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Die Epilepsie brachte Heinrich Hoffmann an seine Grenzen
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Die Epilepsie brachte Heinrich Hoffmann an seine Grenzen

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Im Frankfurter Westend entstand ein Neubau der „Klinik für Irre und Epileptische“ als schlossähnliches Ensemble. Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin
Im Frankfurter Westend entstand ein Neubau der „Klinik für Irre und Epileptische“ als schlossähnliches Ensemble. © Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin

Vor 200 Jahren wurde in Frankfurt die erste Anstalt zur Therapie der Erkrankung gegründet. Neben dem Erfinder des „Struwwelpeter“ wirkte auch Alois Alzheimer dort.

Die Menschen im Mittelalter wähnten die Kranken besessen von übernatürlichen – vorzugsweise bösen – Mächten. Wenn jemand unkontrolliert am ganzen Körper zuckte, vielleicht sogar noch die Augen verdrehte und Schaum vor dem Mund hatte, musste ein Dämon oder gar der Teufel ihn dazu gezwungen haben – und diesen galt es auszutreiben. So brannte man den armen Menschen mit Glüheisen Löcher in die Schädeldecke, um dem Bösen einen Fluchtweg aus dem Körper zu schaffen; grauenhaft. Dass Epilepsie eine Krankheit ist, die durch eine gestörte Kommunikation von Nervenzellen im Gehirn verursacht wird, wusste man damals noch längst nicht. „Bei einem Anfall ist das Wechselspiel zwischen erregenden und bremsenden Reizen aus dem Gleichgewicht“, erklärt Felix Rosenow, Leiter des Epilepsiezentrums am Universitätsklinikum Frankfurt.

In der Antike war die Wissenschaft schon weiter gewesen. Bereits um 400 vor Christus vermutete der griechische Arzt Hippokrates den Ursprung der Epilepsie im Gehirn. Im Europa der voraufklärerischen Zeit setzte sich erst im Laufe des 17. Jahrhunderts allmählich die Auffassung der Epilepsie als medizinisches Problem durch, gleichwohl hielt sich bis weit ins 18. Jahrhundert hinein nicht nur vereinzelt der Glaube, dass ihr mit Magie beizukommen sei.

In Frankfurt behandelte man Menschen mit Epilepsie ab Beginn des 17. Jahrhunderts im 1606 erstmals schriftlich erwähnten „Tollhaus“. Es war in der Tollhausgasse – der heutigen Börsenstraße – eigens gebaut worden, um dort „Narren“ oder „Blödsinnige“, wie man Patienten mit neurologischen und psychischen Erkrankungen damals nannte, unterzubringen. Der Nutzen der Therapie dürfte sicher überschaubar gewesen sein. Gleichwohl war Frankfurt damit eine der ersten Städte in Deutschland, wo man versuchte, diese Krankheit medizinisch zu behandeln – und wo sich später, lange bevor es Standard an deutschen Krankenhäusern wurde, eine spezialisierte Epilepsieversorgung etablierte. So ließen die Frankfurter bereits vor 200 Jahren die erste „Anstalt für Epileptische“ errichten, wo die Patienten auch stationär gepflegt wurden. Bei der 1819 eröffneten Klinik handelte es sich um einen Anbau des Kastenhospitals, das zur Allgemeinen Almosenkaste gehörte, einer Stiftung, der seit 1531 die gesamte Wohlfahrtspflege oblag. 1834 wurde die „Anstalt für Epileptische“ mit dem Kastenhospital zur „Anstalt für Irre und Epileptische in Frankfurt am Main“ zusammengelegt. Erster Leiter war von 1819 bis 1850 Conrad Varrentrapp, Vorsitzender der Dr. Senckenbergischen Stiftung, vormaliger Stadtphysikus und Professor für Gerichtsmedizin.

Bei Epilepsie ist die Kommunikation zwischen den Nervenzellen gestört. Getty
Bei Epilepsie ist die Kommunikation zwischen den Nervenzellen gestört. © Getty

Der Neurologe Günter Krämer vom Neurozentrum Bellevue in Zürich hat sich intensiv mit der Geschichte der Epilepsietherapie und insbesondere auch der Frankfurter Einrichtungen beschäftigt. Bis in die Gegenwart ist Frankfurt ein wichtiger Standort für die Forschung und Behandlung von Epilepsie, heute am interdisziplinären Zentrum für Neurowissenschaften und am von Felix Rosenow geleiteten Epilepsiezentrum Frankfurt Rhein-Main des Universitätsklinikums in Frankfurt. Berühmte Frankfurter Epilepsieärzte waren Heinrich Hoffmann – den meisten dürfte er vor allem durch sein Buch „Der Struwwelpeter“ bekannt sein – und Alois Alzheimer.

Das Verständnis der Erkrankung hat sich seit Gründung der ersten Frankfurter „Anstalt für Epileptische“ grundlegend verändert. Ende des 18. Jahrhunderts noch hatten viele Mediziner den Ursprung im Magen vermutet, berichtet Günter Krämer. Das Wissen, dass die Epilepsie vom Gehirn ausgeht, setzte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durch. Ein Pionier auf dem Gebiet der Erforschung der Erkrankung war Joseph Wenzel, der eigens zu diesem Zweck 1802 in Mainz eine Forschungsgesellschaft gegründet hatte. Da ihn die Behandlungsergebnisse der damals propagierten Verfahren – dazu zählten unter anderem Kölnisch Wasser, Zinkblumen und Baldriantinktur – frustrierten, erhoffte er sich Erkenntnisgewinn von Obduktionen.

Günter Krämer hat recherchiert, dass Wenzel dafür die Befunde von 20 verstorbenen Epilepsiepatienten mit denen von Verstorbenen verglich, die nicht unter der Erkrankung gelitten hatten. Diese „Kontrollgruppe“, wie man es im heutigen Medizinjargon nennen würde, bestand aus den Leichen des Räuberhauptmannes Schinderhannes und 19 seiner Gefolgsleute, die am 21. November 1803 hingerichtet worden waren. Beim Studieren der Gehirne stellte Wenzel bei seinen ehemaligen Patienten eine Schwellung und „gelbes Material“ zwischen dem Vorder- und Hinterlappen der Hypophyse (Hirnanhangdrüse) fest.

Die Behandlung der Epilepsie gestaltete sich bis Mitte des 20.Jahrhunderts schwer. Heinrich Hoffmann, der die Leitung der Frankfurter Anstalt 1851 übernommen hatte, klagte 1859 selbstkritisch: „In Bezug auf meine therapeutischen Resultate kann ich nun freilich bei der Epilepsie wenig Rühmliches, selbst nur wenig Interessantes mitteilen.“ So berichtet der Arzt über negative Erfahrungen unter anderem mit salpetersaurem Silber, Zinkoxid und Kupfersalmiak. Hoffmanns Verdienst als Mediziner wird heute vor allem darin gesehen, dass er einer der ersten Ärzte war, der psychisch kranke Menschen als Kranke behandelte, denen medizinisch geholfen werden konnte, und der versuchte, das öffentliche Bewusstsein in diese Richtung zu verändern. Für Frankfurt setzte Hoffmann einen Anstaltsneubau durch, nachdem die Zustände in der alten Klinik in der Innenstadt in seinen Augen unhaltbar geworden waren. Nach den Plänen des Architekten Oskar Pichler, dessen Frau an einem Nervenleiden erkrankt war, entstand zwischen 1859 bis 1864 auf dem Gelände des Affensteiner Feldes im damals noch weitgehend unbebauten Frankfurter Westend ein schlossähnliches Ensemble im Grünen; heute befindet sich auf dem Gelände ein Teil der Goethe-Universität.

Hoffmann haderte mit den unbefriedigenden Möglichkeiten der Behandlung von Epilepsie. Und doch kam während seiner Zeit als Ärztlicher Leiter der „Klinik für Irre und Epileptische“ mit der Verabreichung von Bromsalz eine Therapie auf, die sogar heute noch eingesetzt wird, wie Felix Rosenow sagt – wenn auch nur bei bestimmten Formen der Epilepsie, etwa bei schweren Anfällen im frühen Kindesalter.

Auf Heinrich Hoffmann folgte von 1888 bis 1919 Emil Sioli mit seinem Oberarzt Alois Alzheimer, der an der Frankfurter „Anstalt für Irre und Epileptische“ auch Auguste Deter, seine erste Patientin mit der nach ihm benannten Alzheimer-Demenz behandelt und beschrieben hat. Weniger bekannt sind Alzheimers Schriften zur Epilepsie. So hat er sich unter anderem mit der Amnesie, die nach Epilepsie-Anfällen auftreten kann, und mit der Spätepilepsie beschäftigt. „Gerade heute ist die Mehrzahl der Epilepsie-Patienten erst nach dem 65. Lebensjahr erkrankt“, erläutert Felix Rosenow.

Mit Siegmund Auerbach kam 1912 eine völlig neue Therapie an die Anstalt: Als Erster operierte er Epilepsie-Patienten in Frankfurt am Gehirn. Den Weg dafür hatte der englische Neurologe John Hughlings Jackson bereitet, der als Begründer der modernen Epileptologie gilt. Als erster Patient soll 1876 ein Schotte einen von ihm geleiteten epilepsiechirurgischen Eingriff überlebt haben. Auch heute noch wird ein kleiner Teil der Patienten operiert, erklärt Felix Rosenow. Voraussetzung sei, dass sie an einer fokalen Epilepsie leiden, die von einer umschriebenen Region einer Großhirnhälfte ausgeht – und dass sie auf Medikamente nicht gut ansprechen. Solche fokalen Epilepsien können zum Beispiel bei einem Hirntumor, nach einem Schlaganfall, einem Schädel-Hirn-Trauma, einer Hirnhautentzündung oder auch bei einer Multiplen Sklerose auftreten, erläutert der Mediziner.

Heinrich Hoffmann, Nervenarzt und Verfasser des „Struwwelpeter“. dpa
Heinrich Hoffmann, Nervenarzt und Verfasser des „Struwwelpeter“. © dpa

Die Auswahl der Medikamente zur Behandlung von Epilepsie war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch sehr begrenzt. Neben Brom wurde jetzt auch Phenobarbital eingesetzt, ein Schlafmittel, das abhängig machen kann, wie Rosenow sagt. In „ressourcenarmen Ländern“ werde Epilepsie häufig immer noch mit diesem Medikament behandelt.

Von 1914 bis 1930 wirkte Kurt Goldstein an der Frankfurter Klinik. Er leistete wichtige Beiträge zum Verständnis der Hirnfunktion, musste wegen seines jüdischen Glaubens aber emigrieren. Von 1920 bis 1950 leitete der Psychiater und Neurologe Karl Kleist die „Städtische und Universitätsklinik für Gemüts- und Nervenkranke in Frankfurt am Main“, wie sie mittlerweile hieß. Sein Hauptwerk „Gehirnpathologie“ basierte vornehmlich auf Kleists Erfahrungen als Arzt im Ersten Weltkrieg. Bei der Epilepsie arbeitete er die episodischen Dämmerzustände als eigenständige Krankheitssymptome heraus. Doch bei allen wissenschaftlichen Verdiensten gibt es bei ihm auch ein dunkles Kapitel: Kleist war Mitglied der NSDAP und nach 1933 als Gutachter für „Erbgesundheitsgerichte“ tätig. Nach seiner Emeritierung 1950 arbeitete Kleist bis zu seinem Tod 1960 in der von ihm gegründeten „Forschungsstelle für Gehirnpathologie und Psychopathologie“ in Frankfurt.

Zwischen den 1930er und den 1970er Jahren stieg die Zahl der Epilepsie-Medikamente rasant an, auf einige davon stützt sich die Behandlung bis heute. Insgesamt steht für die Therapie mittlerweile eine Vielzahl von pharmazeutischen Mitteln zur Verfügung; die bislang letzten kamen nach der Jahrtausendwende hinzu. Wirkt ein Präparat nicht, so können bei einem zweiten und dritten Therapieversuch andere Medikamente ausprobiert werden, erläutert Felix Rosenow. Rund die Hälfte der Patienten sei mit der Ersttherapie „anfallsfrei“. Er sagt aber auch, dass bei etwa 25 bis 30 Prozent die medikamentöse Therapie keine ausreichende Wirkung zeige. Nicht für alle kommt eine Operation in Frage; bei diesen Patienten kommt auch die moderne Medizin an ihre Grenzen.

Felix Rosenow hat die Leitung des Epilepsiezentrums am Universitätsklinikum Frankfurt 2015 übernommen. Seit dem Jahr 2000 befindet sich die Ambulanz für Epilepsiepatienten nicht mehr in der Klinik für Psychiatrie; damit wurde auch die jahrhundertelange, zumindest örtliche Verknüpfung von Epilepsie und psychischen Erkrankungen aufgehoben. Gerade in den vergangenen Jahrzehnten hat die Forschung große Fortschritte gemacht – insbesondere, was das Erkennen von Ursachen und genetischen Risikofaktoren der Epilepsie angeht. Eine Konstante über die Jahrhunderte hinweg ist stets die Stigmatisierung von Patienten mit epileptischen Anfällen gewesen. „Das ist nicht völlig vorbei“, sagt Felix Rosenow. „Aber es wird besser.“

Zur Sache: Epilepsie

Die Epilepsie ist eine Krankheit, die auf Funktionsstörungen im Gehirn beruht und sich in Anfällen äußert. Einen einmaligen Anfall erleben etwa zwei bis vier Prozent der Menschen. Erst wenn sich dieses Ereignis wiederholt, spricht man von Epilepsie. Darunter leiden etwa 0,5 bis ein Prozent der Bevölkerung. 

Die Ursache kann genetisch sein. So kann ein einzelnes Gen für eine Epilepsie verantwortlich sein. Bei manchen Patienten liegt lediglich eine erbliche Disposition vor, bei ihnen verteilt sich das Risiko auf mehrere Gene. Eine Epilepsie kann aber auch als Folge einer Schädigung des Gehirns auftreten, etwa durch einen Tumor, ein Trauma, einen Schlaganfall oder durch Ablagerungen bei einer Demenz. 

Anfälle prägen das klinische Erscheinungsbild einer Epilepsie. Sie werden hervorgerufen durch synchrone Entladungen von vielen Nervenzellen an der Hirnoberfläche. Das hat zur Folge, dass die Funktionen, für die diese Nervenzellen zuständig sind (Motorik, Sprache), während eines Anfalls gestört sind. Oft ist auch das Bewusstsein betroffen, die Patienten erinnern sich dann hinterher an nichts mehr. 

Auslöser für einen Anfall können Alkohol und andere Gifte, Schlafentzug, aber seltener auch Flackerlicht sein. Ein Anfall kann sich manchmal durch eine kurze Aura von wenigen Sekunden bis Minuten ankündigen. Es gibt verschiedene Arten von Anfällen: den großen Anfall mit Krämpfen und Zuckungen im ganzen Körper, die Absence mit ausgeschaltetem Bewusstsein oder einfach nur auffälliges Verhalten. 

Unterschieden wird auch zwischen fokalen Anfällen, die von einem Herd – einer bestimmten geschädigten Stelle – im Gehirn ausgehen oder einen generalisierten Anfall ohne anatomisch begrenzte Ursprungslokalisation. 

Lebensgefahr kann bestehen, wenn es zum Beispiel zu einem großen Anfall im Schlaf oder beim Schwimmen kommt. Die Patienten können dann ersticken beziehungsweise ertrinken. Mediziner bezeichnen dieses gefürchtete Ereignis als „SUDEP“ (Sudden unexpected Death in epilepsy). pam

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