Alice Munro ist tot: Literarische Weltmeisterin der Kurzstrecke

Niemand außer Katherine Mansfield gilt so sehr als Meisterin der short story als heimlicher Königsdisziplin der englischsprachigen Literatur wie Alice Munro. Und Mansfield, die aus der Peripherie des englischen Sprachraums stammte, aus Neuseeland, ist seit mehr als hundert Jahren tot. Ihre Nachfolgerin auf dem Thron kam auch von den Rändern des Commonwealth, aus Kanada, und auch wenn sie im Osten des Landes, in der Provinz Ontario geboren war, kam ihre literarische Karriere erst richtig in Gang, nachdem sie mit ihrer Familie 1963 für anderthalb Jahrzehnte an die Westküste gezogen war, nach Vancouver, wo sie eine Buchhandlung eröffnete. Von dort aus belieferte die 1931 geborene Munro das kanadische Radio und die einheimischen Verlage mit Kurzgeschichten, bis in den Siebzigerjahren auch die USA auf diese ebenso präzise wie elegante literarische Stimme aufmerksam wurde. Fortan wurde der “New Yorker“ ihr Forum - jene Zeitschrift, die für gleich zwei Kunstformen das publizistische Mekka darstellt: den Cartoon und eben die short story. Die Redaktion war derart begeistert von der klassischen Prägnanz von Munros Geschichten, dass sie sich von ihr das Recht auf erste Einsichtnahme in jede neugeschriebene Erzählung einräumen ließ - eine lukrative Regelung, denn die Zeitschrift bezahlte so untypischerweise direkt bei Ablieferung, egal, ob dann gedruckt wurde oder nicht. Das meiste aber wurde gedruckt. Mit 150 Geschichten zum Ruhm So viel war es gar nicht, wenn man knapp mehr als ein halbes Jahrhundert aktive Schaffenszeit berücksichtigt: etwas mehr als 150 Kurzgeschichten, zusammengefasst in vierzehn Sammelbänden. Und seit dem ersten, „Dance of the Happy Shades“ aus dem Jahr 1968, galt jeder als literarisches Ereignis. Ins Deutsche übersetzt wurde als erstes Buch „Who Do You Think Yor Are“, im Original 1978 erschienen und 1981 schließlich bei Klett-Cotta erschienen. In den drei Jahrzehnten danach, bis Munro 2013, ein Jahr nach dem Erscheinen von „Dear Life“, verkündete, sich vom Schreiben zurückzuziehen, kam dann alles nach, was es zuvor und danach gegeben hatte, zuletzt bei den Verlagen S. Fischer und Dörlemann, die sich in jüngeren Titel (Fischer) und die zuvor unübersetzten älteren (Dörlemann) teilten. So war, als Munro 2013, pikanterweise im Jahr ihrer Rückzugserklärung, den Literaturnobelpreis erhielt (den ersten für ihr Heimatland überhaupt), hierzulande gerade alles verfügbar. Und so konnte man mit dem frischen Ruhm der wichtigsten Auszeichnung ihres Faches eine Schriftstellerin kennenlernen, die deshalb wie aus der Zeit gefallen schien, weil sie sich jeglichen Modeströmungen der Postmoderne verweigert hatte. Munro erzählt schnörkellos, oft noch knapper, als es die Bezeichnung „Kurzgeschichte“ ohnehin nahelegt, ganz in der Tradition von Mansfield oder auch Hemingway, aber ohne jedes Kraftmeierisch-Autobiographische des Letzteren oder das Persönlich-Intime der Ersteren. Literarischer Feminismus des Raffinements Munro erlebte ihre Geschichten nicht, sie konstruierte sie, aber das hatte nichts Künstliches; es war reine Sprachkunst. Was ihre Geschichten indes doch persönlich machte, war der konsequente Beobachterinnenblick auf Frauenfiguren, der ihr Werk zum Höhepunkt einer feministischen Literatur macht, die sich nicht durch Engagement oder Sentimentalität, sondern durch Raffinement auszeichnet. Auch in der Themenwahl: Die Ränder der Gesellschaft waren ihre Jagdreviere für Figuren. Die Zurücknahme des eigenen Erlebens zugunsten des Beobachtens anderer verlieh ihrer Prosa jene unprätentiöse Bescheidenheit, die an Munros Schreiben oft hervorgehoben worden ist. Ihr letztes Lebensjahrzehnt war das einer lebenden Legende, die sich nicht durch den Nobelpreis und auch sonst keine Offerte verlocken ließ, ihrem Entschluss zum Verstummen untreu zu werden. Sie erklärte sich auch nicht mehr. Das mehrte ihre Reputation noch, denn es passte zu dem offenen Ende, das Munro zu einem Markenzeichen ihrer short stories gemacht hatte: kein Aplomb, keine Pointe - das Publikum ist gefordert, die Geschehnisse zu Ende zu denken. Niemand hat in dieser Hinsicht so viel von Munro gelernt wie ausgerechnet T. C. Boyle, der ansonsten in seiner sozialspektakulären Themenwahl das genaue Gegenteil zu ihr zu sein scheint. Die Literaturwelt verliert nun die Größte der kleinen Form. Am gestrigen Montag ist Alice Munro in Clinton, Ontario, gestorben