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Nemo macht, was Nemo will

Nemo macht, was Nemo will

Eine Ladung gute Vibes: Vor den Augen der Schweiz wurde Nemo erwachsen – und vom Teeniestar zur musikalischen Grösse. Dabei lässt sich Nemo nicht beirren. Szenen einer Karriere.

Nadine A. Brügger 7 min
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«Ich habe mir einen feminineren Körper gewünscht», sagt Nemo Mettler. Jetzt sei es viel besser.

«Ich habe mir einen feminineren Körper gewünscht», sagt Nemo Mettler. Jetzt sei es viel besser.

Ella Mettler / SRF

Mit roter Bomberjacke, Kopftuch und schwarz getönter Sonnenbrille springt ein schmales Kind auf die Musicalbühne von «Ich war noch niemals in New York». Es singt und tanzt und kokettiert mit der Energie eines locker aus dem Handgelenk geworfenen Gummiballs und der Routine eines alten Hasen. Dabei ist das Kind, das einen Jungen spielt, gerade einmal 13 Jahre alt.

Als die «Berner Zeitung» den Bieler Teenie nach einer der Aufführungen von Udo Jürgens’ Musical fragt, ob die Nervosität bei einem Auftritt vor 1500 Leuten gross sei, schüttelt der junge Mensch den Kopf. Aber nein – freudig! Und auf die Frage, was sein eher ungewohnter Name denn bedeute, erklärte das Kind: Nemo sei Latein und heisse «niemand». Die Eltern hätten sich dafür entschieden, «damit ich werden kann, wer ich will».

«Scho lang i däm Game»

Nun ist Nemo 24 Jahre alt – und tritt für die Schweiz am Eurovision Song Contest an. Während die Vorgänger am ESC, Luca Hänni etwa oder im letzten Jahr Remo Forrer, alles irgendwie bubige Männer mit grossen Balladen waren, stellt Nemo mit Lidschatten, lackierten Fingernägeln, rosa Rüschen und schnellen Beats das Konzept vergangener Jahre auf den Kopf.

Das scheint zu funktionieren: Der Song «The Code», in dem von Pop über Falsett bis Rap alles zu hören ist, nähert sich auf Spotify gerade der 4,7-Millionen-Streams-Marke. In den sozialen Netzwerken wird Nemo, nonbinär und pansexuell, als Gender-Star gefeiert. Bei internationalen Publikumsumfragen liegt der Schweizer ESC-Beitrag ganz weit vorn.

Überrumpelt scheint Nemo von all dem nicht. Denn: «I bi scho lang i däm Game», ist in einem Clip des Schweizer Fernsehens zu vernehmen. Elf Jahre, um präzise zu sein. Das sind die Szenen einer jungen, langen Karriere.

Die visuelle Inszenierung des ESC-Beitrags «The Code» stammt von Nemos Schwester Ella Mettler.

Die visuelle Inszenierung des ESC-Beitrags «The Code» stammt von Nemos Schwester Ella Mettler.

Ella Mettler / SRF

«Äs geit ab iz nur fürä»

Jedes Jahr messen sich über 80 Rapper am grössten Schweizer Live-Rap-Event «Bounce Cypher». Sechs Stunden, Live-Übertragung – und 2016 auch ein drahtiger Teenager mit Zahnspange und viel Selbstbewusstsein. Mitten in der Schweizer Rap-Aristokratie von Manilio über Luc Oggier (von Lo & Leduc) bis Greis stellt sich der Jungspund vors Mikrofon und legt los: «Es geit ab iz nur fürä und füra man i brichä dürä / hie louft aues nur drunder und drüber / ja du gsehsch mi bald uf verschiedene Bühnä / i loufe scho bald dür verschiedeni Türä.» Die Umstehenden nicken und wippen, und Nemo, kleiner als alle, überragt die meisten.

Nemos Auftritt am «SRF Cypher» von 2016 ging viral.

SRF / Youtube

Das Video des Auftritts geht viral. Am nächsten Tag weiss die halbe Schweiz, wer Nemo ist. Und die, die es verpasst haben, brauchen bloss das Radio einzuschalten: Dort spielen sie die Single «Ke Bock» rauf und runter. «U i däm Pändlerverchehr wird mir schlächt / Stöht doch uf dr Routräppe rächts / U gsehsch du nid wi di Döner tropft /Nei ha ke Bock das du näbe mi hocksch», rappt Nemo, knappe 17 Jahre alt, vielen Schweizern aus der Seele. Noch im gleichen Jahr, bei «Jeder Rappen zählt» im Glaskasten, singt Nemo: «I bi ufem Himalaya gsi / I ha ne easy Flow / Doch nüd chunnt vo nüd / Drum blibi flissig, Bro.»

«Huere crazy»

Im Frühjahr 2018 gewinnt Nemo vier Swiss Music Awards in so kurzer Folge, dass es zwischen den Preisübergaben gar nicht mehr reicht, um von der Bühne zum Platz in der Halle zurückzukehren. «Es geht megaschnell», sagte Nemo in der einen Dankesrede. «Es ist huere crazy», gleich darauf in einer anderen.

Bereits 2017 gewann Nemo einen Prix Walo in der Kategorie «Newcomer», einen Energy Music Award als «Bester Schweizer Künstler» und den Swiss Music Award «Best Talent». 2018 sind es dann deren vier Swiss-Music-Award-Pflastersteine. Nemo sagt: «Ich brauche jetzt eine Nacht, um darüber nachzudenken.»

Da stand dann also dieser 18-jährige Mensch mit den Preisen einer einzigen Nacht im Arm, die viele über eine gesamte Karriere nicht erreichen. Und dachte nach. Über sich und die Musik und die Zukunft. Statt auf den Eilzug aufzuspringen, Werbeverträge an Land zu ziehen, die nächste Single zu publizieren und die Erfolgswelle zu reiten, beschloss Nemo, eine Auszeit zu nehmen.

Nemo ist unbestritten ehrgeizig. Ein Kind von Eltern, die Sprungbretter aufstellten, statt Limiten zu setzen. Bereits mit drei Jahren spielte Nemo Geige, später kamen Klavier und Schlagzeug dazu. Als das Kind mit fünf Jahren und offenem Geigenkasten auf der Strasse Musik machen wollte, liess man es. Als mit 13 eine Bubenrolle auf der Musical-Bühne lockte, machten die Eltern dem Kind den Weg frei.

Ehrgeizig, ja, aber nicht verbissen. Rennt nicht los, weil das von aussen gesehen Sinn ergibt, sondern steht still, weil sich das von innen richtig anfühlt. Nemo ging in die USA, besuchte dort Familie, kehrte heim nach Biel und flog wieder aus. Nach Berlin, «einem Ort, wo mich niemand kennt. An dem ich den Menschen neu erklären kann, wer ich bin», sagte Nemo der «Sonntags-Zeitung».

«Ich habe mega viel Liebe für Nemo von früher» – Nemo im Juli 2017 auf der Waldbühne am Gurtenfestival in Bern, wo auch im kommenden Sommer wieder ein Konzert ansteht.

«Ich habe mega viel Liebe für Nemo von früher» – Nemo im Juli 2017 auf der Waldbühne am Gurtenfestival in Bern, wo auch im kommenden Sommer wieder ein Konzert ansteht.

Anthony Anex / Keystone

«Ich bin einfach Nemo»

November 2023 – keine Szene, sondern eine ganze Nacht. Nemo brütet über einem Instagram-Post. Darin soll die neue Single «This Body» angekündigt werden. Übersetzt aus dem Englischen lautet die erste Strophe: «Wenn dieser Körper ein Haus wäre, würde ich es niederbrennen. Und mir ein Zuhause bauen, in dem ich mich sicher fühle» – entstanden in einer schwierigen, einer unsicheren Zeit, soll dieser Song nun zum Startschuss werden für ein neues Lebenskapitel.

Nemo sortiert Gedanken und bündelt Aussagen. 36 Zeilen umfasst der Post nun, für eine Plattform, auf der es eigentlich nur um die Bilder geht. Bevor der Post hinaus in die Welt darf, schickt Nemo ihn dem Mami. Alles, was wichtig sei und aufgeschrieben werde, gehe erst einmal an sie. Die Mutter gibt grünes Licht, Nemo klickt «publizieren», die Follower lesen: «Ich identifiziere mich nicht als Mann oder als Frau. Ich bin einfach Nemo.»

Nemo wünscht sich die englischen Pronomen «they/them» – oder gar keine. Sagt in einem SRF-Interview kurz nach dem Coming-out aber auch: «Im Deutschen fehlen Alternativen.» Wenn mal ein «er» durchrutsche, sei das nicht so schlimm. Denn: «Bei einer Sprache, die so viel Geschichte hat, kann man nicht erwarten, dass sie sich von heute auf morgen ändert.»

Und dann kommt wieder so ein Nemoismus – ein Blick auf das Positive, ein Hervorkehren des Guten, anstelle von Kritik: «Ich kann nur sagen, wie es sich anfühlt, wenn die Leute keine Pronomen benutzen für mich oder eben they/them. Ich fühle mich gesehen und wahrgenommen als Mensch.»

2022 erklärte Nemo bereits, pansexuell zu sein – sich also in Lust- und Liebesdingen von allen Geschlechtern angezogen zu fühlen. Seit fünf Jahren allerdings führt Nemo eine Beziehung mit einer Frau. Die Freundin war die Erste, die von der Nonbinarität erfuhr, und die Erste, die aufhörte, männliche Pronomen zu benutzen. Geändert habe sich an der Partnerschaft abgesehen von den Pronomen nichts, sagt Nemo dem Schweizer Fernsehen: «Unsere Beziehung ist nicht auf Rollenbilder aufgebaut. Wir haben keine Erwartungen aneinander, die an das Geschlecht geknüpft sind.»

«Mein Empfinden war: In der Schweiz sagen mir ständig Leute, wer ich bin. Ich war ‹der junge Mundartrapper›», sagte Nemo der «Sonntags-Zeitung».

«Mein Empfinden war: In der Schweiz sagen mir ständig Leute, wer ich bin. Ich war ‹der junge Mundartrapper›», sagte Nemo der «Sonntags-Zeitung».

Ella Mettler / SRF

«Mega viel Liebe»

Für Nemos engste Menschen waren die News vom Herbst 2023 längst keine mehr. Das Umfeld habe schon lange Bescheid gewusst, sei «toll und lieb und stützend», sagte Nemo kurz nach dem Coming-out. Ein Adjektiv fehlte damals: verlässlich. Freunde und Familie hielten dicht; die News sickerte nirgendwo einfach durch.

Als Nemos Nonbinarität dann publik wurde, waren die Reaktionen überschwänglich. «Ich habe mega viel Liebe bekommen», sagt Nemo, «nur einen Kommentar musste ich löschen.» Vielleicht liegt das daran, dass die Zeiten sich ändern. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die Schweiz Nemo aufwachsen sah. Oder damit, dass Nemo zwar unglaublich talentiert ist, extravagant auch, aber gleichzeitig unkompliziert.

Per Anhalter nach Malmö

Eine Tankstelle irgendwo in der Schweiz, die Nacht ist längst hereingebrochen. Zwei junge Leute stehen am Rand des künstlichen Lichtscheins. «Malmö» steht in runden, bunten Buchstaben auf dem Kartonschild, das sie bei sich tragen: Dort fand am Donnerstag (9. 5.) das zweite Halbfinale des Eurovision Song Contest statt. «Aber statt dorthin zu fliegen, dachte ich, es wäre lustig, per Anhalter dorthin zu kommen», sagt einer der beiden jungen Menschen in die Handykamera. Es ist Nemo, natürlich.

Zusammen mit Imre, einem Freund von früher, steht Nemo also am Strassenrand und hält den Daumen hoch für Malmö. Weil es eben lustig sei, per Anhalter nach Schweden zu reisen. Und gut tue, vor dem ganz grossen Trubel noch ein kleines Abenteuer zu erleben.

Und weil Nemo nicht nur bei der Musik ganz genau weiss, was die Menschen mögen, dokumentieren die beiden ihre Autostopp-Reise gen Norden mit der Handykamera. In drei Teilen kann man auf Youtube dabei zusehen, wie die Freunde nachts im Regen stehen, kein Hotelzimmer mehr bekommen, trotzdem meistens lachen und einmal sogar die Süssigkeiten ihrer Chauffeure aufessen dürfen.

Per Anhalter nach Malmö.

Nemo / Youtube

Unterwegs vergisst Nemo in einem Auto das Handy und irgendwo auch das Malmö-Schild. Es wird viel umarmt, viel gesungen und gezeigt, wie klein Nemo Mettlers Berührungsängste sind. Das wirkt. «Hier ein Brite, der will, dass Nemo den ESC gewinnt», schreibt einer unter das Video. «Ich hoffe, du gewinnst Eurovision. Grüsse aus Dänemark», ein anderer. Auch Grüsse aus Neuseeland finden sich in den Kommentaren.

Schliesslich schaffen die beiden es per Anhalter bis Malmö. Am Bahnhof verabschieden sie sich. Imre muss zurück in den Alltag, Nemo ins Rampenlicht. Unter die Videos schreibt Nemo: «Ich nehme eine alternative Route zum Eurovision Song Contest in Malmö – nämlich per Autostopp zusammen mit meinem Freund Imre.» Die alternative Route ist für Nemo kein neuer Weg.

Das Konzept zum ESC-Beitrag «The Code» stammt von Nemos Schwester Ella Mettler.

Nemo / Youtube