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AfD-Urteil: Der echte Verfassungsschutz ist keine Behörde | STERN.de
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AfD-Urteil Der Verfassungsschutz sind wir alle

Anti-Rechtsextremismus-Demonstration in Berlin (Symbolbild Kommentar AfD-Urteil)
Demonstration am 5. Mai in Berlin nach dem offensichtlich rechtsextremistisch motivierten Angriff auf den SPD-Politiker Matthias Ecke in Dresden. 
© Clemens Bilan
Nach dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster darf der Verfassungsschutz die AfD weiter überwachen. Doch gewonnen ist damit wenig – im Gegenteil. 

Ist die AfD eine Partei, die in immer größeren Teilen immer extremistischer agiert? Ist es ihr Ziel, die demokratischen Institutionen verächtlich zu machen? Und wollen nicht viele ihrer Mitglieder die von ihnen als "System" diffamierte liberale Demokratie überwinden?

Ja, ja und ja. 

Diese Antworten kann jeder geben, der sich für die AfD interessiert, der ihre Parteitage oder Kundgebungen besucht, der in ihre Telegram-Kanäle oder Facebook-Gruppen reinschaut. Oder, wie es das Oberverwaltungsgericht Münster formuliert: Es existieren in der Partei "hinreichend tatsächliche Anhaltspunkte" für verfassungsfeindliche Bestrebungen.

Alice Weidel und Tino Chrupalla äußern sich zum Urteil zur Einstufung der AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall
Alice Weidel und Tino Chrupalla äußern sich zum Urteil des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts (OVG) zur Einstufung der AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall
© Bernd von Jutrczenka / DPA

Der AfD muss nicht die Maske vom Gesicht gerissen werden. Sie hat es längst selbst getan. 

Zumal: Es gibt Bürgerinnen und Bürger, die genau hinsehen und sich engagieren. Es gibt Journalistinnen und Journalisten, die intensiv recherchieren und ausführlich informieren. Und es gibt den Staatsschutz und die Justiz, die einschreiten, wenn Recht gebrochen wird.

Das Amt, das Neonazis bezahlte

Doch nein, das soll nicht reichen. Vielmehr soll der Verfassungsschutz als nachgeordnete Behörde der Innenministerien in Bund und Ländern alles viel besser können und wissen. Und deshalb ist es auch gut, klar, dass sie nach dem Urteil in Münster die Bundespartei AfD weiter als sogenannten Verdachtsfall behandeln darf. 

Oder?

Der Verfassungsschutz ist das Amt, das einst frühere SS-Obersturmbannführer beschäftigte und bis in die 1970er Jahre einen Präsidenten hatte, der schon 1933 der SA beigetreten war.

Es ist das Amt, das Neonazis für Spitzeldienste bezahlte, die rechtsextremistische Szene indirekt finanzierte und im Ergebnis die Verantwortung dafür trug, dass das erste Verbotsverfahren gegen eine offen verfassungsfeindlich auftretende NPD scheiterte. 

Es ist das Amt, das keinerlei Ahnung davon hatte (oder haben wollte), dass es der selbsternannte Nationalsozialistische Untergrund war, der sich quer durch Deutschland mordete und bombte, obwohl die Rechtsterroristen geradezu von V-Leuten umstellt waren.

Der Ex-Präsident, der mit der AfD kuschelt

Und es ist schließlich auch das Amt, das bis vor gut fünf Jahren im Bund von Hans-Georg Maaßen geführt wurde. Der Mann steht jetzt an der Spitze einer rechtspopulistischen Partei, die ausdrücklich auch mit der AfD kooperieren will und deshalb, welch traurige Ironie, ins Visier seines früheren Arbeitgebers geraten ist. 

Nein, was die AfD will, weiß jeder, der lesen, hören oder sehen kann. Noch einmal kurz zur Erinnerung, was ihr Thüringer Anführer Björn Höcke – der am Dienstag in Halle sein Urteil erwartet, weil er eine SA-Parole rief – in seinem Buch schrieb: "In der erhofften Wendephase stünden uns harte Zeiten bevor, denn umso länger ein Patient die drängende Operation verweigert, desto härter werden zwangsläufig die erforderlichen Schnitte werden." 

Und weiter: Eine neue politische Führung sei den "Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet und muss aller Voraussicht nach Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwiderlaufen".

Damit ist auch die Frage, was die Höckes tun würden, wenn sie an die Macht gelangten, eindeutig beantwortet.

Der Thüringer AfD-Landeschef auf dem Weg in den Verhandlungssaal im Justizzentrum Halle. Er ist angeklagt, weil er bewusst eine SA-Parole skandiert haben soll. 
Der Thüringer AfD-Landeschef auf dem Weg in den Verhandlungssaal im Justizzentrum Halle. Er ist angeklagt, weil er bewusst eine SA-Parole skandiert haben soll. 
© Hendrik Schmidt / Reuters

Doch zurück zum Urteil in Münster. Der Verfassungsschutz darf also die AfD als Verdachtsfall einstufen und damit weiter einen größeren Teil seiner Instrumente zu ihrer Beobachtung einsetzen. Dank dieser Kontrolle möchte das Amt die Partei auf einen verfassungstreuen Kurs nötigen – oder eben Material für ein mögliches Verbot sammeln.

Soweit die Theorie. Doch die Praxis sieht anders aus. Denn so unangenehm den restbürgerlichen Teilen der Partei der Verfassungsschutz auch sein mag: Die nachrichtendienstliche Überwachung stärkt die demagogische Zersetzungserzählung der AfD, die sich als Opfer eines übergriffigen und zunehmende diktatorischen Staates stilisiert. Und sie dient der Mobilisierung in den Wahlkämpfen insbesondere in Ostdeutschland. Für den Kern der AfD-Anhängerschaft ist die Einstufung durch den Verfassungsschutz inzwischen eine Gütesiegel für die rechte Gesinnung. 

Ansonsten gilt: Abgesehen von einem möglichen Verbotsverfahren, das sich über Jahre hinzöge und ergebnisoffenen wäre, ist mit der Expertise des Verfassungsschutzes herzlich wenig anzufangen. Das zeigt sich gerade wieder in Thüringen, wo einst der Verfassungsschutz den Neonazi Tino Brandt mit einer sechsstelligen Summe förderte und vor Strafverfolgung schützte.

Wann die Demokratie wehrhaft ist

Doch ausgerechnet das Erfurter Landesamt war es, das zuerst einen Landesverband der AfD als "erwiesen rechtsextrem" und damit als Beobachtungsfall einstufte. Das heißt, die Behörde kann seit März 2021 die Höcke-Landespartei vollständig überwachen.

Drei Jahre geht das nun schon. Doch immer noch sitzen Polizeibeamte, die der AfD angehören, im Thüringer Landtag und halten große Reden. Und immer noch dürfen AfD-Mitglieder trotz eines gegenteiligen Erlasses des Innenministeriums Waffen besitzen.

All dies belegt: Diese Demokratie wird nicht durch einen Nachrichtendienst verteidigt. Sie wird verteidigt in den Parlamenten und Regierungen, auf der Straße und in den Vereinen oder in den Schulen und Universitäten. Und sie wehrt sich mit den Mitteln des Rechts. 

Am Ende ist der Verfassungsschutz keine klandestine Behörde, hinter der sich im Zweifel verstecken lässt. 

Der Verfassungsschutz sind wir alle.

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