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«Italien betreibt eine Fusion von Populismus und Technokratie» | NZZ
Interview

«Italien betreibt eine Fusion von Populismus und Technokratie»

Die neue italienische Regierung wettert gern gegen Eliten – schickt aber ihrerseits Professoren in die Ministerien. Was treibt die selbsternannten «Retter des Volkes» um? Ein Gespräch mit dem Forscher Jan-Werner Müller über die neue Allianz von Populisten und Technokraten.

Manuel Müller
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Italien bleibt das Labor der Politik: Um die alten Lager aufzubrechen, scheinen Populisten und Technokraten hier zusammenzuspannen. Beppe Grillo hat sich bereits von den Ketten befreit, die das Volk seiner Ansicht nach fesseln. (Bild: Max Rossi / Reuters)

Italien bleibt das Labor der Politik: Um die alten Lager aufzubrechen, scheinen Populisten und Technokraten hier zusammenzuspannen. Beppe Grillo hat sich bereits von den Ketten befreit, die das Volk seiner Ansicht nach fesseln. (Bild: Max Rossi / Reuters)

Herr Müller, man wirft dem politischen Gegner gerne vor, er agiere populistisch. Gleichzeitig gibt man sich selbst volksnah, alles andere wäre im Jahr 2018 undenkbar. Herr Müller, sind wir alle Populisten?

Jan-Werner Müller. (Bild: KD Busch)

Jan-Werner Müller. (Bild: KD Busch)

Ich halte es für grundfalsch, zu meinen, alle Politik sei irgendwie populistisch. «Starke Männer» wie Erdogan, Orban oder Maduro pflegen eine ganz bestimmte Rhetorik, das lässt sich auch empirisch nachweisen. Populisten präsentieren sich als die einzigen wahren Volksvertreter. Die Elite bezeichnen sie als korrupt und nur an den eigenen Pfründen interessiert. Ihr stellen sie ein vermeintlich reines, homogenes, sozusagen unverdorbenes Volk entgegen.

Und auf dieses Volk erheben Populisten Alleinvertretungsanspruch?

Ich halte das tatsächlich für entscheidend. Populisten stellen sich als einzig legitime Stimme des Volkes dar. Ihren politischen Gegnern werfen sie nicht etwa vor, die falschen programmatischen Punkte oder auch Werte hochzuhalten, sie sprechen ihnen viel fundamentaler die politische Legitimität als solche ab.

Mit Verlaub: Scharfe rhetorische Mittel sind in Demokratien keine Neuheit.

In der Tat, Demokratien sind keine Konsensveranstaltungen, sondern helfen uns, Konflikte friedlich zu bearbeiten. Parteien mit verschiedenen Programmen treffen aufeinander und bieten den Bürgern Wahlmöglichkeiten. Natürlich schonen sich die politischen Gegner dabei nicht immer, sondern akzentuieren Unterschiede – und das ist auch gut so. Das Problem beginnt, wenn man den anderen die Legitimität abspricht. Oder wenn man behauptet, Bürger, welche die Populisten nicht unterstützten, gehörten gar nicht zu dem, was Populisten häufig als «das wahre Volk» bezeichnen. Aus politischen Gegnern werden so Volksverräter und aus Bürgern Menschen, die von Populisten als «unamerikanisch» oder als «unpolnisch» beschimpft werden.


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Dann ist Populismus also definitiv keine Frage des Stils?

Nein. Denn es ist eines, einem Verlierer im demokratischen Spiel zu sagen: Wir Sieger sind anderer Ansicht, aber Sie sind natürlich immer noch dabei und können es nächstes Mal nochmals versuchen. Ein anderes ist es, zu sagen: Sie gehören nicht dazu und sind raus aus dem Spiel. Für einen Populisten ist klar: Die Elite macht Kartellpolitik. Es macht darum aus dieser Sicht keinen Unterschied, welche Partei der Elite man wählt. Und: Die Mehrheit schweigt oder – hier wird es dann leicht verschwörungstheoretisch – ist von der Elite zum Schweigen gebracht worden. Aber wir Populisten, so heisst es dann, geben ihr endlich eine Stimme.

Tatsächlich scheinen Populisten da aufzutauchen, wo sich die grossen Parteien in einer schicksalshaften Frage nur durch Nuancen unterscheiden, aber letztlich auf einer Linie liegen. Denken wir nur an die Schweizer Europapolitik in den Neunzigern oder die Flüchtlingskrise 2015 in Deutschland. Beides hat Parteien stark gemacht, die sich gegen den etablierten Konsens stellten.

Es gibt in der Tat eine politische Dynamik, die dazu führt, dass Parteien irgendwann mit dem berühmten Wort «alternativlos» auftreten – also eine quasitechnokratische Haltung vertreten, wonach es nur eine rationale Lösung gibt. Wer nicht zustimmt, «outet» sich demzufolge als irrational. Das öffnet die Tür für die Populisten, welche dann sagen können: «Demokratie ohne Wahlmöglichkeiten – das kann nicht sein.» Das macht die Populisten nicht zu authentischen Streitern für die Demokratie – denn sie wollen ja nicht nur Alternativen anbieten, sondern stellen immer auch den bereits beschriebenen Alleinvertretungsanspruch. Man kann sich in einer Demokratie für weniger Einwanderung starkmachen. Was man nicht kann: behaupten, als einziger den wahren Volkswillen zu kennen, abweichenden Meinungen die Legitimität absprechen und gegen Minderheiten hetzen.

Könnte man also sagen: Vertreter der «Alternativlosigkeit» und die «Retter des Volkes» spielen sich gegenseitig den Ball zu, ohne es zu wissen?

Dieser Teufelskreis liess sich jüngst immer wieder beobachten. Denn wenn Populisten erfolgreich sind, dann sagen Technokraten: Wir geben den Leuten die Chance, demokratisch zu bestimmen – und sie wählen Verrückte oder Demagogen! Also versuchen sie, den Bürgern Entscheidungsgewalt zu entziehen. Das wiederum hilft den Populisten. Und so dreht sich der Teufelskreis.

Das erinnert an Hillary Clintons Fauxpas im Präsidentschaftswahlkampf. Ihre Aussage, die Hälfte der Trump-Anhänger gehörten in den «basket of deplorables» – seien also bemitleidenswert –, war ein Eigentor. Wenn wir von einem Teufelskreis reden, könnte man dann sagen, dass Populisten und Technokraten die beiden Seiten derselben Medaille sind?

Beide scheinbar gegensätzliche Fraktionen sind letztlich Antipluralisten. Die Technokraten erklären, es gebe nur die eine rationale Lösung. Es brauche keine Debatte, auch keine parlamentarische Auseinandersetzung, weil es für vernünftige Menschen nichts zu diskutieren gebe. Die Populisten behaupten wiederum, es gebe nur den einen authentischen Volkswillen. Und sie seien die Einzigen, die ihn verstünden und verträten. Ergo: Abweichende Meinungen können nur daher kommen, dass sich Leute kaufen lassen oder eben gar nicht zum Volk gehören.

Wenn sich Technokraten und Populisten im Antipluralismus einig sind – können sie dann auch zusammenfinden?

In Italien läuft zurzeit tatsächlich ein präzedenzloses, für jeden politisch Interessierten hochspannendes Experiment. Die Fünf-Sterne-Bewegung scheint eine Fusion von Populismus und Technokratie zu betreiben. In der neuen Regierung haben Leute Einsitz genommen, die man – bei allem Respekt – als Technokraten bezeichnen muss. Sie treten mit demselben Anspruch an: Wir sind parteilos, wir kennen die richtige Lösung. Beppe Grillo sagte einst, wenn die Bewegung das Finanzministerium innehätte, würde man eine berufstätige Frau mit drei Kindern da hinbringen. Da brauche es keinen Professor für Volkswirtschaft.

Genau das haben die beiden Koalitionspartner jetzt aber umgesetzt: Ein Professor der Ökonomie ist Finanzminister!

Es ist skurril: Die zwei selbsternannten Vertreter des Volks, Luigi Di Maio und Matteo Salvini, haben beide die Hochschulausbildung abgebrochen. Ausgerechnet sie schicken jetzt die Professoren vor. Die Fünf-Sterne-Bewegung baut auf die Idee, es sei möglich, eine Demokratie ohne die traditionell vermittelnden Institutionen wie Parteien und professionelle Medien zu haben. Das ist nicht verboten – Demokratie dient auch dazu, Neues zu probieren. Nur scheint vieles von dem, was als direkte Demokratie jenseits von Parteien und Presse präsentiert wird, eher auf Massenplebiszite im Internet hinauszulaufen.

Richten wir den Blick nach Frankreich. Links- und Rechtspopulisten haben schlagartig an Unterstützung eingebüsst, als Emmanuel Macron die Bühne betrat. Ist der selbsternannte Retter der Mitte nicht selbst ein Populist?

Man hat Macron von ganz links schon vorgeworfen, er sei ein Populist der extremen Mitte. Dieser Vorwurf zielt an der Sache vorbei, denn Macron behauptet nicht, als Einziger das wahre französische Volk zu vertreten. Das Problem ist wennschon ein anderes: Macron klingt manchmal, als wolle er eine Neuauflage des «Dritten Wegs» jenseits von rechts und links, den einst Tony Blair und Gerhard Schröder lancierten.

Wollen Sie sagen, Macron vereine Technokratie und Populismus?

Er ist kein Populist, eher ein Technokrat. Macron spricht immer wieder von der vernünftigen Mitte – deswegen können auch ehemalige Sozialisten und Republikaner in seiner Bewegung «En marche» mitmachen. Es ist unwichtig, ob sie rechts oder links waren – sie müssen nur vernünftig sein und rationale Lösungen vertreten. Alles andere sind für Macron spinnerte Extreme – Le Pen und Mélenchon. Denen brauchen vernünftige Menschen nicht zuzuhören. Diese Position ist problematisch. Positionen sind mit Argumenten zu verteidigen, nie mit der Ansage: Die anderen argumentieren völlig irrational, oder sie gehören nicht dazu. Das ist eine schlechte Weise, demokratische Politik zu codieren.

Die antipluralistische Haltung ist auch hier das Problem?

Ich sehe nicht, wie wir Demokratien ohne Pluralismus haben können. Ich sage nicht: je mehr Diversität, desto besser. In Demokratien müssen wir aber nun einmal mit Leuten auf faire Weise zurande kommen, deren Wertvorstellungen und Lebensstil wir nicht teilen. Wir können da auf die Dauer keine Absolutheitsansprüche stellen: Nur wir sind oder sprechen für das Volk.

Ist der Populismus aus Ihrer Sicht ein vorübergehendes Phänomen – wird er mithin an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen oder nicht?

Man meint häufig, das Problem löse sich von selbst: Die populistischen Parteien seien alle Protestparteien, und logischerweise könne man ja, einmal im Amt, nicht gegen sich selbst protestieren. Oder man sagt, ihre Politikvorstellungen seien so horrend vereinfachend, dass sie schnell an der Realität scheitern würden. Ich halte das für naiv. Wir haben genug Regime, die eine Art – so pervers das klingen mag – populistische Regierungskunst entwickelt haben.

Das heisst, die Populisten lernen voneinander?

Sie übernehmen Methoden und Machttechniken. Die Gerichte werden politisiert wie etwa in Polen, die Medien werden von regimetreuen Oligarchen übernommen wie in Ungarn. Protest aus der Zivilgesellschaft wird als von ausländischen Mächten gesteuert diskreditiert. Als Bürger gegen Trumps Reiseeinschränkungen demonstrierten, war genau das seine Reaktion: Er schrieb, das seien gekaufte Aktivisten. Das ist aus Sicht der Populisten ja auch logisch: Das wahre Volk demonstriert schliesslich nicht gegen seine einzig authentischen Vertreter; es kann nicht sein, was nicht sein darf. Ich will nicht behaupten, diese Regime seien unverwundbar – aber man darf sie nicht mit liberalem Hochmut unterschätzen.

Jan-Werner Müller

Vor fast zehn Jahren – lange bevor Grossbritannien für den Brexit stimmte oder die AfD den Bundestag aufmischte – nahm sich Jan-Werner Müller in Aufsätzen bereits des Phänomens Populismus an. Einem grösseren Publikum wurde der Princeton-Professor mit dem Essay «Was ist Populismus?» bekannt. Die Schrift erschien im Frühling 2016 bei Suhrkamp – kurz nach der Flüchtlingskrise und noch vor Trump. Jan-Werner Müller nimmt darin gegenwärtige Entwicklungen zum Anlass und Ausgangspunkt, um dem Phänomen auf die Spur zu kommen. Seine Schrift skizziert eine Theorie des Populismus, die unter Annahme weniger Voraussetzungen das Spektrum des Populismus und seine Grundsätze aufzuzeigen weiss. Kernthese ist, dass die Populisten von sich immer sagen, dass sie die einzigen echten Vertreter des Volkes seien. Aus dieser Position ist ihre Politik zu verstehen – und diese Position ist es, die den Populismus nach Müller für Demokratien gefährlich macht. Jan-Werner Müller lehrt in Princeton politische Theorie, forscht über vielfältige Themen der Demokratietheorie und legte mehrere Beiträge zur Politik der deutschen Nachkriegszeit und zu verfassungsgestütztem Patriotismus vor.