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Frauenstreik: Wie steht es um den Feminismus?
Interview

Ukraine, Gaza, Klimawandel: Ist der Feminismus nebensächlich geworden?

Die Historikerin Elisabeth Joris hat den ersten Frauenstreik in der Schweiz 1991 mitinitiiert. Ein Gespräch über den Zustand des Feminismus.

Lia Pescatore, Leonie C. Wagner 5 min
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Am Freitag demonstrieren die Schweizerinnen wieder wie hier 2023 in Lausanne.

Am Freitag demonstrieren die Schweizerinnen wieder wie hier 2023 in Lausanne.

Jean-Christophe Bott / Keystone

Der 14. Juni 2019 war ein einziges Fest. Eine halbe Million Frauen zogen durch die Strassen der Schweiz, trugen violette T-Shirts, riefen dieselben Parolen. Und die ganze Schweiz schaute ihnen zu. Nun, am Freitag, wollen die Frauen abermals Strassen und Plätze einnehmen. Die Forderungen sind ähnlich, doch die Euphorie ist kleiner. In den Medien ist nur wenig über den feministischen Streik zu lesen. Woran liegt das?

Elisabeth Joris ist 78 Jahre alt. Die Autorin, Historikerin, Feministin, Klimaaktivistin hat den ersten Frauenstreik 1991 mitinitiiert und mehrere Bücher zur Frauen- und Geschlechtergeschichte der Schweiz verfasst. 2020 wurde sie dafür von der Philosophischen Fakultät geehrt.

Die Historikerin Elisabeth Joris.

Die Historikerin Elisabeth Joris.

NZZ

Am Tag vor dem Frauenstreik betreut Elisabeth Joris eines ihrer fünf Enkelkinder, wie schon an den zwei Tagen zuvor. Sie beantwortet die Fragen, während sie Gemüse schneidet. Zum Mittagessen gibt es Fleischkäse mit gebratenen Tomaten und Kartoffeln.

Frau Joris, Sie kochen gerade für Ihren Enkel, gleichzeitig arbeiten Sie, indem Sie ein Telefoninterview führen. Hat sich an der Doppelbelastung der Frau nichts verändert?

Es hat sich zu wenig verändert. Mein Mann und ich haben die Betreuung schon bei unseren Kindern geteilt und machen das jetzt auch bei unseren fünf Enkelkindern. Heute, gestern und vorgestern war ein Enkelkind bei uns. Wenn man die Statistiken anschaut, zeigt sich: Diese Konstellation ist kein Einzelfall. Die Grosseltern müssen oft zusätzlich unterstützen. Denn Kinderbetreuung ist noch immer primär Frauensache.

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist ein Kernanliegen des Frauenstreiks. 2019 war der Frauenstreik ein sehr grosses Thema. Dieses Jahr ist der Streik ein Nebenschauplatz, neben Ukraine, Gaza, nach den schwierigen Corona-Jahren: Liegt das einzig an der weltpolitischen Lage?

Der historische Vergleich mit anderen sozialen Bewegungen bis ins 19. Jahrhundert zeigt, dass soziale Bewegungen entscheidend von Emotionen mitbedingt sind. Und ich meine keine blinden Emotionen, sondern solche, die mit rationalen Argumenten gepaart sind. Man muss Herzblut reinstecken. 2019 ist das passiert. Heute hingegen sind die Menschen, also auch die Frauen, stark mit Fragen von Krieg und Frieden beansprucht. Wie stellt man sich gegen Gewalt? Wie hilft man der Zivilbevölkerung? Das sind schwierige Fragen, die nicht frauenspezifisch sind. Darum ist der Feminismus stärker im Hintergrund.

Die Euphorie scheint verklungen: Am 14. Juni 2019 versammelten sich eine halbe Million Schweizerinnen zum Frauenstreik.

Die Euphorie scheint verklungen: Am 14. Juni 2019 versammelten sich eine halbe Million Schweizerinnen zum Frauenstreik.

Joël Hunn / NZZ

Haben die Fragen rund um den Krieg nicht auch eine feministische Komponente?

Auf jeden Fall. Und es stört mich sehr, dass die feministische Position bei Themen, die unsere Gesellschaft aktuell beschäftigen, kaum zum Tragen kommt. Der Krieg wird öffentlich vor allem aus einer militärischen, männlichen Perspektive diskutiert. Frauen kommen nur als Opfer vor. Die Experten sind überwiegend männlich.

Liegt die abnehmende Kraft des Frauenstreiks auch daran, dass sich der Feminismus immer weiter aufspaltet? Linke, Queere, Bürgerliche: Jedes Grüppchen sorgt sich um sein eigenes Anliegen. Die Einigkeit von 2019 scheint verloren.

Von einer verlorenen Einigkeit würde ich nicht sprechen. Es gab schon immer Differenzen, auch 2019. Im September steht die Reform der Pensionskasse an. Rund um das Thema der arbeitstätigen Frau sind die Meinungsverschiedenheiten grösser als in anderen Fragen.

Woran liegt das?

Es liegt unter anderem daran, dass die Care-Arbeit in den letzten Jahren an Gewicht gewonnen hat. Internationale Untersuchungen haben gezeigt, dass Care-Arbeit die grösste Beeinträchtigung von Frauen ist, wenn es um Altersarmut, um Scheidung oder andere Veränderungen im Leben geht. Das bedeutet: Für Männer ist ein Kind kein Hinderungsgrund für einen Aufstieg, für Frauen bedeutet es in der Regel einen Knick in der Lebensplanung. Diese neuen Erkenntnisse haben neue Forderungen hervorgebracht und damit auch neue Differenzen. Aber das ist normal und nicht überraschend. Es gab immer wieder Phasen in der Bewegung, in der Meinungsverschiedenheiten im Vordergrund standen. Und dann wieder fokussierte man sich auf Gemeinsamkeiten. Es ist eine Wellenbewegung.

Wo sehen Sie heute die grössten Unterschiede zwischen den Geschlechtern?

Frauenarbeit ist grundsätzlich weniger wert. Das zieht sich wie eine Konstante durch die Geschichte und lässt sich an Lohnerhebungen ablesen. Berufe, in denen mehrheitlich Männer arbeiten, sind besser bezahlt als solche, die vor allem von Frauen ausgeübt werden. Das Gehalt für Lehrer und Lehrerinnen ist tiefer in der Kindergartenstufe als in der Oberstufe, weil in den unteren Stufen mehr Frauen arbeiten. Das ist nicht nachvollziehbar, da zu Beginn der Schullaufbahn viel Integrationsarbeit geleistet wird. Noch frappanter ist der Unterschied in der Reinigungsbranche. Das sind Berufe, die nicht angesehen sind. Wir müssen uns die Frage stellen, welchen Wert wir Care-Arbeit gesellschaftlich zusprechen wollen, welches Gewicht wir ihr geben.

Sie engagieren sich nicht nur feministisch, sondern sind auch Mitinitiantin der Klimaseniorinnen. Ist Klimapolitik heute zu einem feministischen Anliegen geworden?

Der Feminismus dynamisiert die Klimabewegung. Die Frauen, die sich in der Bewegung engagieren, machen dies aus einer feministischen Haltung heraus. Sie fragen sich: Wo müssen wir uns engagieren, wo tragen wir Verantwortung gegenüber den nächsten Generationen? Grundsätzlich beschäftigen sich mehr Frauen mit Care- und Umweltfragen.

Warum ist das so?

Weil sich Frauen um die nächste Generation sorgen. Ich kenne keine Frau, die sich für das Klima engagiert und nicht gleichzeitig Feministin ist.

Lassen sich zwischen Feminismus und Klimapolitik Parallelen ziehen?

Die Klimabewegung und der Feminismus haben es seit den letzten Wahlen schwer. In der Politik stehen die Kriege, die Bewaffnung und das Armeebudget im Vordergrund. Andere Themen werden dadurch in den Hintergrund geschoben. Der Rückgang der Grünen in der Schweiz und in Europa hat sowohl die Positionierung des Feminismus als auch jene des Klimaaktivismus geschwächt. Die Grüne Partei ist die einzige Partei, die im Parlament seit ihrem Bestehen in der Regel über eine Mehrheit von Frauen verfügt.

1991 streikten die Schweizer Frauen zum ersten Mal für eine Gleichstellung von Mann und Frau.

1991 streikten die Schweizer Frauen zum ersten Mal für eine Gleichstellung von Mann und Frau.

Keystone

Was muss passieren, damit Feminismus wieder zur Priorität wird?

Das hängt stark vom Kontext ab. Mit dem Krieg, den man weder in Nahost noch in der Ukraine vorausgesehen hat, hat sich die Situation drastisch verändert. Wie es nächstes Jahr aussieht, weiss ich nicht. Sicher ist, dass wir in der breiten feministischen Allianz Differenzen benennen müssen, aber zwingend auch erkennen müssen, wo wir zusammenarbeiten können.

Und wo sind Feministinnen vereint?

Ich denke, die Feministinnen sind sich einig, dass die Zuständigkeit der Frau im Bereich Care-Arbeit stärker berücksichtigt werden muss, in allen Facetten der Gesetzgebung. Wie man dies umsetzt, darüber bestehen Differenzen. Aber dass sich etwas ändern muss, darüber sind wir uns einig.

Gehen Sie am Freitag streiken?

Ich werde gemeinsam mit meinen Freundinnen auf den Zürcher Bürkliplatz gehen. Gegen Abend haben meine zwei Enkelinnen noch ein Konzert, das ich mir anhören möchte.

Bekommen Sie beides hin?

Das ist eine klassische Situation: Die Abwägung zwischen Persönlichem, Beruflichem und Politischem hat immer zu meinem Leben als Historikerin und Aktivistin gehört. Nach dem Konzert werde ich zum Frauenstreik zurückkehren.

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