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Charkiw-Offensive: Ukraine kann Russen bislang nicht stoppen | STERN.de
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Krieg in der Ukraine Russlands Charkiw-Offensive geht weiter – und die Ukraine kann wenig dagegen tun

Ein brennender Panzer nahe Charkiw
An der Charkiw-Front bei Lypzy brennt ein ukrainischer Panzer aus
© Telegram
Vor einigen Tagen haben die Russen eine Offensive auf Charkiw gestartet. Bislang konnten die Ukrainer sie nicht aufhalten. Ihnen fehlen schwere Waffen, zudem sollen Befestigungen der Korruption zum Opfer gefallen sein.

Vergangenen Freitag haben die Russen eine neue heiße Front nördlich von Charkiw eröffnet. Und sie haben dort rasche Erfolge erzielt, zumindest wenn man das Schildkröten-Tempo der bisherigen Operationen im Ukraine-Krieg als Maßstab nimmt.

Und bis heute ist es der Ukraine nicht gelungen, den Vormarsch zu stoppen. Die Russen haben eine Reihe von Dörfern erobert und stehen bei einer Angriffsachse vor Lypzy. Im nördlichen Teil des sehr ausgedehnten Ortes soll bereits gekämpft werden.

Angriff auf die Stadt Woltschansk 

Bei dem zweiten Einbruch sind sie in die Stadt Woltschansk eingedrungen. Dort halten sie etwa 30 Prozent der Fläche besetzt. Und es kommt zu schweren Kämpfen, die vermutlich auch noch andauern werden. Im Raum Woltschansk haben die Ukrainer Verstärkungen von Teilen kampfkräftiger Brigaden herangebracht, die in der Masse allerdings wohl noch nicht eingetroffen sind. In Woltschansk kann es zu einem langen und blutigen Abwehrkampf kommen. Lypzy dürfte viel schwerer zu verteidigen sein, da die Russen die Höhen nördlich des Dorfes beherrschen. Es ist eine flächige Ansiedlung aus Datschen und kleinen Häusern, nur wenige größere Gebäude bieten den Verteidigern halt. Von Lypzy sind es etwa 17 Kilometer bis zur Stadtgrenze von Charkiw.

Woltschansk ist immerhin eine Stadt mit 19.000 Einwohnern. Sie wird von einem Fluss geteilt, was die Verteidigung des südlichen Teils erleichtert. Hier besteht allerdings die Gefahr, dass die Ukrainer die Flanken der Stadt nicht halten können und fürchten müssen, eingeschlossen zu werden. In den nächsten Tagen ist damit zu rechnen, dass die Russen in dem Raum zwischen ihren Brückenköpfen vorrücken werden.

Keine Eroberung von Charkiw  

Der Angriff nördlich von Charkiw dient mehreren Zwecken. Zuerst wollen die Russen eine Schutzzone besetzen, die es für die Ukraine unmöglich macht, die russische Stadt Belgorod weiterhin mit Artillerie zu beschießen. Diese Verschiebung der Front würde dazu führen, dass Charkiw umgekehrt in den Bereich der russischen Rohrartillerie und Salvengeschütze kommt. Dann werden die Russen versuchen, die Ukrainer weiter zu schwächen, indem sie diese zum Kampf in einem ungünstigen Gebiet zwingen. 

Die ganze Zone ist bei weitem nicht so befestigt wie der Donbass, dieser Mangel verstärkt die russische Überlegenheit bei Artillerie und in der Luft. Und dazu kommt ein strategisches Ziel: Die Russen zwingen die Ukrainer, ihre letzten Reserven einzusetzen und sogar Kräfte aus dem Donbass abzuziehen. Als Nebeneffekt werden sie versuchen, die heraneilenden Truppen bereits auf dem Marsch zu bekämpfen. Der Osten und nicht etwa Charkiw ist nach wie vor die Hauptstoßrichtung der Russen: Auch wenn sie das Gros ihrer Truppen noch nicht in den Kampf geschickt haben, reichen ihre Kräfte in dem Raum bei weitem nicht aus, die Großstadt Charkiw zu erobern.

Das ganze Gebiet zwischen Charkiw und Kupjansk im Osten ist von Flüssen durchzogen, hier zerstören die Russen systematisch die ukrainischen Brücken, um den Nachschub und Truppenbewegungen zu verhindern. Noch ist es den Ukrainern nicht gelungen, die Russen zu stoppen, aber es ist anzunehmen, dass ihnen zumindest Woltschansk nicht allzu rasch in die Hände fällt.

Entlassungen in Charkiw 

Der bisherige Erfolg der Russen wirft mehrere Fragen auf. Richtig ist, dass sie im ersten Schwung vor der ersten ukrainischen Verteidigungslinie operierten. Nur sollte das kein offenes Feld sein, sondern eine Vorpostenzone. Zur Erinnerung: In der ganzen Sommeroffensive sind die ukrainischen Truppen nur an zwei Stellen in die erste russische Verteidigungslinie eingebrochen und ansonsten im Vorpostenfeld stecken geblieben.

Obwohl der Angriff seit Jahren erwartet wurde, sind die Befestigungen ungenügend und schlecht ausgeführt. In der Ukraine wird offen von Korruption gesprochen. Einheiten und Anlagen sollen nur auf dem Papier existieren. Videoaufnahmen entsetzter Soldaten zeigen taktisch falsch angelegte Grabensysteme. Anstatt die Anlagen mühsam in den Baumreihen anzulegen, wurden die Gräben billig mit Maschinen auf dem offenen Feld ausgehoben. Teils sind die Gräben nur hüfthoch und ungenügend armiert, die Unterstände notdürftig abgedeckt und einfach von oben zu erkennen. Auf jeden Fall sind die ukrainischen Anlagen nicht mit dem gestaffelten russischen Stellungssystem der Surowikin-Linien zu vergleichen. Es ist zu befürchten, dass auch die folgenden Verteidigungslinien nördlich von Charkiw ähnlich nachlässig angelegt sind. Ohne ausgeklügelte Stellungen, die sich gegenseitig Deckung geben, ohne Minenfelder und tiefe Bunker ist ein zäher Widerstand wie im Donbass nicht möglich.

Die Hoffnung der Ukraine beruht darauf, dass die herangeführten Brigaden die Situation stabilisieren. An eine Bereinigung, also ein Zurückdrängen der Russen, ist derzeit nicht zu denken. Mit General Mykhailo Drapaty wurde ein erfahrener und energischer Kommandeur für die Region ernannt. Unklar ist, ob der Mix der ukrainischen Einheiten, die teils den regulären Streitkräften unterstehen und teils dem Geheimdienst, die Operationen behindert.

Die ukrainische Vereidigung stützt sich auf die kleinen FPV-Drohnen, mit denen die Ukrainer auch Erfolge verzeichnen. Dennoch darf man sich von den Treffer-Videos nicht in Sicherheit wiegen lassen. Die Russen selbst setzten auch FPV-Drohnen ein und scheinen den ganzen Raum bis Charkiw mit Überwachungsdrohnen abzudecken. Dazu haben sie Fernwaffen und Artillerie jeder Art.

Putins Ziel bleibt der Donbass 

Bislang konnte die Ukraine die Russen nicht stoppen, sie werden fortfahren, ihre "Pufferzone" zu verbreitern. Ziel wird es sein, auch über Lypzy hinaus die Front näher an Charkiw heranzuführen. Damit nicht genug: Es gibt Gerüchte, Kiew würde Dörfer in der Region Sumi räumen – das liegt auch im Norden, aber etwas weiter westlich. Für eine großangelegte Offensive sollten den Russen tatsächlich die Soldaten fehlen, aber schon eine begrenzte Operation würde die Ukrainer unter Druck setzen.

Die Russen machen Druck, sie wollen die ukrainischen Truppen dezimieren, bevor die westlichen Waffenpakete im Juni das Land erreichen oder Nato-Staaten Truppen in das Land entsenden. Putin dürfte auch darauf setzen, dass weitere russische Erfolge die Bevölkerung in der Ukraine und die westlichen Unterstützer entmutigen. Den stärksten Druck werden die Russen weiter im Donbass aufbauen, hier wird sich zeigen, ob die Verlagerung von Truppen die Ukrainer so schwächt, dass die Russen bei Taschasi Yar und Krasnogorowka entscheidend vorankommen.

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