, weil die Zeit der Symphonie eigentlich vorbei war. Es war ein anachronistischer Zug der Nazigrößen, die Komponisten zu einem Genre überreden zu wollen, das diese gar nicht mehr wollten. In den zwanziger und dreißiger Jahren wollte man neobarocke Suiten schreiben und nicht große Symphonien in der Nachfolge Beethovens. Doch in den Archiven liegen zahlreiche Werke, die auf diese Beethoven-Nachfolge reflektieren. Zum Teil sind sie für Hitler geschrieben worden. Zum Beispiel das riesig dimensionierte Chor-Orchesterwerk von einem Gottfried Müller, der damals eine große Hoffnung war und heute vollkommen vergessen ist, oder eine groß intendierte Symphonie von einem Friedrich Jung, der ebenfalls vergessen ist. Als zeittypische Werke aber sind diese Kompositionen ungeheuer aufschlussreich. Und die zweite Tendenz war der Kult, den die Nazis mit der Totenehrung getrieben haben. Das beginnt mit den Toten des Ersten Weltkriegs, die sie ihrer Bewegung zurechneten, das setzt sich fort mit den Feiern für die Toten des Marschs auf die Feldherrenhalle usw. Dazu gibt es Musik für große Trauerfeiern. Dann gibt es einen zweiten Ansatzpunkt in meinem Projekt, und das ist, was Sie angesprochen haben: Dass man auch die große bürgerliche Tradition vereinnahmen wollte. Daran waren wichtige Wissenschaftler beteiligt, zum Beispiel der bedeutendste deutsche Musikwissenschaftler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Heinrich Besseler. Ein hervorragender Gelehrter, der aber außerordentlich anfällig war für die nationalsozialistische Verführung. Er schrieb einen Text über Schiller und die musikalische Klassik, wo die Entwicklung der Musikgeschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert und der deutschen Kultur überhaupt zum Schluss in der Erscheinung Adolf Hitlers kulminiert. Das wird ganz klar herausgestellt: Von Beethoven bis Hitler. Hitler ist sozusagen die Erfüllung des Pathos der Beethovenschen Symphonie. Etwas Ähnliches geschieht mit Bruckner. Diese Verfälschung der bürgerlichen Tradition im Nazideutschland wird dann im zweiten Teil des Buchs thematisiert. Es wird aber auch gefragt, ob denn nicht gewisse Momente in dieser großen Tradition der Symphonik die „Benutzung“ im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie begünstigen.

Musikalische Exilforschung

Ein anderes Gebiet, auf dem Sie intensiv tätig sind, ist die Exilforschung. Einen Abriss der verschiedenen Stadien des noch jungen Forschungsgebiets liefern Sie im Vorwort eines Buchs zu diesem Thema, das Sie herausgegeben haben. (Anm.3) Wann hat die Musikwissenschaft begonnen, sich dieses Themas anzunehmen, und liegen die Anfänge mehr in Europa oder in Amerika?

Die Anfänge liegen in den sechziger Jahren, und in den siebziger Jahren gab es bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Projekt „Exilforschung“, das über viele Jahre hindurch hauptsächlich von Literaturwissenschaftlern und Historikern betreut wurde. Ich durfte damals ein kleines musikwissenschaftliches Forschungsprojekt zum Thema Komponistenexil übernehmen. Da entstanden Arbeiten wie die von Claudia Maurer Zenck über Ernst Krenek, wahrscheinlich die wichtigste Arbeit damals. Die literarische Exilforschung ist von Anfang an relativ international gewesen, durchaus mit einem Schwerpunkt in Deutschland. Es gibt zum Beispiel das Jahrbuch Exilforschung, das zwar in München herauskommt, aber von einem internationalen Gremium geleitet wird. In den USA ist das Musikerexil, das heißt: die Immigration, bisher nicht so eingehend erforscht worden. Dass das Interesse primär in Deutschland lag, hat mit dem Exodus der Forscher und Künstler zu tun. In der Forschung zum Komponistenexil gibt es mehrere Phasen zu unterscheiden. Man musste zunächst die Materialien drüben sichten, um eine Informationsbasis zu schaffen. Das ist denn auch gemacht worden, und die US-Universitäten sind heute voll von Nachlässen der Immigranten aus Europa. Einiges davon ist auch zurückgekommen nach Europa. Das zweite war dann die Reflexion auf die Exilsituation. In Deutschland wurde das erst einmal auf die Situation vor dem Exil bezogen, also sozusagen auf das Exil vor dem Exil: die Schikanierung der jüdischen Forscher zum Beispiel an den Universitäten oder auch, sehr früh, die innere Exilierung der Juden in andern Bereichen. Die Art, wie Schönberg und andere in der rechtsgerichteten Presse behandelt wurden, führte ja bereits zu einer exilähnlichen Situation. Das ist in Deutschland primär behandelt worden. Und als Drittes dann die Folgen für die deutsche Szene. Wenn ich mein Fach, die Musikwissenschaft, nehme: Im Buch „Driven into Paradise“ gibt es im Anhang eine Liste von Musikwissenschaftlern und Publizisten, die emigriert sind. Das sind etwa 170 Personen, eine erhebliche Zahl für deutsche Verhältnisse. Das haben wir in den Mittelpunkt einer ersten Konferenz gestellt, die in Essen statt fand und von Horst Weber konzipiert und geleitet wurde: Wer verließ Deutschland und wer blieb, und wer rückte an die Stelle der Vertriebenen? Da sieht man ganz deutlich, wie sozusagen die falschen Leute habilitiert worden sind und die Stellen bekommen haben. Da in Deutschland sich ja ein bruchloser Übergang von der Nazi-Musikwissenschaft zur Nachkriegs-Musikwissenschaft vollzogen hat – die Protagonisten der deutschen Musikwissenschaft in der Nazizeit, Friedrich Blume, Karl Gustav Fellerer und andere sind ja alle im Amt geblieben und wurden dann Präsidenten der Gesellschaft für Musikforschung usw. -, hat das alles voll durchgeschlagen auf die gesamte Entwicklung der Musikwissenschaft in Deutschland. Ich habe keine Skrupel, diese Namen zu nennen, weil diese älteren Herren, die ich damals kennenlernte, sehr freundliche Herren nach außen hin, ihre Namen ja auch da verschwiegen haben, wo sie sie hätten nennen sollen: Sie haben in den Artikeln, die sie selbst in den Lexika geschrieben haben, ihre sämtlichen Nazischriften nicht erwähnt. Besseler lässt alles aus, was ihn belasten könnte, Blume führt zwar das Buch, das ihn belasten könnte, an, nicht aber seinen Beitrag zur Hitler-Festschrift und seine Festrede zur Tagung „Musik und Rasse“ in Düsseldorf 1938, usw. usw. Nazi-Vergangenheit und Nachkriegs-Kontinuum derselben Hauptpersonen haben dem Fach ungeheuer geschadet.

Welchen Stellenwert haben Emigration und Emigrations-, resp. Immigrationsforschung heute in den USA?

Die Immigration ist hier jetzt ein außerordentlich interessanter Gegenstand, weil dieser Import von Wissenschaftlern und Künstlern das wissenschaftliche und künstlerische Leben in den USA ganz entscheidend beeinflusst hat. Man bedenke, wie viel Dirigenten, Pianisten, Geiger nach Amerika gegangen sind. Ganze Interpretationsschulen brachen in Europa ab und wurden in den USA fortgesetzt – nehmen Sie nur etwa Artur Schnabel, der hier eine eigene Pianistenschule begründet hat. Der Boom in der amerikanischen Musikausbildung ist zum Teil auch darauf zurückzuführen. Die führenden Interpreten werden heute in Amerika ausgebildet und nicht mehr im alten Europa. Dasselbe gilt für mein Fach. Die Musikwissenschaft ist eigentlich erst durch die Emigranten akademisch etabliert worden. Das heißt aber auch, dass zu einem Zeitpunkt, wo sich in Amerika jetzt auch in der Komposition – durch Copland, Cowell, Ives und andere – eine eigene nationale Musikkultur herausbildete, die Situation durch diesen Schub europäischer Emigranten plötzlich wieder verändert wurde: Hindemith an der Yale University wurde der erfolgreichste Kompositionslehrer, dann kam Schönbergs Einfluss – nicht mit den direkten Schülern, sondern erst in der zweiten Generation. Aber nicht nur Deutsche, auch Milhaud, Nadia Boulanger, und viele andere aus anderen Ländern unterrichteten in Amerika. Dieser zweite Schub von europäischem Einfluss hat die Amerikanisierungswelle in der Musik wieder ganz zurückgedrängt. Es gab also wieder keine Entfaltung der amerikanischen Identität; die Folgen sind bis heute zu spüren, und das wird im Moment sehr kritisch betrachtet in den USA.

Das Problem der amerikanischen Identität

Ist es nicht gerade eine Eigenart der amerikanischen Kultur, dass sie sich aus vielen unterschiedlichen Einflüssen zusammensetzt und von einer „Identität“ im Sinn der europäischen Nationalkulturen des 19. Jahrhunderts nicht gesprochen werden kann?

Das ist sicher richtig. Es gibt aber unterschiedliche Positionen. Auf der einen Seite diejenigen jüngeren Komponisten, die sagen, dass die europäischen Einflüsse künstlerischen Reichtum und neue Perspektiven brachten, diese ungeheuren Wahlmöglichkeiten, die wir heute in den USA musikalisch haben. Auf der andern Seite gibt es junge Komponisten, aber auch Ned Rorem und andere, die beklagen, dass sie dem europäischen Einfluss von Anfang so stark ausgesetzt waren, dass es schwer war, eine eigene Stimme zu finden. Wie komplex die Situation ist, zeigt der Fall eines deutschen Physikers, den die Emigration in eine kleine Stadt im Norden des Bundesstaats New York verschlagen hatte. Er fand in seinem Beruf überhaupt keine Möglichkeit zu arbeiten, und da es dort kein Orchester gab, kam er als Musikliebhaber auf die Idee, ein Orchester zu gründen, eine Subskriptionsserie für Konzerte aufzulegen und Konzerte zu veranstalten. So begründete er das Musikleben in dem Ort. Er war sehr erfolgreich, seine Initiative wurde von den Bürgern angenommen und wirkt bis heute nach. Doch nun gab es eine neue Entwicklung, und die besitzt ein tragisches Moment. Der Mann konnte sich nicht dazu entschließen, andere als vornehmlich deutsche Programme zu machen; amerikanische oder französische Werke spielten bei ihm keine oder eine nur sehr geringe Rolle. Das verhinderte den wirklichen Erfolg der Serie in dem kleinen Ort, und er musste zurücktreten. Also: Diese Kopplung von kultureller Initiative, die wirklich dem Lande etwas bringt, mit, ja man muss schon sagen: der Ideologie der europäisch-deutschen Tradition als der eigentlichen Musiktradition führte hier zu einem Debakel. Das wäre für mich ein weiterer Schritt im Problemfeld, das in „Driven into Paradise“ aufgerollt wird. Dieser Band betrachtet ja hauptsächlich Komponisten. Jetzt würde ich gerne zusammen mit meinem Kollegen Christoph Wolff noch einen zweiten Band nachschieben, der solche Fälle betrifft: Was ist aus dem Musiker geworden, der im Symphonieorchester am zweiten Pult der zweiten Geigen saß? Was ist aus dem jüdischen Kantor geworden, der von Berlin nach Buffalo flüchten musste? Die Emigration, oder „migration“, wie wir in den USA sagen, das ist ein großes Thema der Weltgeschichte überhaupt. Und da sind auch Ethnomusikologen gefragt, um diese Assimilierungsprozesse im internationalen Kontext beurteilen zu können.

Der Wagner-Komplex

Bei einem Symposium in Deutschland haben Sie im letzten Jahr ein Referat zur Wagner-Rezeption im Dritten Reich gehalten (Anm.4), das eine schöne Pointe enthält: dass nämlich in den Jahren der Naziherrschaft die relevante Wagner-Literatur gar nicht in Deutschland, sondern in andern Ländern geschrieben wurde.

Das letzte große Wagner-Buch, das in Deutschland (respektive im deutschen Sprachgebiet) vor der Nazi-Herrschaft geschrieben wurde, war die Arbeit über die Harmonik in „Tristan und Isolde“ von Ernst Kurth. Das Wichtigste, was dann international folgte, war die Wagner-Biographie von Ernest Newman. Doch die kam in England heraus und wurde nie ins Deutsche übersetzt. Hätte man übersetzt, wie hier ein englischer Wagnerianer ganz cool sein Wagner-Bild darstellt, dann wäre die Wagner-Rezeption in Deutschland wohl anders verlaufen. Da bin ich mir ganz sicher. Joachim Kaiser hat das auch einmal in Bezug auf George Bernard Shaws Wagner-Brevier gesagt. Das ist richtig, und dasselbe gilt für Newman.
In den zwanziger Jahren, nachdem die Kultur des 19. Jahrhunderts im Ersten Weltkrieg zusammengebrochen war, war die Antihaltung gegen das 19. Jahrhundert und damit gegen Wagner sehr stark. Nach den Statistiken wurde in den zwanziger bis vierziger Jahren in Deutschland viel mehr Verdi aufgeführt als Wagner, und bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg gingen die Wagner-Aufführungen in Deutschland weiter zurück. Verdi wurde viel mehr geliebt als Wagner. Auch große Teile der Nazipartei waren Antiwagnerianer. Rosenberg war kein Wagnerianer, Goebbels auch nicht. Aber Hitler war einer. Es war in gewisser Weise mit Rücksicht auf Hitler, dass Wagner als deutscher Musiker so propagiert wurde. Aus den gleichen Gründen hatten die Nazis auch keinen Erfolg mit dem Propagieren großer sinfonischer Werke. Wie ich schon ausgeführt habe, waren die Komponisten gar nicht daran interessiert, große Sinfonien mit einem Riesenfinale zu schreiben. Die Symphonie stand in Europa und damit auch in Deutschland historisch nicht auf der Tagesordnung. Beethoven und Wagner waren nicht die richtigen Komponisten-Vorbilder für die zwanziger und dreißiger Jahre, und trotzdem hat sich die Nazi-Ideologie an diesen Komponisten festgemacht.

Bayreuth konnte von der Wagner-Propagierung profitieren.

Bayreuth hat profitiert, und wie man jetzt weiß, auch von der Privatschatulle Hitlers, der viel Geld zugeschossen hat. Bayreuth war sozusagen das Aushängeschild, wo die Nazis demonstrierten, dass sie es ernst mit der Kunst meinten, und dass sie ein humanes Menschenbild hatten – wie sie das eben so machten. Hitler fuhr ja jedes Jahr dorthin.

Musikbücher: Die Suche nach einer neuen Sprache

Herr Brinkmann, zum Schluss möchte ich nochmals auf Ihre Bücher zurückkommen. Mich interessiert die Frage des Lesepublikums. Ihr Buch über Schönbergs Klavierstücke op.11 ist eine anspruchsvolle analytische Arbeit für Fachleute. Das Brahms-Buch hingegen wendet sich, obwohl es auch analytische Passagen enthält, offensichtlich an einen Lesertyp, den man als gebildeten Laien bezeichnen könnte. Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe sprechen Sie das auch an. Ist in Amerika die Möglichkeit, dieses Publikum zu erreichen, größer als in Deutschland?

Reinhold Brinkmann
Foto Jane Reed / The Harvard Gazette

Nicht unbedingt. Das Publikum ist nur größer, weil das Land größer ist. Das Schönberg-Buch ist eine fußnotenbeschwerte Dissertation. Davon waren wir damals fasziniert. Unsere älteren akademischen Lehrer vertraten damals geistesgeschichtliche Methoden, sie entwarfen große Perspektiven und kümmerten sich nicht so sehr um das Detail im Kunstwerk. Als man dessen überdrüssig wurde, kam dann die Gegenbewegung in Gestalt der werkimmanenten Interpretation bei den Germanisten und der Analyse bei den Musikwissenschaftlern. Mein Buch ist wie dasjenige von Elmar Budde über Webern ein typisches Produkt dieser Zeit. Unser Ausgangspunkt war Adornos Auffassung, dass der Gehalt von Werken in ihrer Technik liege und durch Analyse erschlossen werden könne. Ich muss gestehen, dass ich dem im Kern immer noch anhänge, obwohl ich ein solches Buch wie das über Schönbergs Opus 11 nicht mehr schreiben würde. Es ist zu hermetisch und wehrt den Leser zu sehr ab. Bei der Neuauflage, die jetzt erscheint, habe ich darauf gepocht, dass das Buch nicht mehr hundert Mark kostet, sondern 19 Mark 80. Das ist schon eine kleine Antwort auf die Frage nach dem Leser. Das Brahms-Buch ist für den besagten gebildeten Laien gedacht. Ich würde aber heute kritisch sagen: Es besitzt immer noch zu viel analytisches Detail. Man müsste einen Weg finden, so zu schreiben, dass diese analytischen Dinge zwar da sind, aber vielleicht im Kleindruck und beim Lesen übersprungen werden können. Oder noch anders: Man macht die Analyse für sich, aber veröffentlicht sie nicht in einem solchen Buch, sondern eventuell nur in der Fachzeitschrift. Die Zugänglichkeit für breitere Leserschichten entsteht ja dadurch, dass die Detailanalyse überführt wird in eine höhere Art von formaler Analyse und diese wieder in eine generelle ästhetische. Wenn man die untere Schicht wegließe, würde das Buch sicher verständlicher. Unter den „gebildeten Laien“, die ein solches Buch lesen, befindet sich auch mein Kollege von der Germanistik oder Kunstgeschichte. Das muss die Musikwissenschaft noch mehr praktizieren: den Dialog mit den Nachbarwissenschaften. Der wurde rapide unterbrochen durch unsere analytische Fundierung, wo wir immer mit vielen Notenbeispielen oder komplizierten Diagrammen kommen usw. Zur allgemein verständlichen Darstellung musikalischer Sachverhalte brauchte man eine andere Sprache. Das müsste eigentlich wichtig sein für alle, die über Musik schreiben: die Sprache so reich zu machen, so fähig, ästhetische Nuancen auszudrücken, dass man dem Leser alles durch die Sprache nahe bringen kann und nicht durch technische Details mit Partiturverweisen. Das wäre eigentlich mein Ideal für einen „Spätstil“ als Musikwissenschaftler. Nötig wäre, eine Art von Hermeneutik zu entwickeln, die sich auch nicht scheut, gewisse umgangssprachliche Dinge mit hinein zu nehmen, Metaphern zum Beispiel. Also ein klein wenig bei den Poeten in die Lehre gehen.

Persönliche Perspektiven

Noch eine persönliche Frage: Fühlen Sie sich von Ihrer Arbeit und Ihrem Lebensumfeld her inzwischen mehr als Amerikaner oder sind Sie noch stark in Deutschland verwurzelt?

Ich bin noch stark in Deutschland verwurzelt. An der Ostküste Amerikas ist alles doch sehr europäisch, im Unterschied etwa zu Los Angeles, und wir haben viele amerikanische Freunde, die europäisch orientiert sind. Die Kommunikation wird also vereinfacht durch eine Art Einheit der Kultur. Aber eines Tages merkte ich plötzlich, dass, wenn ich „zu Hause“ sagte, nicht mehr Berlin meinte, sondern Boston. Das hat einfach auch mit dem Arbeitsschwerpunkt zu tun, mit der Tatsache, dass da die große Wohnung mit all meinen Büchern und meinem Arbeitsplatz und dem Flügel ist, also mit gewissen Bequemlichkeiten. Und wenn man älter wird, verliert man auch alte Freunde und gewinnt neue an dem Ort, an dem man länger lebt. Und ich lebe acht bis neun Monate im Jahr in den USA. Inzwischen bin ich ja durch den Dialog mit den Kollegen auch wissenschaftlich viel mehr drüben beheimatet; die jüngeren Wissenschaftler in Europa kenne ich kaum noch. Insgesamt würde ich für mich sagen: Ich bleibe drüben, auch wenn ich pensioniert bin.

Was wünschen Sie Ihrem Fach für die Zukunft?

Das ist eine schwere Frage. Ich wünsche ihm einen ganz offenen und kritischen Nachwuchs, der die Dinge tut, die ich nicht mehr schaffe oder die ich aus Gründen meiner Konstitution oder meiner Beengtheit nicht gemacht habe. Ein Fach, das sehr weltoffen ist und sich sehr aus der Nähe zur künstlerischen Produktion der Gegenwart entwickelt.

© 2001 Max Nyffeler

Anmerkungen

1. Reinhold Brinkmann (1969). Arnold Schönberg: Drei Klavierstücke op.11. Studien zur frühen Atonalität bei Schönberg. Wiesbaden: Franz Steiner. (zurück)
2. Reinhold Brinkmann (1995). Late Idyll. The Second Symphony of Johannes Brahms. Cambridge: Harvard University Press. (zurück)
3. Reinhold Brinkmann & Christian Wolff (Hrsg.) (1999). Driven into Paradise. The Musical Migration from Nazi Germany to the United States.  Berkeley: University of California Press. (zurück)
4. Reinhold Brinkmann (2000). Wagners Aktualität für den Nationalsozialismus. Fragmente einer Bestandesaufnahme. In S. Friedländer & J. Rüsen (Hrsg.), Richard Wagner im Dritten Reich. München: Beck. (zurück)

Reinhold Brinkmann: Kurzportrait, biografische Daten

Ein Gedanke zu „Reinhold Brinkmann:
Dem Ton der Epoche nachgehört

  1. Sehr bedeutsamer Text. Ich finde es sehr wichtig, und bin sehr dankbar, dass diese weite, historisch informierte, kritische Perspektive Brinkmanns in Erinnerung behalten wird. Neugierig wäre ich, wer an Brinkmanns Sichtweise weiter gearbeitet hat in der Musikwissenschaft. Für mich erscheinen seine Arbeiten als eine Grundlage, auf der man erst eine kritisch-historische Würdigung dessen, was wir als musikalische Gegenwart in der Nachkriegszeit erlebten, leisten kann (ich bin Jahrgang 1949).

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