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'Make Russia Pay': Russische Milliarden an die Ukraine?

Überweisung von russischem Zentralbankvermögen an die Ukraine: "Make Russia Pay" ist recht­lich mög­lich

von Dr. Patrick Heinemann

31.01.2024

Die EU hat rund 210 Mrd. Euro der russischen Zentralbank eingefroren. Aktuell plant Brüssel nur, die Erträge dieses Vermögens an die Ukraine auszuzahlen. Doch warum nicht gleich das ganze Geld? Patrick Heinemann hält das für rechtlich zulässig.

Russland hat sich seine Rohstofflieferungen in europäische Länder nicht in Rubel, sondern in westlichen Devisen bezahlen lassen. Daher liegen heute rund 210 Mrd. Euro der russischen Zentralbank in der EU, und hiervon wiederum zwischen 180 und 200 Mrd. Euro bei einer Clearinggesellschaft in Belgien. Russland kommt an das Geld nicht ran: Es wurde nach Beginn der Vollinvasion in der Ukraine per EU-Sanktion eingefroren. Unter dem Slogan „Make Russia Pay“ fordern aktuell nicht wenige Stimmen, dieses Geld der Ukraine zur Verfügung zu stellen.

Nach den völkerrechtlichen Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit schuldet Russland der Ukraine jedenfalls Reparationen in noch viel größerer Höhe: Bereits im März 2023 bezifferte die Weltbank die Schäden, die Russland der Ukraine durch seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zufügt, auf etwa 411 Mrd. Euro. Die Ukraine könnte eine Finanzspritze gut gebrauchen: Ihr Hauptgeldgeber sind die USA, doch der US-Kongress steckt in innenpolitischen Querelen über die Immigrationspolitik fest, so dass das nächste Hilfspaket auf sich warten lässt. Ob es bis zu den Präsidentschaftswahlen im November überhaupt zu einer Einigung kommt und wie Trump sich tatsächlich zur Ukraine stellen würde, steht in den Sternen. Das russische Staatsgeld nach Kyiv zu überweisen würde also nicht nur den Kreml schwächen, sondern auch der Ukraine finanzielle Beinfreiheit verschaffen. So verwundert es nicht, dass sich insbesondere die Biden-Administration in letzter Zeit wieder verstärkt für diesen Ansatz interessiert und ihn insbesondere im Rahmen der G7 verfolgen will.

Bundesregierung ziert sich und hat Angst vor Russlands Reaktion

Die Bundesregierung scheint dieser Idee jedoch zumindest bislang nicht nähertreten zu wollen. Hinter vorgehaltener Hand werden volkswirtschaftliche, aber auch rechtliche Argumente vorgeschützt. Eine Befürchtung lautet, andere Staaten könnten aus Angst vor weiteren Konfiskationen ihr Kapital aus dem Euro-Raum abziehen. Das russische Zentralbankvermögen ist allerdings bereits seit rund zwei Jahren eingefroren, ohne dass irgendein Land seine Reserven aus Europa abgezogen hätte. Täten sich die EU und die G7-Staaten bei der Konfiskation des russischen Zentralbankvermögens zusammen, bliebe Staaten wie China, Saudi-Arabien oder Indien ohnehin keine vernünftige Alternative, ihr Geld andernorts anzulegen, worauf der frühere Weltbankchef Robert Zoellick kürzlich hinwies. Außerdem wird dieser Schritt nicht als Sanktion gegen beliebiges völkerrechtswidriges Verhalten, sondern als Reparation für schwerstes Unrecht erwogen. Ein anderes wirtschaftliches Argument sind Befürchtungen, Russland könnte zum Gegenschlag ausholen und seinerseits westliches Unternehmensvermögen konfiszieren. Man muss sich allerdings die Frage stellen, ob die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ernsthaft auf Unternehmen Rücksicht nehmen soll, die rund zwei Jahre nach Beginn der Vollinvasion noch in Russland investiert sind. Hier sollten das Risiko, in einer Diktatur wie Russland zu investieren, und die entsprechende Haftung zusammenfallen.

Souveräne Staaten brauchen grundsätzlich keine Ermächtigung

Wenig überzeugend wäre es, die völkerrechtlichen Einwände gegen einen solchen Schritt als Legalismus abzutun oder mit Blick auf Russlands Verbrechen gegen die Ukraine die Moral über das Recht zu stellen. Darum geht es hier nicht: Denn auch die rechtlichen Argumente, die gegen eine Konfiskation des russischen Zentralbankvermögens vorgebracht werden, greifen nicht durch. Insbesondere gibt es keine völkerrechtliche Vorschrift, die einen solchen Schritt verbietet. Das ist wichtig, da im Ausgangspunkt das Lotus-Prinzip gilt, wonach die Handlungsmöglichkeiten souveräner Staaten unter dem Völkerrecht nur durch dessen positive Verbote eingeschränkt werden. Die Länder der G7 bräuchten für einen solchen Schritt also keine ausdrückliche völkerrechtliche Ermächtigung, sondern es reicht, dass es kein Verbot gibt, das Geld der Ukraine zu überweisen.

Russisches Staatsvermögen völkerrechtlich nicht sakrosankt

Immer wieder heißt es allerdings, fremdes Staatsvermögen sei völkerrechtlich besonders geschützt und im Grunde unantastbar. Dem stehen schon pragmatische Erwägungen entgegen: Wäre das so, würde sich schnell die Frage stellen, warum die EU seit rund zwei Jahren das russische Zentralbankvermögen in Reaktion auf die Vollinvasion in der Ukraine eingefroren hat und nun sogar immerhin erwägt, die Erträge dieses Vermögens abzutrennen und womöglich der Ukraine zu überweisen. Das ist mit der Vorstellung, das russische Zentralbankvermögen sei sakrosankt, schwer in Einklang zu bringen.

Vor allem aber ist diese Vorstellung unzutreffend. Das gilt insbesondere für den immer wieder genannten Grundsatz der Staatenimmunität, auf den sich etwa auch EuGH-Generalanwältin Juliane Kokott in einem Beitrag für LTO bezog. Völkerrechtlich anerkannt ist, dass es für Staaten einen Immunitätsschutz vor den Gerichten anderer Staaten gibt. Das Prinzip der Staatenimmunität begrenzt die rechtsprechende Gewalt eines Staates im Verhältnis zu anderen Staaten. Die Souveränität der anderen Gewalten, also der Exekutive und die Legislative, ist nach Außen aber nicht begrenzt. Wenn also ein souveräner Staat wie Deutschland beschließt, durch ein Gesetz gegenüber einem anderen souveränen Staat wie Russland zu handeln und dessen in Deutschland belegenes Zentralbankvermögen zu konfiszieren, stellt sich die Frage der Staatenimmunität gar nicht. Der Staat Russland genießt keine allgemeine Immunität gegenüber dem Staat Deutschland, sondern nur vor deutschen Gerichten.

Kein Investitionsschutz für die Russische Zentralbank

Auch völkervertragsrechtlicher Investitionsschutz steht einer Konfiskation des Vermögens der russischen Zentralbank nicht entgegen. Zwar gibt es ein Investitionsschutzabkommen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik aus dem Jahr 1989, das heute für Russland fort gilt. Dieses Abkommen schützt aber nicht die russische Zentralbank als staatlichen Akteur der Russischen Föderation. 

Geschützt werden nach dem Text des Abkommens „Investoren“. Darunter wird man nur privatwirtschaftlich organisierte Investoren verstehen können. Bilaterale Investitionsschutzabkommen sollen wechselseitige private Investoren aus den beiden Vertragsstaaten schützen, nicht aber die beiden Vertragsstaaten selbst.

Nichts anderes ist für die allgemeinen völkerrechtlichen Regelungen des Investitionsschutzes anzunehmen, die „minimum standards of treatment“. Hinzu kommt, dass völkergewohnheitsrechtlich zwar anerkannt ist, dass es solche „minimum standards“ gibt. Keine verbindliche Staatenpraxis gibt es aber zu der Frage, was der genaue Inhalt der „minimum standards“ ist.

Ebenso wenig ist das russische Zentralbankvermögen durch das Prinzip der inviolability geschützt. Damit ist die Unverletzlichkeit des Staateneigentums gemeint, das einer diplomatischen Mission dient. Darum geht es hier nicht.

Angemessene Gegenmaßnahme

Richtigerweise ist die Einziehung des russischen Zentralbankvermögens völkerrechtlich als eine sogenannte Gegenmaßnahme einzuordnen. Sanktionen oder „restriktive Maßnahmen“, wie es im Jargon der EU heißt, sind nur eine Form von Gegenmaßnahmen. Daher kommt es auch nicht darauf an, dass die Konfiskation des russischen Zentralbankvermögens nicht mehr vom Begriff der (grundsätzlich reversiblen) Wirtschaftssanktionen gedeckt wird. Den Stand der Entwicklung des Völkergewohnheitsrechts auf dem Gebiet der Gegenmaßnahmen geben dabei nach allgemeiner Auffassung die Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts (ARSIWA) der International Law Commission (ILC) wieder. 

Danach müssen Gegenmaßnahmen insbesondere verhältnismäßig sein. Das ist bei der Konfiskation des russischen Zentralbankvermögens der Fall: Russland führt gegen die Ukraine einen Angriffskrieg mit zumindest genozidalen Elementen, der gegen eine Vielzahl elementarer Vorschriften des Völkerrechts verstößt. Zudem übersteigt die Summe des zu konfiszierenden Zentralbankvermögens noch lange nicht die Höhe der Schäden, die Russland der Ukraine durch den Angriffskrieg zugefügt hat. Ebenso wenig konnten mildere Maßnahmen wie das Einfrieren des Zentralbankvermögens die Russische Föderation dazu bewegen, ihren Angriffskrieg einzustellen oder gar die hieraus entstandenen Schäden zu kompensieren. 

Auch ist zu berücksichtigen, dass es hier ausschließlich um die Einziehung russischen Staatsvermögens geht, wohingegen die Russische Föderation schon vor geraumer Zeit dazu übergangen ist, auch privates westliches Vermögen zu konfiszieren, wie etwa im Falle von Danone und Carlsberg. Schließlich dürfen Gegenmaßnahmen in der Tat nur das Ziel haben, den betroffenen Staat zu völkerrechtmäßigem Handeln anzuhalten. Es ist aber durchaus denkbar, dass die Aussicht, das eingefrorene Zentralbankvermögen an die Ukraine zu verlieren, Druck auf Russland ausübt, seinen Krieg nicht weiter fortzusetzen. Darüber hinaus würde eine Konfiszierung insofern das Ziel der Einhaltung des Völkerrechts verfolgen, als damit Kriegsschulden Russlands bei der Ukraine zum Teil beglichen werden könnten.

Gegenansprüche Russlands nicht begründet

Daher sind auch begründete Gegenforderungen Russlands nicht zu befürchten: Dem russischen Fiskus kann im Falle einer Überweisung seines Zentralbankvermögens an die Ukraine schon kein irreparabler Schaden entstehen. Denn die Russische Föderation ist völkerrechtlich nach den Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit zu Reparationszahlungen an die Ukraine in einer Höhe verpflichtet, die weit über dem Wert der einzuziehenden Assets ihrer Zentralbank liegt. Einziehung und Zuwendung an die Ukraine wirken sich somit nicht schädigend, sondern schuldbefreiend für die Russische Föderation aus. 

Weitere Einwände betreffen die Frage, inwieweit in diesem Zusammenhang andere Staaten als die Ukraine Maßnahmen gegen Russland ergreifen dürfen. Nach den ARSIWA der ILC sind die Staaten zur Zusammenarbeit aufgerufen, um schwere Verletzungen des Völkerrechts zu beenden, wie sie Russland gegenüber der Ukraine begeht. Zwar gehen die ARSIWA zunächst davon aus, dass diejenigen Staaten zu Gegenmaßnahmen berufen sind, die durch das völkerrechtswidrige Handeln selbst benachteiligt sind (injured states). Allerdings erlaubt es Art. 48 Nr. 1 lit. b ARSIWA darüber hinaus auch anderen als den benachteiligten Staaten, die Verantwortlichkeit für völkerrechtswidriges Handeln geltend zu machen, wenn die verletzte Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft als Ganzes geschuldet ist. Davon wird bei derart gravierenden Verletzungen wie der Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots allgemein ausgegangen. Drittstaaten können insbesondere die Wiedergutmachung an den benachteiligten Staat verlangen. Schließlich hat die ILC in ihrer eigenen Kommentierung klargestellt, dass die Regelungen über Gegenmaßnahmen nicht abschließend, sondern für eine Fortentwicklung offen sind.

Verfassungsrechtlich unproblematisch

Auch deutsches Recht steht einer Einziehung des russischen Staatsvermögens nicht entgegen. Viel spricht dafür, dass der Europäischen Union nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung die Kompetenz fehlt, auf diesem Gebiet selbst tätig zu werden. Die Vorschriften der Verträge über restriktive Maßnahmen (Art. 215 AEUV) sind erkennbar auf Wirtschaftssanktionen gemünzt, die Konfiszierung und Weiterleitung russischen Staatsvermögens an die Ukraine ginge hierüber wohl hinaus. In der Folge müssten Deutschland und die anderen Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene tätig werden, wenngleich es naheliegt, einen solchen Schritt international im Rahmen von EU und G7 zu koordinieren. 

Unberechtigt sind auch die Sorgen, das russische Zentralbankvermögen könnte der Ukraine womöglich erst nach langwierigen Gerichtsprozessen überwiesen werden. Grundrechte nach dem Grundgesetz würde die Konfiskation russischen Staatsvermögens jedenfalls nicht berühren: Denn weder die Russische Föderation noch ihre Zentralbank sind grundrechtsfähig. Ihnen ist daher auch kein Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert. Da es sich bei der Konfiskation des in Deutschland belegenen Zentralbankvermögens um eine außenpolitisch wesentliche Entscheidung handelt, ist hierfür gleichwohl ein Parlamentsgesetz erforderlich. Dieses kann zumindest für den Schritt der Konfiskation als self executing law ausgestaltet werden, so dass hierfür keine weiteren administrativen Zwischenakte erforderlich würden, gegen die der russische Staat und seine Zentralbank deutsche Verwaltungsgerichte um Rechtsschutz anrufen könnten. Mit einem solchen rechtspolitischen Ansatz stünde Deutschland keineswegs allein dar: Der aktuelle US-Entwurf eines Konfiskationsgesetzes (Rebuilding Economic Prosperity and Opportunity for Ukrainians/REPO for Ukrainians) schließt einen judicial review sogar ausdrücklich aus. 

Keine durchgreifenden Bedenken gegen Konfiskation

Wenig gehaltvoll sind daher die Drohungen Russlands, die Überweisung des Zentralbankvermögens an die Ukraine durch jahrelange Rechtsstreite vereiteln oder zumindest verzögern zu wollen. Denn auch Verfassungsbeschwerden Russlands oder seiner Zentralbank gegen ein solches Konfiskationsgesetz wären mangels Grundrechtsfähigkeit bereits nicht zulässig. Die Grundrechte des Grundgesetzes sind nicht dafür da, fremde Staaten vor einer souveränen deutschen Außenpolitik zu schützen. Daher bestehen erst recht bestehen keine ernsthaften Aussichten, dass das Bundesverfassungsgericht eine gesetzliche Konfiskation im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig außer Vollzug setzen würde, zumal die Hürden für einen entsprechenden Antrag nach § 32 BVerfGG bei parlamentarischen Gesetzen bereits allgemein extrem hoch sind.

Im Ergebnis gibt es weder völker- noch verfassungsrechtlich durchgreifende Bedenken, das russische Zentralbankvermögen zu konfiszieren und der Ukraine zuzuwenden. Ein solcher Schritt wäre nicht nur legal, sondern auch bitter nötig, um die Durchhaltefähigkeit der Ukraine zu sichern. Das ist nicht nur in ukrainischem, sondern auch in deutschem Interesse: Sollte die Ukraine kollabieren, wären die Kosten für Europa in jeder Hinsicht katastrophal.

Zitiervorschlag

Überweisung von russischem Zentralbankvermögen an die Ukraine: . In: Legal Tribune Online, 31.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53767 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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