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Verliert die Schweiz ihre Dialektvielfalt? Eine Analyse. | NZZ

Verliert die Schweiz ihre Dialektvielfalt? Eine Analyse.

Dialekte wandeln sich. Begriffe der einen Region verdrängen in anderen Landstrichen typische Wörter. Ein Blick in die Forschung zeigt, wo sich Unterschiede halten und wo sie verschwinden.

Marie-José Kolly
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Im Zug von Zürich nach Zug diskutiert eine chic gekleidete ältere Dame mit dem Kondukteur. Sie habe noch kein Billett kaufen können, sagt sie, und möchte jetzt mit der Karte bezahlen. Die beiden reden zwar miteinander, scheinen sich aber nicht so recht zu verstehen. Plötzlich fragt sie: «Äxgüsi, aber sind Sie Usländer?» Er erwidert, ganz entgeistert: «Jä nääi, ich reedä doch Ürnertitsch!»

Eine Zürcherin und ein Urner haben Verständigungsprobleme, sie erkennt ihn kaum als Schweizer – und das bei einem einfachen Alltagsgespräch im Zug. Gleichzeitig befürchten viele Schweizer, ihr Dialekt verflache und verkomme zu Einheitsbrei. Wie geht das zusammen?

Ein Zürcher Wort expandiert

Ein Vergleich zwischen Datensätzen aus verschiedenen Zeiten hilft weiter: Der «Sprachatlas der deutschen Schweiz» dokumentiert für 560 Schweizer Orte den Sprachstand um 1950. Für dieselben Ortschaften sammelten Zürcher und Berner Forscher mit einer Smartphone-App* im Jahr 2013 Dialektdaten von rund 60 000 Personen. Die beiden Quellen zeichnen ein differenziertes Bild vom Wandel der Schweizer Dialektlandschaft: Manche Wörter breiten sich tatsächlich aus und verdrängen andere. Aber es gibt auch Grenzen, die immer noch so verlaufen wie vor siebzig Jahren.

*Dialäkt Äpp (Leemann, A., Kolly, M.-J., Wanitsch, D., Hasler, F., Eisenblatt, C, Werlen, I.)

Ein Beispiel: Was vom Apfel übrig bleibt, wenn man ihn rundherum abgenagt hat, heisst in Bern «Gröibschi», in St. Gallen «Bitzgi», in Chur «Bitschgi» und in Zürich «Bütschgi». Das war vor siebzig Jahren so und ist es heute noch. Doch zwischen diesen Städten hat sich die Dialektlandschaft verändert, denn das Wort «Bütschgi» hat sich von Zürich aus in alle Richtungen ausgebreitet.

Grafik: Joana Kelén. Adaptiert von: Leemann, A., M.-J. Kolly, R. Purves, D. Britain, E. Glaser, 2016: Crowdsourcing language change with smartphone applications. PloS ONE 11/1.

Grafik: Joana Kelén. Adaptiert von: Leemann, A., M.-J. Kolly, R. Purves, D. Britain, E. Glaser, 2016: Crowdsourcing language change with smartphone applications. PloS ONE 11/1.

Das Terrain von «Gröibschi», «Bitzgi» und «Bitschgi» blieb zwar mehrheitlich unangetastet, aber den Baselstädter «Butze» konnte das «Bütschgi» weitgehend verdrängen: Nur noch zwei Prozent der fast 2000 Baselstädter, deren Daten die App erhoben hat, sagen «Butze». Auch die basellandschaftlichen Wörter «Üürbsi» und «Güegi» sowie «Güürbsi», das der Sprachatlas für Aargauer und Solothurner Ortschaften angibt, mussten für das «Bütschgi» zur Seite treten. Dasselbe gilt für das Zentralschweizer «Bätzgi» oder den Glarner Ausdruck «Gütschi».

Insgesamt hat «Bütschgi» in rund siebzig Jahren 94 Ortschaften erobert. Der Begriff aus dem Grossraum Zürich war schon zu Zeiten des Sprachatlas in 85 Ortschaften in mehreren Kantonen verbreitet – eine überregionale Verbreitung also, die ihm weiteren Auftrieb gegeben haben dürfte: Begriffe aus einem grösseren urbanen Gebiet werden von mehr Menschen verstanden als Wörter, deren Ausbreitung sich auf ein enges Bergtal beschränkt.

«Lüpfe» bleibt «lüpfe»

Eine Erhebung der Universität Basel aus dem Jahr 2008 zeigt ebenfalls, dass Sprecherinnen und Sprecher ihren Wortschatz in relativ kurzer Zeit anpassen. Die «Summersprosse», die ähnlich klingt wie der hochdeutsche Begriff, ist im Sprachatlas lediglich für vier Ortschaften belegt. 2008 jedoch kommt sie in der gesamten Deutschschweiz vor. Die im Atlas dokumentierten Begriffe «Laubfläcke», «Merzefläcke», «Merzedräck» oder «Merzetupfe» hingegen werden zwar nach wie vor verwendet, ziehen sich aber langsam zurück. Die meisten Befragten geben «Summersprosse» als das gebräuchliche Wort an. Auch der «Schmätterling» verdrängte in vielen Gebieten Wörter wie «Müllervogel», «Fifalter» oder «Summervogel». Und der Grossraum Zürich konnte zwar sein «Bütschgi» in benachbarte Regionen exportieren – eine dem hochdeutschen «Kerngehäuse» nahe Form scheint abgesehen von Walliser Ausdrücken wie «Chääruhuusi» oder «Huusini» nicht in Verwendung zu sein. Die klassischen Zürcher «Böle» jedoch schwächeln unter dem Einfluss von «Zibele» oder «Zübele», die von Westen her vordrängen.

In anderen Bereichen der Sprache aber blieben Dialektgrenzen über siebzig Jahre hinweg stabil. Die Gebiete des Mundartworts für «heben» – je nach Dialekt «lupfe», «lüpfe» oder «lipfe» – blieben in dieser Zeit praktisch unverändert. Besonders die Sprachgrenze zwischen «lupfe» in Zürich und in der Nordostschweiz und «lüpfe» westlich von Zürich verläuft fast identisch zu jener Grenze, die der Sprachatlas dokumentiert. Nur «lipfe» in und um Basel ist stark zurückgegangen. Die grosse Mehrheit sagt nun «lüpfe».

Grafik: Joana Kelén. Adaptiert von: Leemann, A., M.-J. Kolly, R. Purves, D. Britain, E. Glaser, 2016: Crowdsourcing language change with smartphone applications. PloS ONE 11/1.

Grafik: Joana Kelén. Adaptiert von: Leemann, A., M.-J. Kolly, R. Purves, D. Britain, E. Glaser, 2016: Crowdsourcing language change with smartphone applications. PloS ONE 11/1.

Dialektwandel scheint also den Wortschatz am stärksten zu betreffen – jenen Bereich der Sprache, der bei Abweichungen am ehesten für Verständnisschwierigkeiten sorgt. Regional verschiedene lautliche Merkmale jedoch bleiben tendenziell über längere Zeit stabil. Gründe dafür liegen einerseits in der Sprache selbst, andererseits bei den Menschen und ihrer Lebensweise. In den vergangenen siebzig Jahren hat sich der Schweizer Alltag in verschiedenen Bereichen verändert: Über Radio und Fernsehen ertönen unterschiedlichste Dialekte auch in abgelegenen Wohnzimmern, Pendler legen immer weitere Strecken zwischen Wohn- und Arbeitsort zurück, vielleicht ziehen sie irgendwann sogar um und leben als «Dialekt-Expats» in Bern, Basel oder Zürich. Kontakte zwischen Personen verschiedener dialektaler Herkunft haben mit der Zeit zugenommen – und damit auch die Notwendigkeit, sich überregional verständigen zu können. Denn manche Wörter klingen für viele Gesprächspartner in der neuen Heimat fremd.

«Zaabe» am Mittag?

So ist es zum Beispiel mit meinem Heimatdialekt aus Jaun, einer kleinen freiburgischen Sprachinsel zwischen der Romandie und dem Berner Oberland. Verwende ich in Zürich mein Wort für «Brille», so folgt garantiert ein Missverständnis. Denn «Schpiegu» oder «Schpiegel» hat in Zürich eine ganz andere Bedeutung. Passe ich mich an und sage «Brüle» statt «Schpiegu», vermeide ich Missverständnisse und eventuell auch längere Gespräche über meinen Dialekt. (So spannend solche Diskussionen auch sind – bei jedem dritten Satz kann sie keiner gebrauchen.) Passe ich also meinen Wortschatz an, so gelange ich schneller ans Ziel der Konversation: etwa wenn ich Hilfe brauche, um meine Brille zu finden. Ähnlich ist es mit dem «Zaabe», wie «Mittagessen» in Südfreiburg, dem Berner Oberland und teilweise im Süden der Kantone Glarus, Uri und St. Gallen heisst. Sage ich «Zmittag», so weiss jeder, was ich meine, spreche ich vom «Zaabe», meinen alle, ich sei mit den Gedanken schon beim Abendessen. Überregionale Wörter wie «Bütschgi» oder «Summersprosse» hingegen sind der überregionalen Kommunikation zuträglich. Beim Grossmueti in Jaun kann ich dann wieder zu «Grübschi» und «Loubfläcke» wechseln.

Bei der Aussprache funktioniert der Prozess des Sprachverstehens anders. Ein Wort bleibt meist über Orts- oder Kantonsgrenzen hinweg als solches erkennbar, auch wenn einzelne Bestandteile davon etwas anders klingen als gewohnt. Zürcher verstehen «lüpfe», auch wenn sie selber «lupfen». Kommt beim Picknick das Gespräch auf «Bruet» oder die «ruete Öpfla», folgt höchstens die Frage, ob ich denn aus dem Wallis stamme. Ein Kollege aus der Dialektforschung meinte einmal, ich hätte «kranke Vokale». Verstanden hat er mich trotzdem.

Das Bild vom Einheitsbrei wird der Komplexität des Sprachwandels nicht gerecht. Ja, der Wortschatz wandelt sich häufig zugunsten eines Pendants aus dem Hochdeutschen. Aber nicht nur – siehe die Erfolgsgeschichte des Zürcher «Bütschgis». Lautliche regionale Merkmale können sich häufig halten. Aber auch hier gibt es Wandel, manchmal auch in eine Richtung, die sich noch stärker vom Hochdeutschen entfernt: «Sauz» («Salz») und «Täuuer» («Teller») haben ihre Gebiete vergrössert. Und schliesslich läuft Dialektwandel je nach Ortschaft oder Region verschieden ab. Freiburg etwa hat aus Bern das «Sauz» übernommen, seinen «Täller» aber behalten.

Im Zug ist jeder irgendwann «Dialekt-Expat». Solange Urner für Ausländer gehalten werden, ist der Einheitsbrei aber noch in weiter Ferne.

Marie-José Kolly hat an der Universität Zürich in Sprachwissenschaft promoviert. Seit 2016 arbeitet sie als Datenjournalistin der NZZ.

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