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Waschbären bringen manche zur Verzweiflung – wie ein Verein hilft | STERN.de
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Invasive Art Niedlich, so ein Waschbär – aber manche bringt er zur Verzweiflung

Waschbär in Scheune auf Lebenshof des Vereins in Marzahn
17 Waschbären leben auf dem Hof von Tierärztin Mathilde Laininger bei Treuenbrietzen in Brandenburg
© VICTOR HEEKEREN
Waschbären fühlen sich wohl in Deutschland. Doch im Zusammenleben mit den Menschen kommt es zu Konflikten. In Berlin nimmt sich ein Verein dieser Probleme an – und der Tiere.

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Gelesen von Isa von Heyl

Kühl und weich, so fühlt sich die Pfote an, die "Room Service" dem Besuch entgegenstreckt. Der zweijährige Waschbär möchte einen Leckerbissen ergattern und lässt sich gern bedienen. Zusammen mit drei Artgenossen tollt das Tier durch ein Wohnhaus in Berlin-Zehlendorf, in dem die Praxis der Tierärztin Mathilde Laininger liegt. Die Waschbären klettern über Regale, knabbern an Bücherrücken und drehen sich in einem hölzernen Laufrad, das eigentlich für Katzen gedacht ist.

Aus den Augen lassen sollte man sie besser nicht, sagt Thomas Becker, der heute auch vor Ort ist. Der ehemalige Steuerberater ist der Kassenwart des Vereins "Hauptsache Waschbär", den Mathilde Laininger gegründet hat. Eines der Tiere, erklärt Becker, könnte unbeobachtet den Wasserhahn in der Küche aufdrehen und die Wohnung überfluten: "Haustiere sind Waschbären definitiv nicht." Zum Schlafen müssten sie daher in den Keller.

Waschbären in Begegnungsstätte des Vereins in Berlin Zehlendorf auf einem Käfig, einer springt herunter
Bärenkunde: In Lainingers Haus können Besucher die Tiere aus der Nähe erleben
© VICTOR HEEKEREN

Die Tierärztin Laininger praktiziert nur noch selten hier, vielmehr dient ihr Haus als Vorführort. Kitas machen Ausflüge zu Lainingers Waschbären, genauso wie einzelne Besucher, die die Tiere einmal aus der Nähe sehen wollen. So wie heute Filip und Kristin: Der Mann hat seiner Frau für ein Jahr eine Waschbär-Patenschaft geschenkt. Sie freut sich, wie zutraulich die Tiere sind.

Der Verein ist auf Unterstützer angewiesen, denn für jeden Bären kosten Futter und Medikamente rund 25 Euro pro Monat.

Mehr als 1000 Waschbären leben in Berlin, und Anfang Mai wurden es noch mehr: Da gebaren die Weibchen ihre Jungen. Das Telefon von Mathilde Laininger steht seit Wochen nicht mehr still. Bis zu 50 Anrufe erreichen sie pro Tag. Meist melden sich verzweifelte Hausbesitzer, neulich eine Frau aus dem Ortsteil Friedenau. Zwei Tage zuvor hatte ein Handwerker auf ihrem Dachboden vier Waschbärwelpen entdeckt. Der Schaden, den das Muttertier verursacht hat, beträgt rund 10.000 Euro. Mit einem Transporter, der zu einer Art Rettungsmobil umgebaut wurde, fuhr Thomas Becker gleich zu der Anruferin und beruhigte sie. Er barg die Jungtiere und steckte sie in eine Holzkiste neben dem Haus. Vielleicht würde das Weibchen zum Wurf zurückkehren und mit den Jungen an einen anderen Ort ziehen.

Ursprünglich kommen Waschbären aus Nordamerika

Doch als Becker an diesem Tag noch mal nach Friedenau fährt, zeigt sich: Die vier Waschbärbabys sind allein geblieben. Er packt sie in eine Transportbox. Die Welpen sind so groß wie Beckers Hand und maunzen vor Hunger. Aus Pulver und Wasser bereitet er Welpenmilch zu und füttert die Tiere mit einem Fläschchen. Dann streicht er mit einem weichen Tuch über ihren Bauch, bis sie entspannt Wasser lassen. In der freien Wildbahn löst die Fähe, so heißt der weibliche Waschbär, den Reflex aus, indem sie den Welpen über den Bauch leckt. Danach bringt er sie in die Bärenstation von Mathilde Laininger.

Thomas Becker, Ehrenamtlicher im Verein, rettet Waschbär Babies aus Dach
Kassenwart und erster Helfer: Thomas Becker birgt ein Waschbärbaby aus einem Dachstuhl
© VICTOR HEEKEREN

Der nächste Anruf geht ein: Eine Frau wartet in der Wohnung ihres Sohnes in Reinickendorf. Dort hat sich eine Bärin nebst Nachwuchs in einer Nische auf dem Balkon eingenistet. "Wie ist das Muttertier denn hier hochgekommen?", fragt Becker, als er sich vor Ort umschaut. Kletterhilfen wie Efeu oder eine Dachrinne in der Nähe des Balkons kann er nicht entdecken. Die Frau ist aufgebracht, sie möchte die Bärenfamilie am liebsten sofort loswerden. Die Tiere auszuhungern oder zu ersäufen, wie es manche Leute überlegen, ist vom Gesetz streng verboten. Am besten wäre es zu warten, bis die Jungtiere alt genug sind und selbstständig von dannen ziehen. Mit ihnen verschwinde meist auch ihre Mutter, erklärt Becker der Frau. Er verspricht, sich bald wieder zu melden.

Um verlassene Jungtiere, die Thomas Becker und andere Vereinsmitglieder aufsammeln, kümmert sich ein Netzwerk aus Ehrenamtlichen. Sie päppeln die Kleinen rund zwei Monate lang mit der Flasche auf. In die Freiheit zurück dürfen sie danach nicht. Der Waschbär gilt seit acht Jahren laut einer EU-Liste als sogenannte invasive Art, als eine Bedrohung für die einheimische Fauna.

"Die Einstufung erfolgte ohne wissenschaftliche Grundlage", sagt Berit Michler. Die Biologin vom Thünen-Institut in Braunschweig hat jahrelang zu Waschbären im Müritz-Nationalpark geforscht. Wie die Tierart auf die EU-Liste gekommen sei, lasse sich heute nur schwer rekonstruieren, sagt sie. Ursprünglich haben Waschbären in Nordamerika ihre Heimat, sie sind per Definition eine gebietsfremde Art. Damit sind sie nicht automatisch invasiv.

Dr Mathilde Laininger, Gründerin des Vereins, mit Waschbär in Begegnungsstätte des Vereins in Berlin
Hunger hat er: Jeder Waschbär vertilgt im Monat Nahrung im Wert von etwa 25 Euro
© VICTOR HEEKEREN

Vor 90 Jahren wurden in Hessen zwei Waschbärpaare ausgesetzt; sie sollten die dortige Jagdfauna bereichern. Lange Zeit entwickelte sich die hiesige Population kaum merklich, bis die Zahl der Tiere in den 1990er-Jahren exponentiell zunahm. Der Grund? "Deutschland ist ein Superland für Waschbären", sagt Berit Michler. Bis 2017 galt der Waschbär noch als heimische Art; dann wurde das Naturschutzgesetz geändert, und das Tier wurde als generell bedrohlich für andere Spezies eingestuft. "Lokal kann der Waschbär einen Einfluss haben, wie jede Art auch, die eine andere frisst", sagt Michler. "Dort, wo es seltene Bodenbrüter gibt oder wo sich der Räuber an seltenen Amphibien oder Reptilien vergreift, kann die Jagd auf ihn sinnvoll sein." Überall sonst müsse man sich mit ihnen arrangieren, wie mit anderen Wildtieren auch.

Kleinere Tiere, Nüsse, Obst: Er frisst fast alles

Neben Hessen gibt es in Brandenburg einen zweiten Hotspot der Verbreitung. Dort waren einige Waschbären am Ende des Zweiten Weltkriegs aus einer Pelztierfarm entkommen. Vom Umland aus zogen die Tiere in Richtung Berlin. "Man hatte genug Zeit, sich darauf vorzubereiten", sagt die Biologin Michler. Dass sie sich in der Hauptstadt nun zur Plage entwickeln, war absehbar.

Waschbär läuft eine Treppe hoch in der Begegnungsstätte des Vereins in Berlin Zehlendorf
Berliner Waschbär: In Lainingers Haus in Zehlendorf läuft ein neugieriger Mitbewohner in den ersten Stock
© VICTOR HEEKEREN

Viele Bürgerinnen und Bürger wirken angesichts des Bären ratlos. "Es ist nicht so, dass Wildtiere in die Stadt kommen, weil es im Wald nichts mehr zu fressen gibt, sondern weil wir es ihnen dort so gemütlich machen", sagt Michler. Der Waschbär frisst fast alles: Insektenlarven, kleinere Tiere, Nüsse, Obst, Essensreste. In Gärten und Lauben findet er reichlich Nahrung. Menschen streuen Futter für Vögel oder Eichhörnchen aus – und den Waschbären freut's. "Was fehlt, ist eine breit angelegte Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärung über das Verhalten des Waschbären", sagt Michler.

Schätzungsweise 1,3 Millionen Exemplare leben in Deutschland. Pro Jahr erlegen Jäger rund 200.000 von ihnen, irgendwann wird sich die Population einpendeln. Ein Metzger in Sachsen-Anhalt kam auf die Idee, die in der Umgebung erlegten Räuber zu Würsten oder Buletten zu verarbeiten. So wird er Teil der Nahrungskette. Auf Berliner Stadtgebiet dürfen Jäger nur in begründeten Ausnahmefällen aktiv werden; die Stadt ist ein sogenannter befriedeter Bezirk. Knapp 300 Waschbären wurden in der Jagdsaison 2023/24 erlegt. Ohnehin würde die Bejagung den Bestand der Tiere nicht wesentlich beeinflussen, sagt Michler: "Die freien Stellen im Ökosystem werden langfristig wieder mit neuen Waschbären aufgefüllt."

ein junger verletzter Waschbär mit geöffnetem Maul wird medizinisch versorgt
Saubär: Tierärztin Laininger reinigt einem geretteten Waschbären die Augen
© VICTOR HEEKEREN

Tierärztin Mathilde Laininger hat einen anderen Plan. Sie möchte herausfinden, ob sich die Population in Berlin durch Unfruchtbarkeit begrenzen lässt. Ab Herbst will sie auf zwei Arealen, die jeweils einen Quadratkilometer groß sind, Waschbären fangen, messen, wiegen, auf Krankheiten untersuchen und wieder aussetzen – im Rahmen dieses Projekts ist das Wiederfreilassen erlaubt. In einem der beiden Gebiete werden die Tiere zusätzlich sterilisiert oder kastriert; die dortige Population soll so verringert werden. "Das könnte eine zusätzliche Maßnahme sein, bei der die Tiere nicht getötet werden", so bewertet Berit Michler das Vorhaben.

Eine Rettungsstation für geborgene Waschbären

Drei Jahre soll das Forschungsprojekt dauern; dafür musste Mathilde Laininger den Jagd- und Fallenschein machen. 50 hölzerne Fallen, je etwa einen Meter lang, lagern in der Scheune ihres Hofs, eines ehemaligen Bauernhauses in der Nähe von Treuenbrietzen in Brandenburg. Die Fallen sind so gebaut, dass nur Waschbären den Schließmechanismus mit den Pfoten auslösen können.

Lebenshof des Vereins in Marzahn mit Waschbärmobil vor der Außenvoliere
Mit dem Transporter kommen die Tierbabys zur Rettungsstation in Brandenburg
© VICTOR HEEKEREN

Vor einigen Monaten hat die Tierärztin den Hof zu einer Rettungsstation für geborgene Waschbären umgebaut. In einem großen stählernen Käfig und dem angrenzenden Stall laufen 17 Tiere herum. Laininger will das Gehege deutlich erweitern, um noch mehr Exemplaren eine Heimat zu geben, denn freilassen darf sie die geretteten Bären nicht. Die Kosten für die Unterbringung zahlt sie größtenteils aus eigener Tasche, einen Teil deckt der Verein über Mitgliedsbeiträge und Tierpatenschaften.

In der Futterküche des Hofs zeigt Laininger, was die Tiere alles vertilgen: Dort stehen Kisten mit Obst, Eimer mit getrockneten Mehlwürmern und Nüssen. Der Boden im Stall ist mit Stroh bedeckt. Das bezieht die Tierärztin von einem weiter entfernten Lieferanten. Denn den Landwirten aus dem Dorf bleiben die Neuankömmlinge aus Berlin suspekt. Daran änderte auch das Hoffest nichts, das die Tierärztin kürzlich veranstaltete. Seit Mathilde Laininger und ihre Kolonie hier sind, soll es plötzlich mehr Waschbären in der Umgebung geben als jemals zuvor – so munkelt man im Ort.

Erschienen in stern 26/2024

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