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Bewegungsrepublik Deutschland | Blätter für deutsche und internationale Politik
Ausgabe September 2008

Bewegungsrepublik Deutschland

Als vor zehn Jahren, am Abend des 27. September 1998, SPD und Grüne ihren Sieg bei der Bundestagswahl feiern konnten, fand damit – so die gängige Lesart – auch eine spezifisch bundesrepublikanische Bewegungsgeschichte ihren institutionellen Abschluss. Diese hatte spätestens mit den Studentenprotesten Ende der 60er Jahre eingesetzt und über die „Neuen Sozialen Bewegungen“ zur Gründung der Grünen und damit letztlich zur rot-grünen Koalition geführt. Seither jedoch scheint die Bedeutung der heute nicht mehr ganz so neuen Neuen Sozialen Bewegungen etwas zurückgegangen zu sein. Einige von ihnen haben zudem sichtlich Patina angesetzt – allen voran, allen neu-deutschen Feminismusdebatten zum Trotz, die Mobilisierungen der Frauen, ökologische Proteste und die einstige neue Friedensbewegung.

Gleichwohl gilt die Bundesrepublik nach wie vor mit einigem Recht als „Bewegungsgesellschaft“. Die Beteiligung in sozialen Bewegungen, politischen Kampagnen, Bürgerinitiativen und Protestgruppen hat neben der Mitgliedschaft in Parteien, Verbänden und Vereinen einen festen Platz im Repertoire des bürgerschaftlichen Engagements erobern können.

Mehr noch: Während die konventionellen Formen der politischen Partizipation, sprich: die Parteien, in den letzten beiden Jahrzehnten an Zuspruch verloren, ja vielfältige Verdrossenheiten erzeugt haben, legen die neuen Formen des Engagements weiterhin deutlich zu – ein Trend, der auch in anderen westlichen Demokratien zu beobachten ist. 1

Dennoch bleiben die Botschaften und demokratiepolitischen Herausforderungen des Bewegungssektors nach wie vor umstritten. Was für das linksalternative Spektrum als Garant für eine lebendige Demokratie gilt, löst im konservativen Lager die Sorge aus, ob bei all den Protesten auch das für nötig erachtete Ja zur politischen Ordnung und ihren Entscheidungen zustande kommt. Die Lage ist zudem unübersichtlicher geworden, seit rechtsextrem motivierte Anschläge und Demonstrationen zunehmend als Ausdrucksform einer sozialen Bewegung verstanden werden müssen. Vorbei scheint damit jene Phase der Bundesrepublik, als der Begriff „soziale Bewegung“ weitgehend von demokratisch-menschenrechtlich orientierten progressiven Mobilisierungen reklamiert wurde. Übersicht und Orientierung sind also gefragt.

Wie also sehen sie aus – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Bewegungsrepublik Deutschland?

Deutsch-deutsche Besonderheiten

In einem Rückblick auf die „alte Bundesrepublik“ hat Niklas Luhmann einmal das „Dagegensein“, die Neigung zum Protest, als eines ihrer wesentlichen Kennzeichen hervorgehoben und dabei eine ambivalente Haltung eingenommen. Einerseits spielte er den Protest herunter und sprach von bloßen „Aufregungsschäden“; andererseits sorgte er sich doch um die nötige Zustimmung zum gesellschaftlichen und politischen System. 2

In zeitgeschichtlicher und vergleichender Perspektive sind jedoch differenziertere Aussagen notwendig, um die Bedeutung von Protestbewegungen in der Geschichte der Bundesrepublik näher zu bestimmen. Die Betonung des Protests als prägendem Moment der westdeutschen Nachkriegsgeschichte findet bei Historikern allenfalls begrenzte Bestätigung. Selbst umfangreiche Überblicksdarstellungen kommen fast ohne die Erwähnung von Protest aus; manchmal werden Protest und Bewegungen aber auch deutlicher gewürdigt, ohne dass daraus allerdings konzeptionelle Konsequenzen gezogen würden. 3

Protestgeschichte wäre zunächst mit Blick auf die Besonderheiten der deutsch-deutschen Konstellation zu schreiben. Grenzüberschreitende Kontakte und Mobilisierungen sind für Bewegungen in vielen Ländern Normalität, waren aber doch für beide deutschen Staaten aufgrund der gemeinsamen Sprache und Kultur einerseits sowie der ideologischen Polarisierung beider Systeme andererseits in mancher Hinsicht einmalig.

Zu dieser besonderen deutschen Protestgeschichte gehören neben vielem anderen die auch politisch motivierte Abwanderung aus der DDR als Option bis zum Mauerbau 1961 und dann wieder als Ausreisebewegung im Jahr 1989; die wechselseitige Ausgrenzung von Opposition („Geh doch nach drüben!“) bei gleichzeitiger innerstaatlicher Feinderklärung, die gezielte Einflussnahme der DDR – insbesondere durch Stasi-Infiltration und finanzielle Förderung – auf linke Gruppen im Westen; die vor allem von Westseite ausgehenden grenzüberschreitenden Kontakte zu dissidenten Gruppen in der DDR sowie die Rolle der „Westmedien“ als Sprachrohr für in der DDR unterdrückte Stimmen.

Nachkriegsjahre und „CDU-Staat“

Beeinflusst wurde die Entwicklung von Protestbewegungen stets sehr stark durch das gesellschaftliche und politische Umfeld: dominante Grundstimmungen eher konservativer oder reformorientierter Prägung, Probleme, Krisen und Krisenwahrnehmungen sowie Regierungskonstellationen.

In den unmittelbaren Nachkriegsjahren standen Fragen des materiellen Überlebens und des Wiederaufbaus der zerstörten Infrastruktur im Vordergrund. Das politische Leben war durch die Besatzungsmächte kontrolliert. Nennenswerte bewegungsförmige Regungen zeigten sich nicht auf den Straßen, sondern vor allem in den Betrieben, unter anderem mit ihren „antifaschistischen Aktionsausschüssen“ und wieder auflebenden Gewerkschaftsaktivitäten: Hungerstreiks in den Betrieben 1947; eintägiger Generalstreik 1948; Widerstand gegen die Demontage von Produktionseinrichtungen im Ruhrgebiet.

Nach der Gründung der Bundesrepublik entfaltete sich ein durchaus breites politisches Themenspektrum politischer Mobilisierung, das in den Anfangsjahren der Bonner Republik durch drei Schwerpunkte geprägt war: erstens die Mobilisierung im Zusammenhang mit Kriegsfolgen und -lasten, darunter von Kriegsopfern, Kriegsheimkehrern und Vertriebenenverbänden; zweitens die Auseinandersetzung zwischen linken und konservativen bzw. reaktionären Kräften um Kommunismus, Antisemitismus und das Fortwirken nationalsozialistischen Gedankengutes; drittens Fragen der Westeinbindung, der Wiederbewaffnung, der atomaren Rüstung und des Antimilitarismus. Die außerparlamentarische politische Mobilisierung erfolgte überwiegend durch Großorganisationen. Vorherrschende Formen des Protests bildeten Massenkundgebungen und Unterschriftensammlungen.

Während die 50er Jahre durchaus protestintensiv waren, insbesondere hinsichtlich der Zahl von Protestteilnehmern (sichtbar unter anderem an den Unterschriftensammlungen gegen die Wiederbewaffnung), wurde in der ersten Hälfte der 60er Jahre nur wenig protestiert. Das politische Establishment war ganz auf Konsolidierung und Beständigkeit eingestellt („Keine Experimente“). Protest galt weithin als Störung der öffentlichen Ordnung und zumal beim Thema Frieden und Abrüstung als kommunistisch beeinflusst oder gar gelenkt („Moskaus Fünfte Kolonne“). Allerdings spielten zu Beginn des Jahrzehnts antisemitische Aktivitäten (insbesondere Grabschändungen und Schmierereien) eine besondere Rolle.

Große Koalition und sozialdemokratisch geprägte Reformära

Mit dem Beginn der Großen Koalition veränderten sich die politischen Rahmenbedingungen sehr deutlich. Davon profitierten einerseits die NPD mit ihren Wahlerfolgen in einigen Landesparlamenten, andererseits – und weitaus folgenreicher – die Außerparlamentarische Opposition (ApO) mit ihren Kernen der Neuen Linken und der Studentenbewegung. Mit der ApO gerieten nicht allein einzelne „Missstände“, sondern die bürgerlich-kapitalistische Ordnung als Ganzes in die Kritik: Es ging unter anderem um Neokolonialismus und Befreiungskämpfe in der Dritten Welt, um Herrschaftsverhältnisse und kapitalistische Ausbeutung im eigenen Land, um „Formaldemokratie“ und Meinungsmanipulation, Notstandsgesetze, fehlende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Ordinarienuniversität und technokratische Zurichtung in den Hochschulen, Lüge und Doppelmoral im Alltagsleben.

Träger der Bewegung waren die linke Intelligenz und die Studierenden. Der Arbeiterschaft und den Randgruppen, die es zu „agitieren“ galt, blieb die Bewegung speziell in der Bundesrepublik aufgrund ihrer Kopflastigkeit, aber auch ihres antiautoritären Gestus weitgehend fremd. Die Proteste dieser Phase waren zahlreich und teilweise äußerst provokativ, sie erreichten indes nur bescheidene, oft weithin überschätzte Größenordnungen.

Dramatisch war nicht das Ausmaß, sondern die ideologische und habituelle Radikalität des Protests, der entsprechend harsche Gegenreaktionen hervorrief, die in Diffamierungen durch die „Springer-Presse“ und in polizeilichen Überreaktionen gipfelten. Kennzeichnend für die Bewegung war ihr ausgeprägtes Bewusstsein für die Rolle der Medien im Kampf um Bilder und politische Deutungen. Zugleich war aber der Umgang mit den Medien vorwiegend auf Spektakel ausgerichtet; diskursive, auf die Mehrheitsgesellschaft zielende Überzeugungsversuche wurden vernachlässigt. Bereits 1969 setzte der Zerfall der Bewegung ein, deren Impulse und Energien in ganz unterschiedlichen Bahnen fortwirkten: in klandestinen und dann zunehmend kaltblütigen Terrorgruppen, im Sektierertum rivalisierender K-Gruppen, in Bestrebungen eines undogmatischen Sozialismus außerhalb (Sozialistisches Büro) und innerhalb der Parteien (vor allem die Jungsozialisten) mit dem Effekt einer Dynamisierung der Sozialdemokratie.

Abgesehen von kurzzeitigen Mobilisierungen, etwa den Septemberstreiks von 1969 oder dem Ford-Streik von 1973, blieb die Arbeiterschaft ruhig und verband sich, anders als in Italien und Frankreich, nicht mit den Studierenden.

Kritik am „Modell Deutschland“

Vor allem aber waren es die Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen (NSB), die ab den frühen 70er Jahren an Konturen gewannen. Sie rückten sie für rund zwei Jahrzehnte in das Zentrum des Bewegungsgeschehens.

Noch bis in die 70er Jahre war der Begriff „soziale Bewegung“ in der Bundesrepublik überwiegend negativ besetzt. Er stand unter NS-Verdacht, zumindest aber dem des anti-modernen und romantischen Irrationalismus. 4

Erst mit den neuen sozialen Bewegungen hat sich dies verändert. Ihre progressive Grundströmung ist weitgehend unbestritten. Demokratisierung gilt als ihr übergreifendes Thema, das auch die Bewegungspraxis prägt, zumindest prägen soll. Ihre pluralistische Agenda und Strömungsvielfalt unterscheiden sie von historischen Vorgängern.

Als dominierende Bewegungsform konnten sich die neuen sozialen Bewegungen in den 70er und 80er Jahren in der Bundesrepublik durchsetzen. In dieser Phase kam es zu verschiedenen, teils kurzen, teils längeren, teils sich auch überlagernden Mobilisierungswellen mit vordergründig sehr unterschiedlichen Themen: Paragraph 218, Frauenemanzipation, Anti-Atomkraft und Ökologie, Alternativkultur, Hausbesetzungen, Kampagne gegen NATO-Doppelbeschluss. Diese Wellen basierten jedoch nicht nur auf einer relativ homogenen Trägerschaft, sondern auch auf einer gemeinsamen Wertgrundlage, welche später als „postmaterialistisch“ bezeichnet wurde.

Nach der Untersuchung von Hanspeter Kriesi u. a. gingen im Zeitraum von 1975 bis 1989 knapp drei Viertel aller Proteste in der Bundesrepublik auf das Konto der NSB (in Frankreich nur 36 Prozent). 5 Innerhalb dieses Themenspektrums konnten in den 70er Jahren die Konflikte um Atomenergie und Ökologie die meisten Menschen mobilisieren. Daneben gab es auch vielgestaltige Formen des „Ausstiegs“ aus der „Leistungsgesellschaft“, die sich in subkulturellen Milieus manifestierten und nur gelegentlich mit explizitem Protest verknüpft wurden. Die Gewerkschaften standen diesen Bewegungen zunächst eher ambivalent, in einzelnen Bereichen (vor allem der Energiepolitik) sogar überwiegend ablehnend gegenüber. Sehr gemischt fielen auch die Reaktionen der etablierten Politik aus. Die zunächst eher aufgeschlossene Haltung der Meinungsführer in der SPD kippte mit dem Wechsel von Brandt zu Schmidt, mit dem zugleich eine Abkehr von grundlegenden Reformbestrebungen verbunden war („Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, Helmut Schmidt), um in skeptische Distanz. Dies wiederum bestärkte die Bewegungen in ihrer institutionen- und parteienkritischen Haltung.

Höhepunkt der wechselseitigen Entfremdung war die Phase in den späten 70er Jahren, als Stichworte wie „Alternativbewegung“, „Zweite Kultur“ und „Auszug aus dem Modell Deutschland“ die Runde machten. 6 Innerhalb der Bewegungen setzte sich ein radikaler Reformismus durch, während die „antisystemischen“ Gruppierungen (vor allem diverse K-Gruppen) an Boden verloren und der Linksterrorismus sich vollends isolierte.

Ab den frühen 80er Jahren gewann die Friedensbewegung an Bedeutung und setzte, gemessen an der Zahl von Protestierenden, die bis dahin mit Abstand mächtigste Protestwelle in Gang. Das Bewegungsspektrum differenzierte sich nun in ideologischer, thematischer und organisatorischer Hinsicht weiter aus. Auf der einen Seite kam es zunächst zu Verhärtungen, sichtbar an den sehr konfrontativen Auseinandersetzungen um Hausbesetzungen, Rekrutenvereidigungen sowie den Aktionen der „autonomen“ Gruppen. Auf der anderen Seite begann sich aber auch das Verhältnis zwischen „alter“ und „alternativer Politik“ vor allem auf kommunaler Ebene zu entkrampfen. Symptomatisch dafür war die zunehmende Kooperation in einzelnen Themenbereichen, teilweise auch verbunden mit der staatlichen Förderung bewegungsnaher Gruppen, beispielsweise im Bereich der Stadtteilarbeit, der Selbsthilfegruppen im Gesundheits- und Sozialbereich, der Aids-Prävention, der Frauenhäuser usw.

Die Geburt der Grünen

Eine wichtige Vermittlerrolle spielten auch die 1978 entstandenen grünen, bunten und alternativen Listen, später die Partei der Grünen, die sich zunächst als parlamentarischer Arm der neuen sozialen Bewegungen, dann aber zunehmend als eigenständiger politischer Akteur mit dem Anspruch einer umfassenden Themen- und Gestaltungskompetenz verstand.

Tatsächlich ist das einzig erfolgreiche Parteienprojekt seit den 50er Jahren, die „Grünen“ bzw. heute „Bündnis 90/Die Grünen“, eindeutig aus den ökologischen Protesten der 70er und anderen Bewegungsmilieus entstanden. Mit der Metapher von Spielbein (Parlamentsarbeit) und Standbein (Bewegungspolitik) oder anspruchsvollen Konzepten, wie der „postkonventionellen Rahmenpartei“, der „Antiparteien-Partei“ oder schlicht der „Partei neuen Typs“, versuchten die Grünen noch eine Weile, ihre bewegten Wurzeln zu pflegen. Der gemeinsame Auftritt bei Blockaden der Friedensbewegung oder an den Bauzäunen von Atomprojekten gehörte in den Anfangsjahren der Partei zum obligatorischen Rahmenprogramm von Parteitagen (bzw. „Bundesdelegiertenversammlungen“), mit dem Bewegungsnähe zelebriert wurde.

Durch die Bürgerbewegungen, die zum Ende der DDR beitrugen, erhielten die Grünen Anfang der 90er Jahre neue Bewegungsimpulse. Dennoch ist es symptomatisch, dass die bis heute gründlichste Analyse der Geschichte und Strukturen der neuen Partei bereits 1993 das Scheitern von Basisdemokratie und Bewegungspartei konstatierte. Vom bloß parteiförmigen „Bewegungsprojekt“ der Grünen, das von Anbeginn gerade in seinem Verhältnis zu sozialen Bewegungen heftig umstritten war, ist seither kaum mehr die Rede – ein Anspruch aus der Gründungsphase, der der grünen Parteielite spätestens seit ihrer Regierungsbeteiligung auf Bundesebene ab 1998 eher peinlich geworden zu sein scheint. 7

Im Verlauf der 80er Jahre war jedoch eine dichte Infrastruktur der NSB entstanden, welche damit, jenseits der Konjunktur einzelner Konfliktthemen, ihre Präsenz verstetigten, sich teilweise professionalisierten und zunehmend als politischer Faktor Anerkennung fanden. Die NSB dieser Ära gewannen mit zwei Grundmustern ihrer Kritik an Bedeutung: zum einen, indem sie mit Vorstellungen einer intensiven politischen Partizipation und Selbstbestimmung als zunehmend kompetente Gegenspieler einer neuen Klasse von Professionellen und Technokraten antraten; 8 zum anderen, indem sie dominante kulturelle Muster in Frage stellten und dabei grundlegende Fragen des Alltagslebens politisierten: vom Geborenwerden bis zum Sterben, Sexualität, Geschlechterverhältnis, Naturverhältnis. Hierbei spielt die Suche nach persönlichen und kollektiven Identitäten eine Schlüsselrolle. 9

DDR: Von der Bewegungslosigkeit zum Umbruch

Ganz anders war die Situation in Gesellschaften vom Typus der DDR. Zwar gab es auch hier eine Fülle von Widerspruch und Opposition, die aber erst in den 80er Jahren unter dem „Dach der Kirche“ und besonders zum Ende der DDR die Chance erhielt, bewegungsförmig zu agieren. Wo grundsätzlich die Legitimität von Opposition bestritten wird, nimmt sie schnell regimekritische Formen des Widerstands an. Diese können von offenen Aufständen, wie am 17. Juni 1953, bis zu lokalen Subkulturen reichen.

Letztere waren bereits parallel zu den antiautoritären Protesten in den 60er Jahren in einigen Städten der DDR entstanden und hatten in den 80er Jahren deutlich an Anziehungskraft vor allem für Jüngere gewonnen, die ihre Distanz zum Regime zumeist in mehr oder weniger tolerierten (alltags)kulturellen Formen auslebten. Neben den besonderen Möglichkeiten, oppositionelle Motive im kirchlichen Raum zu entfalten, sticht in der DDR und anderen osteuropäischen Gesellschaften die Widerstandsform der Dissidenz hervor. 10 Diese zumeist intellektuelle Praxis präsentiert sich als öffentliche Form „immanenter Kritik“, indem sie die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit kommunistischer Politik und Postulaten der Ideologie zum Skandal macht, ohne sich vom kommunistischen Ideal abzuwenden. Die Biografien prominenter Dissidenten wie Robert Havemann, Rudolf Bahro und Wolf Biermann erinnern an die Gratwanderung dieser Praxis zwischen öffentlichem Auftritt und strengem Hausarrest. Hinzu kommt die besonders in den beiden deutschen Parallelstaaten stets vorhandene und häufig genutzte herrschaftliche Option der – im Osten oft auch erzwungenen – Abwanderung bzw. Ausbürgerung.

Durchaus vergleichbare Protestmotive und -potentiale konnten sich unter den repressiven DDR-Verhältnissen in der Regel somit nicht zu sozialen Bewegungen entwickeln, sondern nahmen andere Formen des Widerstands und Dissenses an. Von einer infrastrukturell verankerten Oppositionsbewegung kann in der DDR deshalb kaum die Rede sein. Die Ereignisse des 17. Juni 1953 markierten einen kurzen, eruptiven Ausbruch der Unzufriedenheit. Die oppositionellen Gruppen, die sich ab den späten 70er Jahren gebildet hatten und fast durchgängig eine reformsozialistische Perspektive vertraten, blieben angesichts der staatlichen Überwachung und Repression auf kleine und informelle Zirkel beschränkt.

In den (sub)kulturellen Milieus der größeren Städte und unter dem Dach der Kirchen konnten oppositionelle Orientierungen vor allem in den 80er Jahren dauerhafter entwickelt werden. Abgesehen von ihren Forderungen nach der Garantie elementarer Bürgerrechte vertraten die Gruppen ein ähnliches Themenspektrum wie die NSB des Westens (vor allem Frieden, Ökologie, Atomkraft). Erst im Laufe des Jahres 1989 setzte eine unerwartete Dynamik der sich zuspitzenden Systemkritik ein, die dann in den Massenprotesten der Wendephase kulminierte, im Verlauf der Wendeproteste aber einen qualitativen Umschlag erfuhr (von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“), um schließlich schnell und fast geräuschlos zu implodieren.

Das vereinigte Deutschland

Somit hatten die 80er Jahre eine paradoxe Situation hinterlassen: Während die analytisch gut begründete Hoffnung auf machtvolle Bewegungen im Westen nicht in Erfüllung ging, trugen soziale Bewegungen in den kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas zu revolutionären Umbrüchen bei, die, dies eine weitere Paradoxie, überaus friedlich in einer hoch militarisierten Umwelt mit teilweise ausladenden Sicherheitsapparaten verliefen.

Keiner dieser revolutionären Umbrüche der „samtenen Revolution“ hat allerdings einen nennenswerten Beitrag für das Ideal der Befreiung bzw. einer befreiten Gesellschaft leisten können – sieht man einmal von den radikalisierten zivilgesellschaftlichen Konzepten einzelner Oppositionsbewegungen vor dem Zusammenbruch des Ostblocks ab. 11 Vielmehr handelte es sich überwiegend, wenn auch wider Willen, um Transformationsbewegungen, die den Übergang zu einem westlich-kapitalistischen System beschleunigten.

Der Bewegungssektor im wiedervereinigten Deutschland ist heute vor allem durch drei Entwicklungen charakterisiert.

Erstens gewannen relativ zu den Themen der NSB seit 1989 „materialistische“ Fragen (wie Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Niedriglöhne, Renten- und Gesundheitssystem) an Bedeutung. Besonders ausgeprägt war dies in den neuen Bundesländern, wo die NSB bis heute deutlich mobilisierungsschwächer als in den alten Bundesländern blieben. Bemerkenswert war insbesondere der Widerstand gegen das Hartz-IV-Gesetz und, grundsätzlicher, gegen den Sozialabbau; er führte zwischen 2003 bis 2006 zu mehreren Massendemonstrationen und manifestierte sich in der beachtlichen Welle der „Montagsproteste“ vom Sommer 2004. Insofern kann man berechtigt von einer Wiederkehr der „sozialen Frage“ sprechen.

Zweitens verstärkte sich eine zunehmend militante rechtsradikale und ausländerfeindliche Szene. Rechtsextreme und rechtspopulistische Mobilisierungen waren zwar nie aus der Nachkriegsgeschichte verschwunden; doch erst in den 90er Jahren erreichten sie ein bis dahin kaum mehr möglich gehaltenes Gewicht. Bewegungsförmigen Charakter hat die – im Westen überwiegend organisationszentrierte, im Osten stärker subkulturelle – rechtsextreme Szene in Deutschland erst nach der Vereinigung angenommen – dies wohl nachhaltig und erfolgreich. Während autonome Gegenmilieus schwächer werden, expandiert die (sub-)kulturell verankerte rechtsextreme Musik- und Skinszene in den neuen Bundesländern. In vielen ländlichen Bereichen und in einzelnen Quartieren der Großstädte ist sie die dominante Szene, deren sozialisatorische Wirkungen wohl auf Jahrzehnte spürbar sein werden.

Die aktiven rechten Gruppen sind nach der Zahl der Proteste, nicht aber nach der Zahl der daran beteiligten Menschen, sehr gewichtig. Bedingt durch ihre Aggressivität und ihr zunehmend selbstbewusstes Auftreten riefen diese Gruppen aber auch eine starke Gegenbewegung auf den Plan, deren Bandbreite von militanten Antifa-Gruppen bis weit in das bürgerliche Lager reicht. In aller Regel werden rechtsradikale Demonstrationen mit um ein Mehrfaches größeren Gegendemonstrationen beantwortet.

Drittens haben sich aus den NSB heraus globalisierungskritische Gruppen und Bewegungen entwickelt. Sie sind nicht nur charakterisiert durch ihre transnationale Vernetzung und Mobilisierung, sondern auch durch ihre enge Verknüpfung von vormals eher getrennt behandelten Themenbereichen, wobei die Kritik ökonomischer Verhältnisse, insbesondere am sich globalisierenden Neoliberalismus, im Mittelpunkt steht. Daraus ergeben sich auch Bündnisse mit den immer weiter in die Defensive geratenen Gewerkschaften, die wie die Parteien in den letzten Jahren beträchtliche Mitgliederverluste hinnehmen mussten. Die NSB der 90er Jahre waren gekennzeichnet durch ein partielles Ausfransen, durch Mobilisierungsschwächen bzw. Latenzphasen einzelner Bewegungen (so der Frauenbewegung), durch sporadisch auftretende diffuse Proteste (beispielsweise die Hannoveraner „Chaos- Tage“) und Fun-Spektakel (etwa die Love-Parade oder Skater-Proteste), aber auch die Revitalisierung solcher Protestthemen, die bereits in den 70er Jahren virulent gewesen waren (wie die Anti- Castor-Proteste).

Wie die Protestereignisdaten zeigen, sind die NSB heute zwar keineswegs am Ende, aber ihr Elan ist doch schwächer geworden. Auch sind sie, soweit sie nicht in globalisierungskritischen Kontexten stehen, stärker fragmentiert und teilweise in Fachpolitiken eingebunden. Auch innerhalb der globalisierungskritischen Bewegungen werden Tendenzen einer „NGOisierung“ mit dem Effekt einer Zähmung des Protests beklagt, was am linken Rand des Spektrums wiederum zu einem Wiederaufleben antikapitalistischer Orientierungen und Strömungen geführt hat.

Eine andere Welt bleibt möglich

Trotz der zu beobachtenden Neuen Unübersichtlichkeit im deutschen Bewegungsspektrum gelten soziale Bewegungen weiterhin zu Recht als wichtige Akteure moderner Gesellschaften, ja, geradezu als Kennzeichen der „Moderne“, weil sie die Fähigkeit einer Gesellschaft ins Zentrum rücken, sich selbst zu produzieren und sozialen Wandel aktiv zu gestalten. Zu sozialen Bewegungen gehört daher definitionsgemäß die Überzeugung, dass gesellschaftliche Verhältnisse bewusst gestaltbar sind. „Phantasie an die Macht“ drückte die weitreichenden Veränderungshoffnungen der „68er“-Proteste aus, „Eine andere Welt ist möglich“, lautet der entsprechende Slogan der globalisierungskritischen Bewegungen.

Gesellschaft ist also weder gottgegeben noch naturwüchsig oder so überkomplex, dass jeder Versuch sinnlos wäre, zielgerichtet und gestaltend Einfluss nehmen zu wollen. 12 Soziale Bewegungen reklamieren und steigern die Selbstgestaltungsfähigkeit von Gesellschaften.

Offen bleibt dabei die Reichweite solcher Gestaltungsversuche, die beanspruchte Veränderungstiefe und nicht zuletzt die tatsächliche Wirkung. Nicht wenige Beobachterinnen und Beobachter neuerer sozialer Bewegungen sehen gegenwärtig eine wachsende Tendenz zum bewusst bescheidenen Anspruch. 13 Jean Cohen spricht von einem „selbstbegrenzten Radikalismus“. 14 Es gehe eher um „Projekte in der Gesellschaft“ als um „Gesellschaft als Projekt“. 15

Nicht zuletzt diese Selbstbegrenzung der neuen sozialen Bewegungen hat zuweilen an den Rändern fundamentalistische und terroristische Radikalisierungen provoziert. Allerdings relativiert sich die Bescheidenheit, betrachtet man die Summe der Veränderungsansprüche innerhalb der existierenden neuen sozialen Bewegungen. Zusammengenommen übersteigen sie bei weitem die Unterschiede der großen Systemalternativen von Kapitalismus und Sozialismus, die sich im Kalten Krieg gegenüberstanden.

Zudem haben die bewegten Aufbrüche in Osteuropa seit 1989 deutlich gemacht, dass die Zeiten schneller Gesellschaftsumbrüche mit aktiver Beteiligung von sozialen Bewegungen keineswegs der Vergangenheit angehören.

Soziale Bewegungen sind also keineswegs schlicht die modernen Nachfahren der „Zitter- und Zappelzustände“ 16 , die Ethnologen für „einfache“ Gesellschaften beschrieben haben, also die Verkörperung von Bewegung im Stillstand. Vielmehr haben sie in modernen Gesellschaften stets eine Botschaft, ein Projekt, eine Vision von Gesellschaft, zumindest von gesellschaftlichen Teilbereichen, die es zu verändern gilt, um die Gesellschaft zukunftsfähig zu machen. Ohne ein solches „Projekt“ entfiele der Anspruch auf bewusste Gesellschaftsgestaltung – und damit auch der Sinn einer jeden sozialen Bewegung.

 

Dieser Beitrag basiert auf dem von den beiden Autoren herausgegebenen Buch „Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch“, das soeben im Campus-Verlag, Frankfurt a.M. erschienen ist.

1 Vgl. Pippa Norris, Democratic Phoenix. Reinventing Political Activism, Cambridge 2002.
2 Niklas Luhmann, Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, herausgegeben und eingeleitet von Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt a. M. 1996.
3 Vgl. Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999 und Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006. Immerhin gibt es von Historikern zunehmend Versuche, die Rolle einzelner Bewegungen bzw. Kampagnen zu analysieren (vgl. Ingrid Gilcher-Holtey 2001 zur Studentenbewegung; Jens Ivo Engels 2006 zur Umweltbewegung; Benjamin Ziemann 2002 zur Friedensbewegung sowie eine Fülle von Autoren, darunter Helga Grebing und Klaus Tenfelde, zu Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften). Gleichwohl fehlen bislang zusammenschauende Analysen. Diese stünden angesichts des disparaten Forschungsstands vor großen Herausforderungen.
4 Vgl. Erwin K. Scheuch (Hg.), Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft. Eine kritische Untersuchung der „Neuen Linken“ und ihrer Dogmen, Köln 1968; Kurt Sontheimer, Das Elend unserer Intellektuellen: linke Theorie in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 1976; Uwe Schimank, Neo- romantischer Protest im Spätkapitalismus. Der Widerstand gegen die Stadt- und Landschaftsverödung, Bielefeld 1981.
5 Hanspeter Kriesi, Ruud Koopmans, Jan Willem Duyvendak and Marco G. Giugni, New Social Movements in Western Europe: A Comparative Analysis, Minneapolis 1995, S. 20.
6 Wolfgang Kraushaar, Autonomie oder Getto? Kontroversen über Alternativbewegungen, Frankfurt a. M. 1978.
7 Vgl. Joachim Raschke (Hg.), Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993, S. 640?f und Karl Heinz Roth, Die historische Bedeutung der RAF, in: Karl Heinz Roth und Fritz Teufel, Klaut sie!, Tübingen 1980, S. 70-89.
8 So die Deutung von Alain Touraine, Le mouvement de Mai ou le communisme utopique, Paris 1968; vgl. auch die Vorstellung einer „Demokratie von unten“, Roland Roth, Demokratie von unten. Neue soziale Bewegungen auf dem Wege zur politischen Institution, Köln 1994; Ruud Koopmans, Democracy from Below. New Social Movements and the Political System in West Germany, Minnesota 1995.
9 Vgl. Alberto Melucci, Challenging codes: Collective action in the information age, Cambridge 1997.
10 Vgl. Bernd Florath, Opposition und Widerstand, in: Clemens Burrichter, Detlef Nakath und Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.), Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000. Gesellschaft – Staat – Politik. Ein Handbuch, Berlin 2006, S. 354-411.
11 Helmut Fehr, Unabhängige Öffentlichkeit und soziale Bewegungen. Fallstudien über Bürgerbewegungen in Polen und der DDR, Wiesbaden 1996; Gideon Baker, Civil Society and Democratic Theory. Alternative Voices, London und New York 2002.
12 Zum Komplexitätsargument und anderen Elementen konservativer Rhetorik vgl. Albert O. Hirschman, The Rhetoric of Reaction: Perversity, Futility, Jeopardy, Cambridge 1991.
13 Claus Offe, Reflections on the Institutional Self-Transformation of Movement Politics: A Tentative Stage Model, in: Russel J. Dalton and Manfred Küchler (Hg.), Challenging the Political Order. New Social and Political Movements in Western Democracies, Oxford 1990.
14 Jean L. Cohen, Strategy or Identity: New Theoretical Paradigms and Contemporary Social Movements, in: „Social Research“, 4/1985, S. 663-716.
15 Dieter Rucht, Gesellschaft als Projekt – Projekte in der Gesellschaft. Zur Rolle sozialer Bewegungen, in: Ansgar Klein, Hans-Josef Legrand und Thomas Leif (Hg.), Neue soziale Bewegungen. Impulse, Bilanzen und Perspektiven, Wiesbaden 1999, S. 15-27.
16 Wilhelm E. Mühlmann, Chiliasmus, Nativismus, Nationalismus (Das soziologische Fazit), in: Soziologie und Gesellschaft. Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages vom 20.-24.5.1959 in Berlin, Stuttgart 1959, S. 228-242.

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