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Neues Wehrpflichtgesetz: In Polen bekommen Ukrainer keine Dokumente mehr

Polen unterstützt Kiew: Wehrpflichtigen Ukrainern werden keine Dokumente mehr ausgestellt

Die polnische Regierung scheint entschlossen, Kiew bei der Umsetzung des neuen Wehrpflichtgesetzes zu helfen. Vor einer Rückführung in die Ukraine zögert man offenbar.

Paul Flückiger, Warschau 4 min
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Im zweiten Stock des Einkaufszentrums «Blue City» in Warschau machen derzeit viele Ukrainer frustrierende Erfahrungen: Obwohl sie sie bestellen konnten, bekommen sie keine offiziellen Ausweisdokumente mehr. Kiew will damit die wehrpflichtigen Männer zur Rückkehr bewegen.

Im zweiten Stock des Einkaufszentrums «Blue City» in Warschau machen derzeit viele Ukrainer frustrierende Erfahrungen: Obwohl sie sie bestellen konnten, bekommen sie keine offiziellen Ausweisdokumente mehr. Kiew will damit die wehrpflichtigen Männer zur Rückkehr bewegen.

Imago

Die Agentur «Dokument» befindet sich zwischen einem ägyptischen Restaurant und einer Sushi-Bar. Im zweiten Stockwerk von «Blue City», einem der grössten Einkaufszentren Warschaus, unterhält das ukrainische Amt für Migration seit August 2022 ein Passbüro. Es soll die fünf ukrainischen Konsulate in Polen entlasten. Seit Kriegsausbruch ist die Zahl der Ukrainer im Land stark angestiegen. Bei «Dokument» können sie vorbeikommen, wenn sie einen neuen biometrischen Reisepass oder eine neue Identitätskarte brauchen.

Eine SMS oder doch zwei?

An diesem Nachmittag hat sich vor dem Eingang von «Dokument» eine Traube von Männern zwischen 30 und 50 Jahren gebildet. Zwei Wachmänner verweigern ihnen den Zutritt. Die Stimmung ist gereizt. «Ich war beim Maidan, habe für eine saubere Ukraine gekämpft, doch dies hier ist ein Banditenstaat», mit diesen Worten giftet einer der Männer eine herbeigerufene ukrainische Beamtin an.

Die junge Frau redet seelenruhig auf ihn ein und lässt sich die SMS zeigen, die er aus Kiew erhalten hat. Damit will der Mann seinen neuen Reisepass abholen. Doch die Zahlenkombination reicht der Beamtin nicht. Angeblich ist eine zweite SMS nötig. Davon sei bei der Pass-Beantragung keine Rede gewesen, sagen alle Umstehenden. Es herrscht Konsternation.

Es gibt allerdings Menschen, die an diesem Tag in das Passbüro eintreten können. Durch die Scheiben sind Spiegel und junge Frauen zu sehen, die sich die Haare kämmen. In einer Art Umkleidekabinen werden offenbar Passfotos geschossen und Fingerabdrücke genommen. Auch männliche Teenager werden am Eingang problemlos durchgelassen. Doch wer über 25 Jahre alt ist, das neue um zwei Jahre nach unten gesenkte Mobilisierungsalter in der Ukraine, hat keine Chance, ins Passbüro «Dokument» zu gelangen.

Vor einer Woche sei noch ein Zettel an der Glastür gehangen, der über «technische Probleme» informiert habe, erzählt ein Mann aus Saporischja. Sechs Jahre ist er schon in Polen, doch bald läuft seine Aufenthaltsgenehmigung ab. Um dieses polnische Dokument zu verlängern, braucht der Mittvierziger einen neuen ukrainischen Reisepass. Auch er hat eine SMS erhalten mit der Mitteilung, dass dieser bei «Dokument» zur Abholung bereit sei. Doch auch sein Versuch, das blaue Büchlein mit dem Dreizack abzuholen, ist gescheitert.

Offizielle halten zu Kiew

Gut drei Wochen sind vergangen, seit der ukrainische Aussenminister Dmitro Kuleba angekündigt hatte, die konsularischen Dienste würden bis zum Inkrafttreten des neuen Mobilisierungsgesetzes am 18. Mai ausgesetzt. Der Minister erinnerte alle Ukrainer im Ausland daran, dass auch sie Pflichten gegenüber ihrem Heimatland hätten. Dazu gehört vor allem für die männlichen Bürger die Eintragung in ein Wehrregister, in dem der Aufenthaltsort jeweils aktualisiert wird. Wer nach dieser Eintragungspflicht für dienstuntauglich befunden werde, könne problemlos wieder ins Ausland ausreisen, hiess es dazu in Kiew.

In Polen beeilte sich die Mitte-links-Regierung, Kiew ihre Solidarität zu versichern. «Wir haben der Ukraine schon lange signalisiert, dass wir behilflich dabei sind, dass jene, die Kriegsdienst leisten müssen, in die Ukraine ausreisen», sagte etwa Polens Verteidigungsminister. Bei einigen Ukrainern laufe bald die Aufenthaltsgenehmigung ab, damit löse sich das Problem von selbst, hiess es im Aussenministerium. Allerdings habe sich Kiew seit der Verabschiedung des neuen Gesetzes noch gar nicht mit irgendwelchen Initiativen an Warschau gewandt.

«Polen wird Drückebergern bestimmt keinen Schutz bieten», versicherte der Vizeaussenminister Adam Szejna. Solange jemand jedoch eine gültige Aufenthaltsgenehmigung habe, werde niemand für den Wehrdienst in der Ukraine «eingefangen», versicherte Szejna. Für ukrainische Kriegsflüchtlinge hat der Sejm gerade erst die Duldung bis Ende September 2025 verlängert. Die Ausschaffung von wehrpflichtigen Ukrainern in ihre Heimat sei «eine sehr heikle Sache», erklärt ein Staatssekretär im Aussenministerium im informellen Gespräch. Die Regierung sei sich in dieser Frage uneins. Und zwar offenbar über die Parteigrenzen hinweg.

Glück hat, wer einen zweiten Pass besitzt

Die Diskussion über allfällige Deportationen von Kriegsdienstverweigerern hat in Polen erst gerade begonnen. Im Grunde sind sich alle Parteien ausser der rechtsextremen Konföderation einig, dass die Ukraine Polens Solidarität auch bei der Mobilisierung verdient. Vor allem Wirtschaftskreise machen aber darauf aufmerksam, dass die schätzungsweise bis zu 700 000 ukrainischen Männer im Alter von 25 bis 60 Jahren grosse Lücken hinterlassen würden. An einer Konferenz in der westpolnischen Stadt Poznan warnte der liberale frühere Regierungschef Jan Krzysztof Bielecki am Mittwoch vor einem Exodus ukrainischer Gastarbeiter aus Polen nach Deutschland. Kanzler Olaf Scholz hat Kiew bereits mehrmals signalisiert, dass Berlin keine wehrdienstverweigernden Ukrainer ausweisen werde.

Vor dem ukrainischen Passbüro im Warschauer Einkaufszentrum «Blue City» hat sich die Schlange der entrüsteten Ukrainer inzwischen aufgelöst. Doch noch immer kommen täglich Männer vergeblich hierher, um ihre Dokumente abzuholen. «Es ist ein Skandal, dieses Land hat Farben der EU auf seiner Flagge, aber es vertritt keine europäischen Werte», flucht Jarko, der für einen neuen Pass eigens aus Stockholm nach Warschau geflogen ist. Er habe fast 200 Euro für den Service bezahlt und nichts dafür erhalten, schimpft der angehende Arzt. Zum Glück habe er auch einen schwedischen Pass, sagt er und zieht ab.

Grössere Sorgen hat ein Gastarbeiter aus Lwiw, der vor vier Jahren zu seiner bereits seit 2004 in Polen wohnhaften Ehefrau gezogen ist und inzwischen in den Niederlanden arbeitet. Auch er ist extra aus dem Ausland angereist. Noch blieben ihm vier Urlaubstage, sagt er. Vielleicht habe er ja Glück und erhalte seinen Pass noch. Die meisten, die ohne neue Papiere das Einkaufszentrum wieder verlassen, haben den Verdacht, dass sie diese auf absehbare Zeit nicht bekommen.

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