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Petra Pleschinger schrieb uns am 04.06.2024
Thema: Manfred Orlick: Auf den Spuren von Heinrich von Kleist in Berlin
Milena Rolka widmet sich in dem neuen Heft 74 der „Frankfurter Buntbücher“ den Berlin-Aufenthalten des Dichters

Ist das eine Rezension?
Ich bitte um Entschuldigung für diese, meine simple Frage.
Petra Pleschinger

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Christian Kohlross schrieb uns am 15.05.2024
Thema: Jan Süselbeck: Der dröhnende Klang der Abrissbirne
Über die globale Krise der Germanistik und die Frage, was das Fach in Deutschland von den German Studies in Nordamerika lernen könnte

Totgesagte leben länger – Eine Replik auf Jan Süselbeck

Die Germanistik, also die Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur ist ein eigentlich unmögliches Unterfangen. Davon künden hierzulande nicht erst sinkende Studierendenzahlen und im Ausland die grassierende Abwicklung teils etablierter German Departments, nein, davon kündet auch ein Genre, das so nur die Germanistik kennt, nennen wir es die Germanistische Dystopie. Exemplare dieser Gattung sind von Germanisten und Germanistinnen verfasste Texte, Reden, Essays, in denen sie sich fortwährend der Unmöglichkeit des eigenen Tuns bezichtigen. Ins Leben gerufen – erfunden wurde dieses wissenschaftliche Genre im 19. Jahrhundert, als – Stichwort:
Nibelungenstreit – die Auseinandersetzung um eine historisierend esoterische oder eine zeitgemäß-exoterische philologische Praxis die gerade erst im Entstehen begriffene Wissenschaft in einen tiefen, schnell chronifizierten Zweifel am eigenen Tun stürzte. Zu diesem Genre, das gerade angelegentlich germanistischer Großveranstaltungen wie dem Deutschen Germanistinnentag oder der jährlichen Konferenz der German Studies Association in den USA sich wiederkehrender Beliebtheit erfreut, hat nun auch der in Trondheim lehrende Germanist Jan Süselbeck mit gebotener Verve auf literaturkritik.de einen höchst lesenswerten Beitrag geleistet – unter dem dysphemistischen und hierin dem Ernst der Lage durchaus angemessenen Titel Der dröhnende Klang der Abrissbirne. Über die globale Krise der Germanistik und die Frage, was das Fach in Deutschland von den German Studies in Nordamerika lernen könnte. Süselbecks Diagnose: Nicht zu wenig, zu viel Germanistik sei das Problem, zumal im Ausland, wo nicht nur immer weniger Goethe und Celan, sondern überhaupt immer weniger auf Deutsch gelehrt oder auch nur Deutsch gelesen werde – und wenn, dann auch eher immer weniger Goethe oder Celan. Der Abrissbirne, soll heißen der Entlassung der Lehrenden, dem Schließen von Departments, dem zunehmenden Desinteresse der Studentinnen entgegenzuwirken, so Süselbecks Fazit, lasse sich nicht mit einer esoterischen – sagen wir: auf Goethe und Celan setzenden Germanistik, wie sie in Deutschland immer noch praktiziert werde, sondern nur mit einer konsequent exoterischen, kulturwissenschaftlich interdisziplinär ausgerichteten Germanistik, deren Diskurse anschließbar seien an die Race-Class-Gender-Perspektiven anderer Disziplinen, die, wo es darauf ankommt, bereitwillig fröhliche Hochzeiten mit den Jewish Studies feiert, wenn sie sich nicht gar die Freiheit nimmt und kurzerhand zu den Black German Studies mutiert, um so den exoterischen, nicht selten exzentrischen Interessen einer Studentenschaft Rechnung zu tragen, die (wie die Wissenschaftsmanager in Politik und Hochschule) mit den heiligen Texten der traditionellen Germanistik immer weniger anzufangen weiß.
“Die Germanistik ist tot”, so Süselbecks Fazit: “Es lebe die Vielfalt der German Studies.”

Lesenswert und anregend ist Süselbecks Beitrag nun natürlich nicht, weil er zustimmungspflichtig wäre, sondern weil er zum Widerspruch provoziert. Leider! Denn wenn Süselbeck Recht hätte und die Vielfalt der amerikanischen German Studies auch der deutschen Inlandsgermanistik zum Vorbild gereichen würde, dann gäbe es zuletzt so etwas wie einen Ausweg aus der nicht enden wollenden Krise der Germanistik. Die Gattung der germanistischen Dystopie hätte sich endlich überlebt. – Und wie schön wäre das?

Indes, der Umstand, dass auch in den USA die sich zu Geschichtswissenschaften, Soziologie, Politik-, Film- und Medienwissenschaften sowie den Gender Studies öffnenden German Studies vor der in den Humanities wütenden Abrissbirne keineswegs geschützt sind, obwohl gerade in den USA die Öffnung des Faches, die Transformation der Germanistik zur Kulturwissenschaft bereits vor zwanzig Jahren ihren Anfang nahm, lässt, die zahlreichen von Süselbeck selbst namhaften gemachten Institutsschließungen in den USA, Kanada und Großbritannien sprechen da ihre ganz eigene Sprache, nichts Gutes hoffen. Und die Gründe dafür liegen auf der Hand:

(1.) Die Wissenschaft von der deutschen Literatur – und Sprache verdankte lange Zeit einen Gutteil ihrer akademischen Daseinsberechtigung dem Umstand, dass das Deutsche, und sei es auch nur dem eigenen Anspruch nach, neben dem Englischen, Französischen und Spanischen eine Welt-, und wo in den letzten Jahrzehnten schon keine Welt-, so doch noch eine bedeutende Wissenschaftssprache war. Dies aber hat sich, seitdem das Englische alle ehedem an das Esperanto geknüpften Hoffnungen erfüllt und sich als Lingua Franca etabliert hat, grundlegend geändert. In der globalisierten Welt muss einer nicht mehr viele Sprachen beherrschen, es genügt das Englische zu beherrschen, um sich über geographische, kulturelle wie auch wissenschaftlich- disziplinäre Grenzen hinweg verständigen zu können. Wie auf allen anderen Philologien – mit Ausnahme von Anglistik und Amerikanistik – lastet auch auf der Germanistik der Umstand, dass ihr Gegenstand eine Sprache ist, die im Zeitalter der Globalisierung zu beherrschen für Hochschul- abgängerinnenen ein immer entbehrlicherer Wettbewerbsvorteil ist.

(2.) Bislang aber half der Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur dabei noch der, sagen wir: zivilreligiöse Glaube an die Literatur, der auch, wenn er den Ungläubigen immer schon als eine Kunstreligion erschien, der sie mit Unverständnis begegneten, doch die Aura und Anziehungskraft des literarischen Kanons unberührt ließ, dem anders als mit Ehrfurcht zu begegnen sich auch die Ungläubigen nicht leisten konnten .
Genau das aber hat sich geändert! Heute muss keiner, der Goethe nie gelesen hat und Celan nicht kennt, ernsthafte Einbußen des Sozialprestiges mehr befürchten, nicht einmal unter Germanistinnen. Und niemand, der German Studies im Ausland studiert hat, muss in der Lage sein, Kant, Marx oder Freud auf Deutsch zu lesen oder auch nur in seine Muttersprache übersetzen zu können. Wie das Latein Ovids oder das klassische Griechisch des Sophokles verwandelt sich auch das Deutsch Goethes oder Celans jenseits des akademischen Betriebs folgerichtig in eine tote Sprache, die nur den Wenigsten noch geläufig ist. Wie die Klassiker der antiken, so rücken auch die Klassiker der neueren deutschen Literatur allmählich in eine Ferne, die nur die Wenigsten  zu  überbrücken  noch  in  der  Lage  oder  auch  nur  willens  sind.  Diesen Unwillen mag man beklagen und einer nachwachsenden Generation als opportune Anpassungsleistung an einen pragmatisierten, durchökonomisierten und profanisierten Zeitgeist zur Last legen, indes, der Verdacht liegt nahe, dass die Jüngeren von der Vergangenheit nun nicht einmal mehr erwarten, was die Älteren in ihr nicht gefunden haben: ein auch heute noch belastbares Wissen, eine Weisheit, die den Wandel  der Zeiten  überdauert.  Diesen Verdacht gegenüber dem historischen Bewusstsein, das sich einst im 19. Jahrhundert mit dem Versprechen Gehör und Geltung verschaffte, die Gegenwart mit Hilfe des Vergangenen zu verstehen, sei es den Millenials, der Generation Z oder den Universitätsmanagerinnen und Bildungspolitikern unserer Tage als Ignoranz und Opportunismus vorzuhalten ist, um das Mindeste zu sagen, selbstgerecht und unhistorisch. Man will nur nicht wahrhaben, dass das historische Bewusstsein selbst in die Jahre gekommen ist und einem grundstürzenden Wandel unterliegt. Begriffe wie kollektives Gedächtnis oder Erinnerungskultur sind eben schon nicht mehr die Leitbegriffe einer Zeit, der die Zukunft mehr zählt als die Vergangenheit und die nicht mehr Gegenwärtiges vorrangig an dem bemisst, was es einmal war, sondern an dem, was es seiner Möglichkeit nach in der Zukunft sein könnte. Aber nicht nur das Gegenwärtige, auch das in der Erinnerungskultur Erinnerte – das Vergangene wird heute nicht als Vergangenes, um seiner selbst willen, sondern als Vorbote eines Zukünftigen, wenn nicht gar als etwas, aus dem für die Zukunft Lehren zu ziehen seien, genommen. Der Verlust der Strahlkraft des literarischen Kanons, die Auflösung seiner Aura ist so nahezu unausweichlich – die Folge der Veränderung des historischen Bewusstseins, die eine zu weiten Teilen historische Wissenschaft, wie es die Germanistik ist, wie selbstverständlich in Mitleidenschaft ziehen muss.
Die Krise der Germanistik, heißt das, ist heute immer auch Symptom und Folge einer anderen Krise – der des historischen Bewusstseins. Dessen Aufgabe war es einmal, Gegegenwärtiges durch den Blick auf Vergangenes zu relativieren. Doch um Gegenwärtiges zu relativieren ist die historische Perspektive heute ebenso entbehrlich geworden wie der literarische Kanon; an deren Stelle halten nun Internet und soziale Medien eine schier endlose Vielheit von Perspektiven verfügbar und beschränken eben dadurch die Geltung einer jeden einzelnen von ihnen.
(3.) Das Gegenwärtige wie eben auch das Vergangene im Lichte eines zukünftig Möglichen zu sehen heißt dabei heute bekanntlich vor allem, es im Horizont von Machbarkeit und Nützlichkeit zu sehen. Und auch hier stößt das Interesse an einer Literatur, die gerade nicht nützlich, sondern, wo nicht “Sand ... im Getriebe der Welt” (G. Eich), so doch entschieden eigensinnig sein und ihren eigenen Sinn setzen und verfolgen möchte, schnell an seine Grenzen. Fragen wie >Was sagt Celan zum Klimawandel? < oder >Thematisiert Goethe im Faust nicht bereits Globalisierung und künstliche Intelligenz?< lassen sich zwar stellen, aber wesentlich Neues zu Klimawandel, Globalisierung und künstlicher Intelligenz sollte man sich dabei lieber nicht erwarten. Wie auch? Um solches Sachwissen war und ist es der Literatur kaum je zu tun. Erkenntnis – ohne Interesse aber war für das in Bildungs- und Forschungsstätten institutionalisierte historische Bewusstsein niemals eine wirkliche Option. Erkenntnis musste und sollte stets Sinn machen, das heißt Zwecken dienen, die sich über Funktionszusammenhänge legitimieren ließen. Ein Wissen, das dies nicht erlaubte, wurde schnell und ist heute längst obsolet. Das Vergangene um des Vergangenen willen zu studieren, das Zweckmäßige von Zwecken zu befreien, wem käme das heute noch in den Sinn? In einer Zeit der Krisen, der beständigen Bedrohung scheint das Sich-Versenken in ein Vergangenes wie ein Luxus, den sich niemand mehr zu leisten wagt.
Um diese Frage nach dem Nutzen der Beschäftigung mit deutscher Literatur und Sprache gerade nicht stellen zu müssen, kann man ihr, sekundiert vom allenfalls noch oberflächlichen Interesse einer breiten Mehrheit an esoterischer Höhenkammliteratur ausweichen und, wie das die German Studies in den USA tun, immer mehr Gegenstände mit teils nur noch vagem Bezug zu deutscher Literatur und Sprache zum Gegenstand von Forschung und Lehre machen. Dass dieses, nennen wir es: auslandsgermanistische oder amerikanische Modell der German Studies gerade kein Vorbild einer deutschen Inlandsgermanistik sein kann, hängt zuerst damit zusammen, dass es keines der genannten Probleme – Marginalisierung des Deutschen als Weltsprache, Relevanzverlust des Kanons als Symptom der Krise des historischen Bewusstseins sowie die Irrelevanz philologischen Wissens  im Funktions- und Kommunikationszusammenhang kapitalistisch effizienzorientierter Gesellschaften – zu lösen vermag. Sodann aber taugt die Integration immer weiterer Disziplinen und Forschungsgegenstände der Inlandsgermanistik hierzulande auch deshalb nicht zum Vorbild, weil etwa deutsche Geschichte, Kunst, Philosophie und Sozialwissenschaften an deutschen Hochschulen schlicht unter andere, nicht-germanistische Zuständigkeiten fallen und z.B. von Historikern, Kunsthistorikerinnen, Philosophen oder Soziologinnen beforscht und unterrichtet werden. Es ist die institutionell bedingte Spezialisierung, die fachliche Zuständigkeit, die hier ein Unterschied ist, der einen Unterschied macht. Natürlich lassen sich gleichwohl auch an deutschen Hochschulen Forschungsgegenstände finden, die – wie im Falle von Antisemitismus, Kolonialisierung oder Genderfragestellungen – wie natürlich in den Zuständigkeitsbereich mehrerer Wissenschaften fallen – nur sind sie gerade deshalb auch keine Gegenstände, an denen die Germanistik ihr Profil schärfen könnte. Ihre philologische Perspektive bleibt im interdisziplinären Zusammenhang nur eine unter mehreren, prinzipiell gleichberechtigten Perspektiven und gerade keine ausgezeichnete.

(4.) Die Inlandsgermanistik hat aus all diesen Gründen hierzulande auch nicht an der Universität, sondern an der Schule ihren pragmatisch-institutionellen Halt. Der Beruf, den Germanistinnen typischerweise ergreifen und für den sie an den Universitäten ausgebildet werden, ist derjenige der Deutschlehrerin.
Doch unterliegt auch das Fach Deutsch an Schulen in Deutschland seit der ersten Pisastudie vor rund zwanzig Jahren einem grundlegenden Wandel. Nicht mehr die Vermittlung von Wissen über die klassischen Gegenstände der Germanistik: deutsche Literatur und Sprache stehen seither im Zentrum des Deutschunterrichts, sondern der handelnde, produktions- und projektorientierte Umgang – das Schreiben, Umschreiben und Inszenieren von Texten – kurz, die Vermittlung von Lese-, Schreib- und Redekompetenzen.
Pragmatisiert und legitimiert sich also die amerikanische Germanistik durch die Öffnung und Ausweitung ihres Gegenstandsbereichs, in der Hoffnung an andere Diskurse anschließbar zu sein, sucht die Inlandsgermanistik ihre Daseinsberechtigung in ihrer Didaktisierung – darin, dass sie zum Propädeutikum eines Deutschunterrichts wird, in dem das Wissen um Deutsche
(Höhenkamm-)Literatur und das Wissen um die deutsche Sprache und ihre Geschichte nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Man kann diese Entwicklung unterschiedlich bewerten, doch dabei kaum noch einer sich mit ihr aufdrängenden Frage ausweichen, nämlich der, ob wirklich Germanistik studiert haben muss, wer in der in Primar- oder Sekundarstufe Deutsch unterrichtet – und nicht ebenso gut, sagen wir: Vergleichende Literatur- oder Allgemeine Sprachwissenschaft, Medienwissenschaften, Publizistik, Theaterwissenschaften oder Altphilologie studiert haben könnte. Schließlich geht es ja nicht mehr, wie im Horizont der Nationalphilologie, um die Vermittlung eines spezifischen gemeinschaftsbildenden literaturhistorischen oder linguistischen Wissens, sondern um die Vermittlung von Lese-, Schreib- und Diskurskompetenzen an eine zunehmend multilinguale Schülerschaft, deren Muttersprache vielfach schon gar nicht mehr das Deutsche ist. Hier kündigt sich eine Entwicklung an, die die Natur- und Technikwissenschaften längst erreicht hat: Der traditionelle Schulfächerkanon spiegelt die disziplinäre Struktur des Wissenschaftssystems des 19. Jahrhunderts in Zuschnitt und Aufteilung seiner Fächer noch heute wieder; an deutschen Gymnasien des 21. Jahrhunderts wird unterrichtet, was sich an Universitäten des 19. Jahrhunderts als Disziplin etablieren konnte. Innerhalb des naturwissenschaftlich- technischen Fachbereichs hat man sich daher längst gefragt: Wie zeitgemäß ist das noch? – Und in der Konsequenz damit begonnen, mathematisch, naturwissenschaftliche und technische Lehrinhalte im Fachbereich MINT zusammenzufassen. Sobald auch der Deutschunterricht von dieser Entwicklung erfasst wird, wird Deutsch zusammen mit anderen philologischen, geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern zusammen unterrichtet werden – vielleicht unter dem Label: Humanities. Spätestens dann, so steht zu vermuten, wird das Fach Deutsch seine Sonderstellung auch an deutschen Schulen verlieren – und mit ihm auch die Inlandsgermanistik ihre besondere Daseinsberechtigung an Universitäten hierzulande.

Machen wir uns deshalb nichts vor: das Schicksal der Germanistik als Orchideenwissenschaft ist längst besiegelt. So sinnlos es ist, gegen das Schwinden der Anziehungskraft des literarischen Kanons oder die Marginalisierung des Deutschen aufzubegehren, so vergeblich ist es, dem historischen Augenblick, in dem die Germanistik Massenfach war, nachzutrauern. Sie wird in nicht allzu ferner Zukunft auch im Inland mit Orchideenfächern wie der Niederlandistik, Biophysik, Judaistik oder Ägyptologie konkurrieren. Doch muss das ein Nachteil sein? Nicht, wenn man endlich aufhört, die Relevanz eines Faches an der Zahl seiner Studierenden zu messen. – Aber woran sonst sollte man sie messen, die Relevanz eines Faches? Nun, ein Orchideenfach wie die Ägyptologie, das Werk des jüngst verstorbenen Ägyptologen Jan Assman mag auch der Germanistik zum Vorbild gereichen – nämlich dafür, was es heißt, mit einem Mal Stichwortgeber gesellschaftlicher Debatten zu sein und aus einer eher randständigen Wissenschaft heraus Leitbegriffe und Paradigmen (wie kollektives Gedächtnis, Erinnerungskultur, Mono- versus Polytheismus) zu entwickeln, die sich andere Fachgebiete zu eigen machen, um nunmehr ihre eigenen Forschung daran zu überprüfen. Wichtig dabei ist: Assmans Öffnung der Ägyptologie geschah nicht auf Kosten des ägyptologischen Kerngeschäfts. Seine Ausgrabungen in Theben, seine Arbeiten zur altägyptischen Hymnik, zu Zeit und Ewigkeit im alten Ägypten sind bis heute nicht massentauglich – aber sie bilden die Voraussetzung für die Breitenwirkung, die er mit seiner Arbeit entfalten konnte. Es ist gerade die Versenkung ins Besondere, die Verallgemeinerung erlaubt.

Und so bleibt am Ende, da wir gerade erleben, wie aus dem Massenfach Germanistik ein Orchideenfach wird, nicht weniger als der feste Glaube daran, dass – Totgesagte leben länger – auch der Germanistik gelingen kann, was bisweilen Orchideenfächern gelingt, nämlich die Erneuerung des Faches aus diesem selbst heraus und so in der Zukunft die wegweisenden germanistischen Arbeiten aus der Versenkung in die Geschichte der deutschen Literatur und Sprache hervorgehen werden – und also nicht die Germanistik am Ende ist, sondern nur das Genre, das ihr Ende immerzu herbeiredet.

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Günther M. Doliwa schrieb uns am 08.05.2024
Thema: Redaktion literaturkritik.de: Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant: Hinweise auch aus dem Archiv von literaturkritik.de

Eine längere Ergänzung zu den Hinweisen der Redaktion literaturkritik.de zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant

KANT, IMMANUEL (1724-1804) - Verliebt in Metaphysik
© Essay von Günther M. Doliwa, 5. Mai 2024

Was kann ich wissen?
Ich bin gespannt auf Kant. War er nun ein Pedant? Er war pünktlich, gewissenhaft. Ein Uhrwerk. Um fünf Uhr lässt er sich aufwecken; um zehn Uhr abends geht er schlafen. Zum Frühstück zwei Tassen Tee und eine Tabakspfeife. Weil er wähnt, Licht würde die Wanzen vermehren, lässt er die Fensterläden schließen. Er besteht auf seine „vom Verhängnis zugemessene Portion Schlaf“. Sein Diener heißt nicht zufällig
Lampe. Weil ihn ein Hahn vom Nachbarn stört, wechselt er die Wohnung; kaum umgezogen, nervt ihn das Absingen geistlicher Lieder im Gefängnis nebenan. Zufriedenheit ist unerreichbar! Rätselhaft ironisch seine Physiognomie: klein und dürr mit großer Seele. Verkrümmt mit aufrechtem Gang, zwanghaft hypochondrisch, doch gesellig, leise herzlich im Humor. „Allein zu essen ist für einen philosophierenden Gelehrten ungesund.“ Er schraubt sein Hirn in lichte Höhen, lässt sich nicht hinhalten durch „Missverstand“. Mit der Kritik, wie ist überhaupt Erkenntnis möglich, setzt der 57-Jährige 1781 einen Meilenstein der Philosophie; später (1788), wie Entscheidung, danach (1790) wie ein ästhetisches Urteil möglich ist.  Nach Kopernikus ereignet sich die Kant‘sche Wende in der Philosophie. Es geht radikal um menschliche transzendentale Kräfte oder Vermögen, nicht um Transzendenz. Eine Absage ans Übersinnliche. Kant denkt radikal vom endlichen Subjekt aus. Ohne Mut, sich seines Verstandes zu bedienen, klart nichts auf. Notwendig zur Erkenntnis sind allgemeine Begriffe, Kategorien, aus denen Urteile abgeleitet werden: Quantität, Qualität, Relation, Modalität. Sinnliche Phänomene unterliegen den Formen von Raum und Zeit. Dogmatismus ist für ihn „wurmstichig“ und „despotisch“. Er rehabilitiert die Königin aller Wissenschaften. Vernunft wird durch Fragen „belästigt“. Vernunft gebiert Ideen - ihr Schlaf schlimmstenfalls „Ungeheuer“ (Goya, Capricho 43, 1799). Unvermeidlich aufgegeben sind die Großthemen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Nicht aufzugeben, weil die Mittel beschränkt sind, trotz dem „ewigen Zirkel von Zweideutigkeiten und Widersprüchen“. Kants Sätze sind mehrstöckig, arbeitsteilig, ausgewuchtet mit Nebensatzerläuterungen. Jedes Detail vervollständigt das Endprodukt. Er ist im Differenzieren Welt-Meister. Seine Sprache ist ein wundersam geflochtener Teppich. Wir begreifen selbst die Unbegreiflichkeit. „Verliebt“ ist er – statt in Frauen - „schicksalshaft in Metaphysik“, sein „Kampfplatz“. Denken ist ihm „ein Nahrungsmittel.“ Die Stirn „ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit“ (Herder). Der Philosoph als Seefahrer. Abenteuer „verflechten“ in endlose Odysseen. Illusionen täuschen. Was uns erscheint, ist nicht das wahre Ding. Erfahrung tappt im (Halb-)Dunkel, beschränkt, doch unbedingt „kategorisch“ ist die Maxime des Handelns. So und nicht anders musst du handeln, wenn dir (noch) ein Gesetz lieb und gut ist. Wir, der Glückseligkeit bedürftig, ihrer würdig, sollen das höchste Gut befördern wollen. Die oberste Ursache der Natur sei gleichzeitig ihr Endzweck, das moralische Gesetz müsse Gott und Unsterblichkeit postulieren (voraus-setzen), da es „nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewalttätig verhalten habe“. Kant führt einen moralischen Beweis: gemäß der praktischen Vernunft sei Gott „Gesetzgeber“, „Regent und Versorger“ und „gerechter Richter“. Die postulierte idealische, allverpflichtende Person, Gott, „muß ein Herzenskündiger sein“. Er, Kant, sei unbesorgt, das moralische Gesetz, das Achtung fordert, einzubüßen; es sei so mit seinem Glauben an Gott „verwebt“, dass der ihm nie „jemals entrissen werden könne“. Was uns versagt oder gewährt wird, stammt aus unerforschlicher Weisheit. Bei aller Anstrengung der Vernunft stößt sie an Grenzen, „da der Weltregierer uns sein Dasein und seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nicht erblicken oder klar beweisen läßt.“

Was soll ich tun?
Das Kind soll spielen, lerne denken, lerne arbeiten, kultiviere die Freiheit. Blicke heiter, freue sich am Guten. Man gönne ihm „Erholungsstunden“. „Sich selbst besser machen, das soll der Mensch.“ Sich „herzenskundig“ entwickeln und entfalten, und zwar „proportionierlich“. Ein moralisches Wesen hat eine Pflicht gegen sich selbst. Kant wird Hauslehrer bei Adelsfamilien auf dem Land. Lehrt fünfzehn Jahre als Privatdozent. Mit 46 Jahren wird er endlich Professor. Er soll für den König „tüchtige Subjekta machen und mit gutem Exempel vorangehen“. Reine Vernunft muss praktisch werden, und als praktische kreativ, ihrer Freiheit gemäß. So seine drei Kritiken. Kant liebt „Dinge nicht, die bloß für das Angaffen gemacht sind.“ Die böse „Kunst zu scheinen“ sollte man „beseufzen“. Schöne Kunst dagegen, geschliffen, verfeinert, „bietet die Kräfte der Seele auf, steigert und stählt“ sie, um zu bewältigen, was sie heimsucht, seien es Übel oder eigene Lasterhaftigkeit und Selbstsucht. Das Erhabene trägt den Erhobenen über die lustlosen Tage.
Ein Besucher der Peterskirche etwa spüre das Erhabene. Einbildungskraft resigniert vor der Größe, dem Unfassbaren. Im Vergleich zu einer Idee wiegt Einbildungskraft nichts. Die Natur als (Schreckens-) Macht (Vulkan, Orkan, Ozean) ist in ihrer Dynamik „erhaben“, löst physische Ohnmacht aus, aber tangiert nicht unsere Würde als eigene Erhabenheit. Physische Ohnmacht, Scheitern kann uns unsere Würde nicht rauben, weil diese die Natur übersteigt. In der Gebrochenheit der Existenz erfährt der Mensch sich als Ganzer. „Das Erhabene rührt, das Schöne reizt. Die Nacht ist erhaben, der Tag ist schön. Verstand ist erhaben, Witz ist schön. Kühnheit ist erhaben und groß, List ist klein aber schön. Erhabene Eigenschaften flößen Hochachtung, schöne aber Liebe ein.“ Das Genie „glänzt“ durch exemplarische Originalität, schreibt der Kunst die Regel vor, weiß selbst nicht wie ihm geschieht. Dichtkunst lässt was zum Nachdenken übrig; Tonkunst spricht inniglicher, bewegt „durch lauter Empfindungen ohne Begriffe“. Vermutlich klingt der Kopf wie „eine Trommel“ nur „weil sie leer ist.“ So witzig kann Kant sein. Mit ernsthaften Heiratsanträgen zögert der Denker, bleibt lieber Junggeselle. Er wolle länger „jugendlich“ aussehen. Ob in der Liebe Deutsche und Engländer „derb“ sind, Italiener „grüblerisch“, Spanier „phantastisch“, Franzosen „vernascht“ – entzieht sich meiner Kenntnis. Liebe entzückt phantastisch. Sich gegenseitig genießen hebt alle beide ins Recht. „Ohne Achtung gibt es keine wahre Liebe.“ „Frauenzimmer“ sieht er in Stil und Sitte seiner Zeit, und doch anders. Frauen haben viel teilnehmende Empfindungen, ziehen das Schöne dem Nützlichen vor, verfeinern das männliche Geschlecht, dank feinerem Geschmack. Kant bemerkt neben edler Bescheidenheit ihre geheime „Zauberkraft“. Gewisse hohe Einsichten, Büchergelehrsamkeit, sieht er bei ihnen nicht. „Das schöne Geschlecht hat eben so wohl Verstand als das männliche, nur ist es ein schöner Verstand, der unsrige soll ein tiefer Verstand sein.“ Er hofft ausdrücklich, mit seiner Wahrnehmung nicht zu beleidigen. Die Frau ist „schön und nimmt ein und das ist genug.“ „Ihre Weltweisheit ist nicht Vernünfteln, sondern Empfinden.“ „Man fordere ja nicht Aufopferung und großmütigen Selbstzwang.“ Ihr Anspruch auf Freiheit ist „nicht ohne Grund zur Rechtfertigung.“

Was darf ich hoffen?
Geschichte sei gewoben aus Torheit, Eitelkeit, Bosheit, Zerstörungssucht. „Natur will Zwietracht, Mensch will Eintracht.“ Vernunft ruft nach Republik, die das Volk repräsentiert. Als bürgerliche Werte gelten Freiheit Gleichheit, Selbständigkeit. Krieg auf Bürger-Kosten, „aus bloßer Vergrößerungsbegierde“, samt Verwüstung und verbitternder Schuldenlast, kann das moralische Subjekt nicht wollen. Eis, Nebelbänke, politische Zwecke „lügen neue Länder“. Mensch bringt es nie zum Turm, Wohnhaus genügt, „geräumig und hoch genug zu unseren Geschäften.“ „Aufklärung und Angriffskrieg – das passt nicht zusammen.“ So nimmt Bundeskanzler Scholz im Gedenkjahr 2024 Kant vor Putins dreister Okkupation in Schutz. Ein amoralisches Subjekt (wie Putin) ignoriert vehement das moralische Gesetz, nach dem Angriffskrieg verboten ist; selbst bei der Verteidigung verbieten sich antibürgerliche Mittel wie Spionage, Meuchelmord, Giftmischerei (Kant nennt ausdrücklich „Scharfschützen“). „Die Natur will unwiderstehlich, daß das Recht zuletzt die Oberhand behalte.“ „Beides, die Menschenliebe und die Achtung fürs Recht der Menschen, ist Pflicht, jene aber nur bedingte, diese dagegen unbedingte, schlechthin gebietende Pflicht.“ Autokraten wollen das nicht lesen, und schon gar nicht verstehen. Aufklärung ist eine Art Aufmarsch der Vernunft. Verpflichtet zu Menschenliebe und Achtung fürs Recht. „Das Recht muß nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden.“ Verteidigungsmittel sind legitim, außer völkerrechtswidrige. Stehende Heere seien selbst Ursache von Angriffskriegen. „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen“. Man beachte die diplomatisch wichtige Einschränkung: „gewalttätig“. „Ein Ausrottungskrieg muß schlechterdings unerlaubt sein.“ „Die moralisch-praktische Vernunft spricht ihr unwiderstehliches Ve Es soll kein Krieg sein.“ Kant bringt die Idee eines Weltbürgerrechts und eines Völkerbunds ins Spiel, um sich einem ewigen Frieden (Schrift von 1795) anzunähern, um die natürliche „Unvertragsamkeit“ einzudämmen. Kant rechtfertigt die (Französische) Revolution, wenn die Rechte des Volkes gekränkt sind. Gibt aber zu bedenken: „Durch eine Revolution wird … niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen…“
Kants „Credo der praktischen Vernunft“ in drei Artikeln: Ich glaube an einen einzigen Gott, Urquell alles Guten und Endzweck. Ich glaube an die Möglichkeit, Mensch und Endzweck können „zusammenstimmen“. Ich glaube an ein künftiges ewiges Leben als Bedingung „einer immerwährenden Annäherung.“ „Die wahre Gottesverehrung besteht darin, daß man nach Gottes Willen handelt.“
Allein die folgende Unterscheidung könnte das Gespräch der „Weltreligionen“ beleben: „Es ist nur eine (wahre) Religion, aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben.“ „Es gibt nicht verschiedene Religionen, aber wohl verschiedene Glaubensarten…“ Glaubensabsolutismus ist suspendiert. Kants Ausgangspunkt, die „moralische Anlage“ in uns, ist „Grundlage und zugleich Auslegerin der Religion.“
Er fordert, „dass diese endlich von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen… allmählich losgemacht werde. Das Leitband der heiligen Überlieferung, mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste tat, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel“, wenn der Glaube erwachsen wird. Geradezu prophetisch kirchenkritisch schreibt er: „Der erniedrigende Unterschied zwischen Laien und Klerikern hört auf, und Gleichheit entspringt aus der wahren Freiheit, jedoch ohne Anarchie, weil ein jeder zwar dem (nicht statuarischen) Gesetz gehorcht, das er sich selbst vorschreibt, das er aber auch zugleich als den ihm durch die Vernunft geoffenbarten Willen des Weltherrschers ansehen muß, der alle unter einer gemeinschaftlichen Regierung unsichtbarer Weise in einem Staat verbindet, welcher durch die sichtbare Kirche vorher dürftig vorgestellt und vorbereitet war.“ So verbinden sich nach Immanuel Kant moralisches Gesetz und Weltwille. (Kant-Brevier, Hrsg. Wilhelm Weischedel 1975, S.132)

Was ist der Mensch?
„Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Wenn man nur bezahlen kann. Es fordert Mut, sich seines Verstandes „ohne Anleitung eines andern zu bedienen.“ Aufschieben könne man Aufklärung, doch nicht darauf verzichten. „Zu dieser Aufklärung wird nichts erfordert als Freiheit“; auch wenn der Befehl heißt: Räsoniert nicht, sondern exerziert! Bezahlt! Glaubt! Gehorcht! Als aufgeklärter Gelehrter nimmt Kant sich „volle Freiheit“ und beackert wahrlich weltbürgerlich „das Feld der Philosophie“. Als „Selbstdenker“ und „Weisheitsforscher“ stellt er sich den Kernfragen: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch?“ Schopenhauer urteilt, vor ihm habe die Philosophie „eigentlich immer wie im Traume geredet.“ Kant habe sie hart aufgeweckt. Hier beginnt das Kant-Brevier. Das Stundenbuch der Nicht-Kleriker. Als Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, als Einführung in die Mündigkeit eines Gattungswesens, das der Vernunft verpflichtet ist. Freiheit ist „angeboren, ursprünglich, jedem Menschen zustehendes Recht“, kraft seines Menschseins; ist „Unabhängigkeit von nötigender Willkür“ anderer. Samt dem Recht auf Auswanderung. „Freiheit ist das Vermögen, das allen anderen Vermögen zur vollen Entfaltung verhilft.“ Werde Meister über das böse Prinzip in dir! Denn jedes Übel, was du antust, tust du dir selbst an: Tötest du, so tötest du dich selbst. Kants Art zu argumentieren hat etwas Unwiderstehliches.
Existenz verknüpft Kant mit zwei Dingen, mit einem aus der Sinnenwelt, einem aus der Verstandeswelt: „Der bestirnte Himmel über mir“ - Weltenmenge vernichtet eigene Wichtigkeit; zweitens „das moralische Gesetz in mir“ – als Gesetz der Freiheit erhebt es den Wert, „als eine Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit.“ Die zwei Brennpunkte sollten sein Grabspruch werden. Souveräne Selbstdenker, unzensiert, nicht überwacht, nicht manipuliert durch Zwecke und Interessen, weisen als Weisheitsforscher den Weg zum Frieden. Kant weiß, der ewige ist unausführbar, aber die Grundsätze sind als Aufgabe ausführbar.
Bis zur Kritik der zynisch gewordenen Vernunft des Herrenzynismus (Klassiker von Peter Sloterdijk 1983) sollte es zwei Jahrhunderte dauern. Darin nimmt sich der sprachgeniale Sphärenphilosoph sechs Kardinalzynismen vor: Militär; Staats- und Vormacht; Sexualität; Medizin; Religion; Wissen; dazu sekundäre Zynismen wie Geständnis, Information, Presse, Tauschgeschäft. Gute Illusionslosigkeit gehöre zur Moderne der fortwährenden Desillusionierungen. Die Schwerverwundeten einer Kultur können sich nicht einfach arrangieren. Da wir „den lebendigen Körper als Weltfühler entdecken.“ „Jede Kritik ist Mitarbeit im Zeitschmerz und ein Stück exemplarischer Heilung.“ (Ebd.20.26) Unter jeder Kritik klaffen Wunden. Es geht nicht darum, gegen alles, was Macht hat, eine Vorwurfshaltung einzunehmen. Sensible Selbstbesinnung und Selbstbestimmung hüten sich davor, gewisse Gegner überzeugen zu wollen, die sich ein Alibi der Verständnislosigkeit zugelegt haben. Wahrheit, die man begriffen hat, will sich vermitteln und verkörpern, sich einmischen in die Verhältnisse, die vor Ungerechtigkeit, Schwindel, Machtgeilheit und Gier strotzen. Wer schlägt Brücken in die vom Klimawandel geschockte Gegenwart, die uns herausfordert, ihr gewachsen zu sein? Kant, der weise, gewaltige Denker aus Königsberg gibt der Menschheit einen konzilianten und vernünftigen Rat mit auf den langen Weg im „Zeitalter der Gelangung des Menschen zum vollständigen Gebrauch seiner Vernunft“. Sein Gebot weltbürgerlicher Toleranz lautet: „Wir dürfen uns nicht einander lästig werden; die Welt ist groß genug für uns alle.“

Quellen:
Wilhelm Weischedel, Die philosophische Hintertreppe 1975
Kant-Brevier, Hrsg. Von Wilhelm Weischedel 1975
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft 1983, 21. Auflage 2018

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Karl-Josef Müller schrieb uns am 19.04.2024
Thema: Petra Brixel: Keine Patentlösung in Sicht, doch eine spannende Lektüre
Zum Sachbuch von Jörn Leonhard „Über Kriege und wie man sie beendet. Zehn Thesen“

Einige wenige Anmerkungen:
"Als am 20. Februar 2022 der Angriff Russlands auf die Ukraine einen Großteil der Menschen Europas zum Nachdenken über „Krieg und Frieden“ zwang, als die deutsche und internationale Friedensbewegung Diffamierungen erleben musste und Bertha von Suttners Aufruf „Die Waffen nieder“ der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, als „wir in einer anderen Welt aufgewacht sind“, als der Widerstand der Ukraine durch europäische und amerikanische Waffenlieferungen unterstützt wurde und die Waffenindustrie zur Höchstform auflief, wurde allen klar: Es ist Krieg in Europa. (Auch wenn dies zunächst nicht so verbalisiert wurde und in Russland als „militärische Spezialoperation“ galt.)
"

Was genau ist gemeint, dass "die Waffenindustrie zur Höchstform auflief"? Haben wir in Europa/Deutschland mittlerweile eine Kriegswirtschaft, oder ist es nicht eher so, dass die militärischen Kapazitäten nicht ausreichen, um die von einem übermächtigen Gegner ohne Grund und Anlass seit 2014 überfallene Ukraine in die Lage zu versetzen, ihre Bevölkerung wirkungsvoll zu verteidigen und militärischen Druck auf ein verbrecherisches System auszuüben? Der Aufschrei war, wenn ich mich recht erinnere, laut, als Habeck noch vor dem Feburar 2022 Waffenlieferungen an die Ukraine vorschlug.

"So ist das Buch eine Botschaft an diejenigen, die meinen, ein Krieg ließe sich „einfrieren“, um während der Tiefkühlphase diplomatische Lösungen zu finden. Voraussetzung ist, dass beide Kriegsparteien – und die hinter ihnen stehenden Bundesgenossen mit ihren ganz eigenen Interessen – die Notwendigkeit von Verhandlungen einsehen und anstreben."

Nachts sind alle Katzen grau. Wer ist gemeint mit den "Bundesgenossen" der Ukraine "mit ihren ganz eigenen Interessen"? Wer möchte nicht verhandeln in diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, begleitet von unvorstellbaren Massakern, Stichwort Butscha?

"So z.B. seinen Satz „Wer noch Chancen auf dem Schlachtfeld sieht, wird den Kampf fortsetzen, solange es geht.“ Wie wahr und gleichzeitig brutal das für die kämpfenden Soldat:innen ist, wird derzeit auf den Schlachtfeldern und in den Schützengräben der Ukraine bewiesen. Sowohl Putin als auch Selensky sehen noch „Chancen, solange es geht“. Es wird lange gehen."

Erneut werden der Potentat aus Russland und Selensky auf eine Stufe gestellt und dabei wird übersehen, dass die Ukraine keine Alternative zum weiteren Kampf gegen einen verbrecherischen Angreifer hat. Wie oft muss man das Beispiel Butscha, entführte Kinder, bewusste Angriffe auf zivile Ziele, auf die Infrastruktur noch nennen, um begreiflich zu machen, womit wir es in diesem Gemetzel zu tun haben? Was wäre wohl geschehen, hätte der Westen und Deutschland sich damit begnügt, einige Tausend Helme zu liefern?

"Ein weiteres Hemmnis für einen schnellen Waffenstillstand sind die „unvereinbaren Erwartungen, die beide Seiten mit den Friedensbestimmungen verknüpften“. Auch wenn Leonhard sich mit dieser Aussage auf einen Krieg Anfang des 19. Jahrhunderts bezieht, so ist die These brandaktuell. Solange die eine Seite nicht ein Zipfelchen des Landes hergeben will und die andere Seite „alles“ haben will, gibt es kein Pardon, und der Krieg geht weiter."

Und wieder: "beide Seiten". Blood, sweat and tears versprach Churchill seinen Landsleuten 1940, nicht weil er Spaß daran hatte, sein Volk leiden zu sehen, sondern weil er gegen einen gnadenlosen Diktator wie Hitler und seine Spießgesellen keine Alternative erkennen konnte. Der Diktator aus dem Osten wird sich mit keinem Zipfelchen zufriedengeben, er möchte die Vernichtung eines Landes, dessen Existenz von Russland noch 1994 garantiert worden war.

"Auch diese Aussage bewahrheitet sich im Ukraine-Krieg. Nur durch einen konstanten Waffennachschub der ukrainischen Unterstützer kann der Krieg aufrechterhalten und fortgeführt werden. Der Ruf nach Panzern und Munition bestimmt derzeit die Medien und kann als Dauerschleife bzw. Hintergrundrauschen dieses Krieges angesehen werden. „Kippmomente“ drohen permanent, und was eines Tages das finale Kippmoment sein wird, wird sich erst im Nachhinein herausstellen."

Ich gebe zu, ich kann es kaum ertragen, wenn hier so getan wird, als ob es an der Ukraine sei, die Waffen niederzulegen, um einen Frieden zu ermöglichen. "Der Ruf nach Panzern und Munition" ist einer der Verzweiflung, denn was würde wohl geschehen, wenn dieser Nachschub ausbliebe, was würde mit der Ukraine, was würde mit den Menschen dort geschehen. Muss man den Namen Butscha immer wieder in Erinnerung rufen?

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Karl-Josef Müller schrieb uns am 09.04.2024
Thema: Markus Steinmayr: Krise und Ressentiment
Replik auf Jan Süselbeck und Klaus Birnstiel

Ein Satz wie aus dem Lehrbuch des Germanisten-Sprech:
"Die Literatur und die Kommunikation über sie ist zuallererst Einübung in eine Praxis der Autonomie, die in diesen Zeiten zuallererst Befreiung von Heteronomie der kompetenzorientierten und politischen Zurichtung der Literatur sein müsste, um überhaupt wieder ein Möglichkeitsraum für ästhetische Erfahrung sein zu können."
Doch noch besteht Hoffnung, denn dann ist, fast verschämt, möchte man meinen, von Glück die Rede:
"Erst in diesem Raum gelingt das Glück des Lesens. Und nur um die Vermittlung dieses Glücks durch gemeinsame Lektüreerfahrung kann es gehen – ob man nun Lehramt oder das reine Fach studiert."
Um es
mit den Worten von Emil Staiger zu sagen: Es geht darum zu begreifen, was uns ergreift. Sollte dies das eigentliche Ziel eines Germanistikstudiums sein? Und wo bleibt dann die Wissenschaft?
Als ich 1976 in Gießen das Studium der Germanistik voller Erwartung antrat, war es nach wenigen Wochen genau dieses Glück, das ich vermisste. An seine Stelle trat die politische "Zurichtung der Literatur", damals im Zeichen marxistischer Ideologiekritik. Es folgten weitere Sauen, die durchs germanistische Dorf getrieben wurden, etwa der Strukturalismus.
Bleiben wir bei der beglückenden Lektüre und dem Austausch darüber. Was sind das für Zeiten, in denen die Literatur von der Heteronomie der kompetenzorientierten und politischen Zurichtung befreit werden muss? Schlechte Zeiten sind das für Leser, die nach dem Lektüreglück suchen.
Wer nicht in die Sprache der Germanistik eingeweiht ist, dürfte bei der Lektüre der meisten Dissertationen in diesem Fach so seine Schwierigkeiten haben. Denn oftmals erkennt man den eigentlichen Gegenstand, die Literatur, um deren Verstehen es in solchen Anstrengungen des Geistes doch gehen sollte, kaum wieder in einer Sprache, die so hölzern wie verquast daherkommt, weil es sich meist nicht um die eigene Sprache des Verfassers handelt, sondern um die der methodischen und sich wissenschaftlich gerierenden Theoriegebäude, ohne deren Hilfe scheinbar keinerlei Erkenntnis zu gewinnen ist.
Kein Mensch käme mehr auf die Idee, eine Theorie des Romans mit folgenden Worten zu beginnen:
"Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt. Alles ist neu für sie und dennoch vertraut, abenteuerlich und dennoch Besitz."
Georg Lukács hatte nicht lange unter der transzendentalen Obdachlosigkeit zu leiden, die er in seiner Theorie des Romans noch beklagt, fand er doch Wärme, Zuversicht und Unterkunft unter dem Dach der marxistischen Theorie.
Und damit, nämlich mit der Flucht unter das Dach einer wie auch immer gearteten Theorie, mit deren Hilfe versucht wird, der Sprache der Dichtung Herr zu werden, geht nicht nur das Glück der Lektüre, es gehen auch Zweifel und Trauer verloren, die in so vielen literarischen Texten zum Ausdruck kommen. Dabei müsste es unserer Ansicht nach doch darum gehen herauszuarbeiten und zu erkennen, was alle Kunst und damit auch die Dichtung uns sagt, das ohne sie ungesagt bliebe. Nicht um die Deutung an die Stelle des Werkes zu setzen, sondern um eben das zu erkennen: dass keine noch so luzide Deutung des Werkes seine Stelle einnehmen kann.
Kein Problem, Text und Musik von Schuberts schöner Müllerin auf die wirtschftliche Situation der Gesellen im 19. Jahrhundert zu beziehen. Doch, um es mit Kafka zu sagen,  "und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen".
Und was sind das für Zeiten, in denen ein Roman wie Der Vorleser von Bernhard Schlink als Schullektüre empfohlen wird? Wir ersparen uns die Antwort, verweisen als Alternative auf einen kurzen Text von Peter Weiss mit dem Titel Meine Ortschaft.
Das Fach Deutsch wird wohl kaum vom Lehrplan verschwinden. Wer dieses Fach unterrichtet, sollte möglichst viele literarische Texte aus allen Epochen gelesen haben. Mit einer Art Häppchen-Lektüre ist es nicht getan, wer sich, nur als Beispiel, durch Musils Mann ohne Eigenschaften gelesen hat, dessen Leben ist kein anderes geworden, aber es gilt, im übertragene Sinne, Rilkes Wort:
denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

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markus bauer schrieb uns am 05.04.2024 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Luzie Horn: Südosteuropa erlesen
Von den Wegen zur Literatur Südosteuropas

Das von Franz Horváth benannte Problem des Überblickartikels dürfte auch darin bestehen, dass "Süd(ost)europa" ganz unterschiedlich definiert wird. Für eine Slawistin scheint mit dem Begriff ganz natürlich der südslawische Raum, also der Balkan mit seinen slawischen Sprachanteilen umrissen. Während für HistorikerInnen oder an der Literatur des geografischen Raums südlich der Ukraine und Polens Interessierte "südosteuropäisch" automatisch ungarische, rumänische, albanische und die südslawischen Sprachen umfassende Geschichte(n) meint. (Bereits das Griechische dürfte hierbei nur in der Historiographie einbegriffen sein, literarisch wohl weitaus weniger.) Historisch spielt in diesen Raum das Osmanische eine große Rolle, literarisch ist es heute kaum präsent.
Es bleibt daher immer noch ein Kuriosum, wie scharf zwischen "Osteuropa" und "Südosteuropa" in den diversen Disziplinen zu trennen versucht wird, wo es doch oft um das Gleiche oder zumindest sich Überlappendes geht. Die Begrifflichkeiten und ihre Semantiken sollten daher vielleicht je nach Anlass adäquat gewechselt werden (Osteuropa, Südeuropa, Südosteuropa, Balkan, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich, Romanistik, Slawistik, Rumänistik, Ungaristik, Byzanz, Ostrom, Sowjetunion, Warschauer Pakt, Moldau, Oberungarn, Kosovo, Donaufürstentümer, Siebenbürgen, etc.ppppp... Dann wären Missverständnisse der Reichweite weniger zwingend.

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Stefan Neuhaus schrieb uns am 02.04.2024
Thema: Martin Lowsky: Kafka zwischen Ich und Über-Ich
Gerhard Rieck legt mit „Kafka ist nicht rätselhaft“ eine sehr enggeführte, aber gleichwohl lesenswerte Analyse seines Werks vor

Ohne das besprochene Buch schon zu kennen, möchte ich als Literaturwissenschaftler doch kurz gegen den Furor, der sich bereits im Titel ausspricht, doppelten Einspruch einlegen. Erstens: Literatur ist Literatur, also metonymische Sprache (und Sprache ist zuerst immer Sprache, keineswegs die Abbildung von Realität), die somit deutungsoffen wird, um anschlussfähig für Lektüren unterschiedlicher Menschen in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen zu werden. Fiktionale Literatur auf eine einzige Bedeutung festzulegen würde heißen, sie wie einen Sachtext zu lesen. Roland Barthes hat bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert in "Kritik und Wahrheit" das Notwendige zu solchen Zumutungen (in der Geschichte nicht selten totalitär gewordener Denkmuster mit unguter Tradition) gesagt. Zweitens: Psychologische Deutungen dieser Art, bei aller Achtung vor der historischen Leistung von Sigmund Freud, gelten in der Psychologie schon lange nicht mehr als wissenschaftlich und auch andere Disziplinen und Theorien finden es schon lange nicht mehr vertretbar, psychische Prozesse monokausal zu deuten, zumal auch, ohne den blinden Fleck der Individualität des Deutenden mit zu bedenken. Für die informative und um Differenzierung bemühte Rezension möchte ich mich zugleich bedanken. Vielleicht lässt sie der Studie auch mehr Gerechtigkeit widerfahren als mein kurzer Einwurf, jedenfalls hoffe ich es. Einen Diskurs durch das Verteilen roter Karten an oftmals mindestens ebenso renommierte Fachkolleg*innen stillzustellen, wird hoffentlich auch nicht in der Absicht des Verfassers gelegen haben, und streitbare Schriften haben durchaus auch ihre Qualitäten.

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Frieder Sommer schrieb uns am 26.03.2024
Thema: Kolinka, Ginette: Rückkehr nach Birkenau. Aufbau Verl. 2020. Aus d. Franz. von Nicola Denis.

Selbst wenn ich dazu fähig wäre, Rezensionen zu schreiben, zu diesem "Büchlein" (124 großgedruckte Seiten) könnte ich es auf keinen Fall!
Betrachten Sie es als eine persönliche Leseempfehlung, und zwar als die notwendige Begleitlektüre zu dem sehenswerten, bedeutenden Film "The Zone of Interest".
Ich habe seit dem "Roman eines Schicksallosen" von Imre Kertesz kein Buch gelesen, das mich mehr betroffen und sprachlos gemacht hat.
Nach ihrer Rückkehr schreibt Ginette Kolinka: "Und wenn ich gefragt werde, wie es dort gewesen sei, (die Leser von Kertesz' Roman erinnern sich sicher, dass er dies nahezu wortwörtlich ebenfalls so geschrieben hat, allerdings "falls ich (Imre Kertesz) gefragt
werden sollte" anders antwortet!), antworte ich (Ginette Kolinka): 'Wenn ich einmal ein Kind habe und das alles wieder von vorne losgeht, werde ich es eigenhändig erwürgen.' Es ist mir ernst damit."
Dies 2024 lesen zu müssen, also in einer Zeit, in der man das "Nie wieder!" zu einem "Nie wieder ist jetzt!" verdeutlichen muss, erschreckt mich zutiefst.

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Franz Horvath schrieb uns am 07.03.2024
Thema: Luzie Horn: Südosteuropa erlesen
Von den Wegen zur Literatur Südosteuropas

Vielen Dank für diesen kurzen Einblick, der allerdings (ehrlich gesagt) schon ziemlich stark auf der Oberfläche bleibt und sich sehr stark auf die (süd)slawischen Autoren konzentriert. Völlig außer Acht gelassen werden z.B. ungarische Autoren oder der "danube books"-Verlag aus Ulm, der Autoren aus dem Karpatenbecken verlegt. Es fehlen rumänische Autoren (Cärtärescu oder Grigorcea usw.) oder der Traian Pop Verlag aus Ludwigsburg, der u.a. rumänische Schriftsteller verlegt. Von Siebenbürger Sachsen verfasste Literatur (Iris Wolff, Eginald Schlattner) sorgte in der letzten Zeit, in den letzten Jahren ebenfalls für Aufsehen - wäre auch eine Erwähnung wert gewesen. Mit freundlichen Grüßen

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Günter Helmes schrieb uns am 29.02.2024 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Marcus Neuert: Nur bedingt überzeugend
Carlo Masalas militärpolitische Aussagen in „Bedingt abwehrbereit“ liefern über einige erhellende Einblicke in die Strukturprobleme der Bundeswehr hinaus kaum etwas Neues

Wenn die Unterstellung, der Krieg Russlands gegen die Ukraine solle ggf. unter der Hand gerechtfertigt werden (Sie tun es zum Schluss wieder!), keine Diskreditierung ist, Herr Müller, dann ...
Sie mögen verstehen: Es geht um Verstehen im Sinne von Begreifen, nicht um Verständnis und Rechtfertigung.
Und m.E. geradezu aberwitzig. Mit Frau Wagener und der neuen, bellizistischen und selbstverständlich Werte geleiteten Berliner 'Union der festen Hand' (man sieht Letzteres ja an den Waffenlieferungen nach Saudi Arabien, einem Land, das Oppositionelle auspeitscht, köpft, auch schon mal zerstückelt) als Kronzeugen verlangen Sie im Sinne eines Junktims, eines Oktroys nach Kontextualisierung des Protests gegen Israels Vorgehen in Gaza und anderen Orts,
Neuert hingegen machen Sie zum Vorwurf, dass er kontextualisiert, hinterfragt und in Erinnerung ruft.
Erstaunlich, wie flexibel Sie mit Maßstäben umgehen ...

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Karl-Josef Müller schrieb uns am 28.02.2024 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Marcus Neuert: Nur bedingt überzeugend
Carlo Masalas militärpolitische Aussagen in „Bedingt abwehrbereit“ liefern über einige erhellende Einblicke in die Strukturprobleme der Bundeswehr hinaus kaum etwas Neues

"Mittel der Diskreditierung sind Verleumdung, Indiskretionen oder das Verbreiten von Gerüchten."
(https://de.wikipedia.org/wiki/Diskreditierung)
Es tut mir leid, ich kann nicht erkennen, wo und wie ich Sie  diskreditiert haben soll; auch gehe ich davon aus, dass die Redaktion der literaturkritik diskreditierende oder beleidigende Beiträge nicht veröffentlichen würde, wir befinden uns - Gott sei Dank - nicht in den (a)sozialen Medien.
Ich möchte nunmehr abschließend nochmals auf den Vorwurf in Sachen Berlinale eingehen. "Die maßlosen, mit Einschüchterungsversuchen einhergehenden Reaktionen der Roth, der Scholz, der Söder und anderer auf Waffenstillstand fordernde Teilnehmer und Teilnehmerinnen der
Berlinale zeigen, wie groß nach wie vor der diesbezügliche Klärungsbedarf ist." Wie soll man diese Einschätzung sachlich einordnen? Welches Maß ist Ihnen Recht, Herr Helmes, wenn es um Kritik geht?
Ich möchte mich dem Kommentar von Frau Monika Wagener anschließen, gesendet am 26. 2. 24 in den "Tagesthemen". Ich zitiere einen der ersten Sätze des Kommentares, der gesamte Beitrag ist noch online zu sehen (https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3RhZ2Vzc2NoYXUuZGUvMDQ2YWQ2MmEtNDJiNC00ZDM5LTg0MzMtMzViOGIzY2I2NDZlLVNFTkRVTkdTVklERU8):
"Ist es erlaubt,  sich für einen Waffenstillstand im Gazastreifen einzusetzen? Natürlich." Kritik an Israels Vorgehen in Gaza, so Frau Wagener, ist weder verboten noch antisemitisch. Verbunden werden sollte, ja muss sie allerdings werden mit dem Hinweis auf die Ereignisse vom 7. Oktober verganenen Jahres, worauf die Kommentatorin ausführlich hinweist. Und Erwähnung finden muss in diesem Zusammenhang auch, wes Geistes Kind die Hamas ist, auch daran erinnert Frau Wagener.
In Sachen Ukraine kann ich nur nochmals wiederholen: Aus meiner Sicht verfälscht jeder Versuch, auch nur im Ansatz den unmenschlichen Charakter des russischen Angriffskrieges zu relativieren, die Wahrheit. Dazu nochmals ein Zitat von Herrn Neuert: "Kein Wort zu Deutschlands diplomatischer Mitschuld an mehr als 12.000 meist zivilen Opfern durch eine Regierung in Kiew, die acht lange Jahre im Südosten des Landes de jure ihre eigene Bevölkerung unter Feuer nahm. Zur Erinnerung: Syriens Assad solches (zu vollem Recht!) vorzuwerfen, hatten die gleichen Verantwortlichen keine Probleme."

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Günter Helmes schrieb uns am 28.02.2024 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Marcus Neuert: Nur bedingt überzeugend
Carlo Masalas militärpolitische Aussagen in „Bedingt abwehrbereit“ liefern über einige erhellende Einblicke in die Strukturprobleme der Bundeswehr hinaus kaum etwas Neues

Der Eindruck, den ich vor einigen Monaten in der Debatte um Robert Habecks Rede zu Israel und dem Antisemitismus gewann, erhärtet sich: Unter der Hand, Herr Müller, arbeiten Sie mit Zuschreibungen, die textlich  nicht gedeckt sind, den anders Denkenden, in dem Falle mich, aber diskreditieren - diskreditieren sollen? Oder sind diese Zuschreibungen nur Ausdruck mangelhaften sinnentnehmenden Lesens? Wo steht bei mir, bei Herrn Neuert, und sei es auch nur zwischen den Zeilen, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine gerechtfertigt werden soll?

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Petra Brixel schrieb uns am 28.02.2024
Thema: Rolf Löchel: Am Kaffeehaustisch mit Hermann Bahr und Peter Altenberg
Dirk Liesemer besucht die Boheme im „Café Größenwahn“

Vielen Dank an Rolf Löchel für diese kritische und detailreiche Rezension. Es ist davon auszugehen, dass die "Bohème" noch viele Bücher gebären wird, denn zu spannend und illustre ist doch das Thema und ist bzw. war vor allem die damalige Gesellschaft. Sicher schwingt in allen neuzeitlichen Werken auch ein bisschen Neid oder Sehnsucht mit: Warum kann es heute nicht mehr so schaurig-libertär-alternativ sein? Wenn nun auch noch das Kiffen freigegeben wird, was bleibt uns dann?
Gut ist der Hinweis darauf, dass sich die Caféhaus-Kultur bzw. -gesellschaft nur auf einen ganz bestimmten und zudem vergleichsweise winzigen Teil der Gesellschaft erstreckte. Der gutbürgerliche und vor allem der sehr hart arbeitende Teil
("Proletariat") der Nation huldigte nicht dem Café Größenwahn.
Was die Details zu Otto Gross angehen, so gehören sie zu der Problematik des Auswählens. Eine vollständige Biografie von OG - als Beispiel für andere Biografien - würde ein Buch mit dem Anspruch des obigen Titels überfordern. Und so ist auch hier - wie oftmals bei komplexen Persönlichkeiten - nur das zitiert, was dem Autor (!) wichtig erschien. (Vielleicht sagt das mehr über den Autor als über Otto Gross aus.) Es ist "Künstlerfreiheit", doch in diesem Fall bedauerlich, nicht auf biografische "Schwachstellen" hinzuweisen. Löchels Kritik lässt sich noch hinzufügen: Sexueller Missbrauch, Pädophilie und andere "Kavaliersdelikte", die heutzutage offen thematisiert und scharf verurteilt werden, erscheinen auf die Vergangenheit bezogen eher als Aperçus. Dass immer noch verwerfliche Handlungen der Vergangenheit mit  einem Augenzwinkern durchgehen, daran ist zu erkennen, wie  viel Bewusstseinsarbeit zu leisten ist, auch in der Literatur.
Und dass Sofie Benz mal mit "f", mehrheitlich mit "ph" geschrieben wird, lässt sich kaum ändern, nicht einmal, nachdem Sofie Benz` Biografie erschienen ist. Auf ihrer Geburtsurkunde steht Sofie, aber auch Otto Gross schrieb in seinen Briefen an sie: Sophie. Es scheint "wurscht" zu sein, damals wie heute.
Anzumerken ist bei dieser Gelegenheit, dass Sofie Benz und Otto Gross nicht auf dem Monte Verità gelebt haben, sondern immer in Ascona in der Trattoria delle Isole (heute Hotel Tamaro), und dass Sofie nur zum Blumenpflücken auf den Wahrheitsberg kam. Aber auch diese Differenzierung wird sich kaum durchsetzen,  solange nicht erkannt wird, dass oben auf dem Monte Verità die Aussteiger lebten, die sich von der Welt zurückgezogen hatten, und unten, in Ascona, die Anarchisten waren, die Weltverbesserer, die wieder in die Welt hinausgehen wollten.
Dies nur als kleiner Beitrag zur Differenzierung, angeregt durch Löchels Rezension.

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Günter Helmes schrieb uns am 28.02.2024
Thema: Berlinale

Im November/Dezember letzten Jahres wurde an dieser Stelle über Robert Habecks Rede zu Israel und Antisemitismus diskutiert.
Von meiner Seite wurde kritisch zu dieser Rede bemerkt, dass sie nicht deutlich mache, was unter Antisemitismus zu verstehen sei und was nicht. Das sei insofern zu bedauern, weil jede Kritik an der Palästinenser-Politik Israels, insbesondere der aktuellen Netanjahus, mit dem Totschlagargument „Antisemitismus“ zurückgewiesen werde.
Die maßlosen, mit Einschüchterungsversuchen einhergehenden Reaktionen der Roth, der Scholz, der Söder und anderer auf Waffenstillstand fordernde Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Berlinale zeigen, wie groß nach wie vor der diesbezügliche Klärungsbedarf ist. Und wie
wichtig es ist, das Recht auf freie Meinungsäußerung – selbstverständlich innerhalb der Grenzen unserer Verfassung – zu verteidigen.

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Karl-Josef Müller schrieb uns am 28.02.2024 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Marcus Neuert: Nur bedingt überzeugend
Carlo Masalas militärpolitische Aussagen in „Bedingt abwehrbereit“ liefern über einige erhellende Einblicke in die Strukturprobleme der Bundeswehr hinaus kaum etwas Neues

Diese Einwände kann ich nicht nachvollziehen. Es geht nicht darum, im Recht zu sein. Wir alle sind auf öffentlich zugängliche Informationen angewiesen, wenn es um politische Zusammenhänge geht. Und anhand dieser mir wie uns allen zugänglichen Informationen komme ich zu der Ansicht, dass es nicht sein kann, die russischen Verbrechen, mit welchen Argumenten auch immer, zu rechtfertigen. Ich erspare es mir, die Untaten des Herrn Putin seit seiner Amtseinführung aufzuzählen. Stalin lässt grüßen.

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Günter Helmes schrieb uns am 27.02.2024 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Marcus Neuert: Nur bedingt überzeugend
Carlo Masalas militärpolitische Aussagen in „Bedingt abwehrbereit“ liefern über einige erhellende Einblicke in die Strukturprobleme der Bundeswehr hinaus kaum etwas Neues

In wessen Namen schreiben Sie, Herr Müller, wenn Sie von "Wir" sprechen? Wo liegt Ihrer Legitimation, wenn Sie dieses "Wir" verwenden? Fühlen Sie sich auf der Seite einer - behaupteten - Mehrheit, die als solche stets - selbstverständlich nicht - immer Recht und Wahrheit auf ihrer Seite zu haben glaubt? Oder geht es Ihnen, rhetorisch plump, einfach nur darum, Herrn Neuert ins per se unglaubwürdige Abseits zu stellen? "Intellektuelle Unabhängigkeit": Die 'einfach mal so' anzunehmen, ist ehrenwert, wenn auch nur bedingt realitätsnah. Und: Ist es nicht ein 'alter Hut', dass zum Streit immer zwei gehören? Was also haben sie gegen die von Neuert beklagten "allzu einseitigen Schuldzuweisungen"? Wie gut im Übrigen, dass Sie Herrn Masala aus dem TV kennen und für informiert halten, stichhaltige Argumente sind immer willkommen.

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Rüdiger Schnell schrieb uns am 27.02.2024
Thema: Walter Delabar: Man muss diesen Typen nur auf die Klamotten sehen
Rainer Bieling packt Masha Gessen in die große Kommunismuskiste

Die überschwängliche Zustimmung von Günter Helmes zu der Besprechung von Walter Delabar ist durch die Gleichsinnigkeit der Positionen erklärlich. Man freut sich immer, wenn man sich bestätigt fühlt. Der Apologie von Gessens Ausführungen durch Delabar kann ich nichts abgewinnen. Mir sind alle Versuche einer Gleichstellung von Holocaust und Gazakrieg oder von Gaza- und Ukrainekrieg suspekt. Wenn schließlich als einziges tertium comparationis die Tötung von Kindern angeführt wird, bedeutet dies meines Erachtens eine Ausklammerung aller politischen Implikationen. Aber ich habe gelernt: In diesem brisanten verminten  politischen Gelände ist niemand bereit, sich durch Gegenargumente von eigenen Überzeugungen abbringen zu lssen. Insofern hat meine Stellungnahme keinen anderen Zweck als den, aktenkundig zu machen, dass nicht alle Leser von literaturkritik.de mit Delabars Kommentar einverstanden sind.
Im Übrigen möchte ich bei dieser Gelegenheit anmerken, dass meinem Eindruck nach in literaturkritik.de vor allem linkslastige Besprechungen erscheinen. Doch ich ertrage es mit Fassung.

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Rüdiger Schnell schrieb uns am 27.02.2024 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Marcus Neuert: Nur bedingt überzeugend
Carlo Masalas militärpolitische Aussagen in „Bedingt abwehrbereit“ liefern über einige erhellende Einblicke in die Strukturprobleme der Bundeswehr hinaus kaum etwas Neues

Ich kann mich der kritischen Stellungnahme von Herrn Müller nur anschließen. Wer, wie der Rezensent Neuert, die Forderung nach einer Verteidigungsfähigkeit Deutschlands als etwas bezeichnet, was "für die Zukunft nichts Gutes ahnen lässt", reiht sich in die Denkwelt der pazifistischen Linken ein. Eine angemessene realistische Beurteilung der aktuellen Bedrohungslage durch den russischen Aggressor Putin wird dadurch unmöglich. Die Pazifisten träumen von Verhandlungen, von Waffenstillstand, vom Frieden. Doch Putin verfolgt eine andere Agenda: erst die Vernichtung der Ukraine, dann könne man über Frieden reden. Und wo, bitteschön, soll dann Frieden herrschen? Wohlgemerkt in den von Russen besetzten Gebieten.

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Karl-Josef Müller schrieb uns am 27.02.2024
Thema: Marcus Neuert: Nur bedingt überzeugend
Carlo Masalas militärpolitische Aussagen in „Bedingt abwehrbereit“ liefern über einige erhellende Einblicke in die Strukturprobleme der Bundeswehr hinaus kaum etwas Neues

Beim Lesen einer Rezension sind wir darauf angewiesen, dass der Rzensent Geist und Inhalt des besprochenen Textes glaubwürdig widergibt. Bevor wir nicht selbst das besprochene Werk gelesen haben, sind wir auf eben diese Glaubwürdigkeit angwiesen.
Carlo Masala kenne ich aus mehreren Auftritten im TV. Er erweckt den Eindruck zu wissen, wovon er redet. Und das gesteht Marcus Neuert ihm auch zu, wenn es um den Zustand der Bundeswehr geht.
Dass es in diesem Buch in erster Linie um den brutalen Angriffskrieg des Potentaten in Russland geht, verwundert mich nicht. Aufgrund aller Informationen, die mir über öffentliche seriöse Medien zugänglich sind, gibt es für diesen Krieg keinerlei Rechtfertigung.
Anders sieht dies offensichtlich Marcus
Neuert. Darf man es perfide nennen, wenn er die intellektuelle Unabhängigkeit Masalas nicht offen, aber doch hinter kaum vorgehaltener Hand anzweifelt, indem er ihn einen "Staatsbediensteten" nennt? Nebenbei bemerkt: Meines Wissens sind alle Professorinnen und Professoren, egal welcher Fachrichtung, eben solche Staatsbedienstete. Er zieht Masalas Unabhängigkeit gegenüber "seinem Arbeitgeber" in Zweifel.
Damit bereitet Neuert das Feld für seine These, die ja nun auch nicht gerade neu ist, von der "allzu einseitigen Schuldzuweisungen an die Adresse Russlands bezüglich der langjährigen Entwicklungen um die Ukraine". Weiter: "Dass jedoch auch die Ukraine kein echtes Interesse an der Umsetzung von Minsk II hatte, wird höflich verschwiegen." Offensichtlich ist Herr Neuert bestens informiert über die komplexen Zusammenhänge, die schließlich in letzter Konsequenz zum Massaker von Butscha führten.
Ein Land wird angegriffen und ein Teil seines Staatsgebietes vom Feind besetzt. Es folgen Friedensverhandlungen, die in eine Abkommen münden, das den Feind quasi belohnt, indem er nicht gezwungen wird, die widerrechtlich eroberten Gebiete zurückzugeben. Wir würden gerne belegt wissen, dass die Ukraine "kein echtes Interesse an der Umsetzung von Minsk II hatte", und wir würden von Herrn Neuert gerne wissen, was genau er unter der "allzu einseitigen Schuldzuweisungen an die Adresse Russlands" versteht. Handelt es sich hier nicht um das mittlerweile nur zu bekannte Phänomen der Täter-Opfer-Umkehr?
Ich erspare mir weitere Zitate. Die Argumentation des Rezensenten beleidigt in meinen Augen die Opfer dieses Krieges, und zwar die auf ukrainischer wie gleichermaßen die auf russischer Seite. Kein russischer oder ukrainischer Soldat hat es verdient, in diesem von einem Despoten angeordneten Krieg sein Leben zu verlieren, ganz zu schweigen von den zivilen Opfern in der Ukraine.

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Günter Helmes schrieb uns am 26.02.2024
Thema: Walter Delabar: Man muss diesen Typen nur auf die Klamotten sehen
Rainer Bieling packt Masha Gessen in die große Kommunismuskiste

Herzlichen Dank für diesen wunderbar geschriebenen Beitrag, lieber Walter Delabar!

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Kathrin Witter schrieb uns am 08.02.2024
Thema: Jan Süselbeck: Der dröhnende Klang der Abrissbirne
Über die globale Krise der Germanistik und die Frage, was das Fach in Deutschland von den German Studies in Nordamerika lernen könnte

Der hier als Leserbrief publizierte Text wurde entfernt, da er von der Verfasserin als Artikel gedacht war und aus einem Missverständnis heraus in Form des Leserbriefs veröffentlicht wurde.

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Günter Rinke schrieb uns am 02.02.2024
Thema: Lutz Hagestedt: Vor der Satire gibt es keinen Welpenschutz
Gerhard Henschel verfasst den erhofften neuen deutschen Schelmenroman

Vielen Dank, Herr Hagestedt, für diese wunderbare Rezension! Selten bei der Lektüre einer Rezension so gelacht - und man hat in diesen Zeiten ja nicht viel zu lachen. Jedenfalls macht Ihr Text ganz viel Lust auf das Buch.

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Petra Brixel schrieb uns am 19.01.2024
Thema: Rainer Bieling: Masha Gessen und das große Vergessen des Totalitären
Die jüdisch-russische US-Autorin hätte gar nicht erst für den Hannah-Arendt-Preis in Betracht gezogen werden sollen

Rainer Bieling kennt Masha Gessen, da sie bei einer Veranstaltung in Berlin vor ihm saß. Immerhin. Und: Rainer Bieling mag Masha Gessen nicht. Das macht er an Gessens Äußerem fest. Zitat: "kurze Haare, riesen Brille, cooles Outfit, schwarzer Anzug, rote Socken". Es sollte inzwischen Konsens sein, dass man (Mann!) eine Frau nicht nach ihrem Äußeren beurteilt. Auf der Bühne selbiger Veranstaltung saßen auch drei Männer. Ich lese nichts über ihre Brillen, Haare, Outfit, Anzug- und Sockenfarbe. Eine Frage: Wie hätten Sie´s denn gern, dass Masha Gessen sich kleidet?  
In diesem Artikel deutet manches darauf hin, dass Bieling persönliche Niederlagen noch nicht verwunden hat, da er in zwei langen
Absätzen seine eigenen Erlebnisse vor 50 Jahren in der Neuen Linken darstellt. "Die rote Ideologie alten Schlags rieche ich seither zehn Meilen gegen den Wind [...]." Der Grund für den Schmerz: "an der Freien Universität Berlin bin ich, sind wir gescheitert: Mein Institut für Publizistik, [...] wurde von den ADSen gekapert, [...]." Diese individuelle Erfahrung sollte bei der Beurteilung von Gessen nichts zur Sache tun.  So traurig die Erfahrung ist, aber Gessen kann nichts dafür. Oder doch? Ist sie auch dafür – ideologisch gesehen – verantwortlich?
Apropos „riechen“: Auch Masha Gessen kann der Autor nicht riechen. Gleich im ersten Absatz ist zu lesen, Gessen sei von einem „sozialistischen Geist beseelt“. Immerhin scheint sie eine Seele zu haben. Im Weiteren geht es oftmals um Schlagworte, die mehr über Bieling als über Gessen aussagen. Er spricht von „sozialistischen Eliten“ und „intellektueller Entourage“, von einem „Vielvölkergefängnis“ und „hegemonial“ gewordenen weißen Akademikern, von „totaler“ Herrschaft der Hamas (oder ist „totalitärer“ gemeint?), von „partieller Herrschaft der Hamas“ über israelische Kibbuzim (partiell und Herrschaft?) und von einem „Mileu“, dem Gessen angehöre. Begriffe, dahingesagt, aber erklärungswürdig, ansonsten tendenziös.
Ein „Schlüssel für diese Sichtweise“ sei in einer Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin zu finden. Nein, nicht etwa in Masha Gessens Aussagen in der von Bieling besuchten Veranstaltung. Sowieso werden Gessens Einlassungen, ein Vortrag oder Redebeiträge nicht inhaltlich erwähnt. Wir lesen nur, dass sie eine „vergleichbare Emanzipation“ wie Marion Brasch nicht vollzogen habe. Das werde durch das Fehlen persönlicher Erfahrungen  verhindert (so Bieling), denn als Gessen im jugendlichen Alter von 14 Jahren die Sowjetunion verlassen habe, konnte sie das „Kollabieren des sozialistischen Staates“ nicht mehr miterleben. Gelobt seien die 14-Jährigen, die die Weisheit von 40-Jährigen oder vielleicht auch erst 70-Jährigen besitzen!
Das Schwert der Verachtung fällt dann auf Gessen hinunter: „Nie wird sie sich mit diesem Milieu überwerfen, dem sie alles verdankt, zuletzt den Hannah-Arendt-Preis.“  Und hierbei wird auch der Literaturpreis gleich mitverdammt, wofür noch einmal Gessens Äußeres herhalten darf: „New Wave, das zeigt sie mit ihrem Outfit und Old Left, das offenbart sie mit Worten, koexistieren auf preiswürdige Weise.“ Nun hätte ich gerne gesehen, wie der Autor auf der Berliner Veranstaltung erschienen ist. Sakko, Schlips und Kragen, weiße Socken? Sollte es so oder ähnlich gewesen sein, was darf ich daraus schließen? Das Gegenteil von Gessen? Alles in allem lese ich nichts Inhaltliches zu Gessen, sondern nur, was Gessen nicht gesagt hat.

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Franz Horvath schrieb uns am 11.01.2024
Thema: Irmela von der Lühe: „Unsere Familie war eher ein Klumpen Geschichten“
Die Erzählerin und Historikerin Dana von Suffrin (geb. 1985)

Sehr geehrte Frau von der Lühe,
haben Sie vielen Dank für Ihre Auseinandersetzung mit dem Werk von D. Schiffrin. Bitte erlauben Sie mir eine kleine Korrektur. Sie schreiben: "Die 40er Jahre brachten die Katastrophe für die Kronstädter Juden, für alle Juden im Grenzraum zwischen Ungarn, Rumänien und der Ukraine [...]" Dieser Satz bedarf einer kleinen Richtigstellung: Die Zahl der jüdischen Gemeinde Kronstadts betrug 1930 etwa 2.200 Personen und 1957 etwa 1.700 Personen. Man sieht also keine gravierende Veränderung. Die Abnahme um 500 Personen ist hierbei wohl v.a. auf die mehreren Auswanderungswelle von Juden aus Rumänien nach Israel Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre zurückzuführen. Die Kronstädter Juden
haben den Krieg meines Wissens und Erachtens zumindest biologisch gut überstanden. Wieso? Der Nordwesten Rumäniens, Siebenbürgen im weiteren Sinne, gehörte seit 1920 zu Rumänien. Aufgrund des II. Wiener Schiedsspruchs (30.8.1940) wurde Siebenbürgen zwischen Ungarn und Rumänien geteilt: in Nord- und Südsiebenbürgen. In Nordsiebenbürgen wurden sofort die antisemitischen Gesetze Ungarns eingeführt und 1944, nach der Besetzung des Landes durch die Wehrmacht, innerhalb weniger Wochen und mit eifriger ungarischer Kooperation etwa 130.000 Juden ghettoisiert und deportiert. Davon sind etwa 100.000 Juden umgebracht worden, einige Tausende kehrten nach dem Krieg nach Rumänien zurück. In Südsiebenbürgen, das also zwischen 1940-45 weiterhin zu Rumänien gehörte, galten zwar die antisemitischen Gesetze Rumäniens und die Pogrome der Eisernen Garde im Januar 1941 betrafen wohl auch Kronstadt. Dennoch überlebten die Juden Südsiebenbürgens den Krieg relativ unbeschadet, d.h. ohne Deportation und Ghettoisierung. Deshalb nur relativ, da einige Tausend Juden aus dem Banat wohl nach Transnistrien deportiert wurden und es auch Pläne in Bukarest gab, 1942 alle Juden des Gebietes dahin zu deportieren. Dazu ist es allerdings nicht gekommen (wegen des Widerstands unterschiedlicher politischer Kreise). Nebenbei bemerkt: aus der Moldau und der Bukowina wurden sehr wohl Hunderttausende von Juden nach Transnistrien deportiert und dort verhungert, andere sind getötet und umgebracht worden. Dies alles betraf allerdings die Kronstädter jüdische Gemeinde wohl nicht. Harald Roth, der Verfasser einer Stadtmonographie ("Kronstadt in Siebenbürgen"), geht sogar davon aus, dass die Zahl der Kronstädter Juden Anfang der 1940er Jahr wohl sogar zugenommen haben muss, weil aus Nordsiebenbürgen und aus der Moldau etliche Juden dahin geflüchtet waren.  Ich hoffe, mit dieser kleinen Anmerkung die obige Aussage etwas nuanciert zu haben. Mit freundlichen Grüßen, Franz Sz. Horváth
P.s. Die Geschichte der Juden Siebenbürgens ist eine sehr spannende, dramatische und vielfältige Geschichte und die Gemeinde brachte zumal im 20. Jahrhundert z.B. mit György Ligeti, Imre Tóth usw. eine Reihe bemerkenswerter Persönlichkeiten hervor.

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Frieder Sommer schrieb uns am 09.01.2024 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Bieling, Rainer: Masha Gessen und das große Vergessen des Totalitären

Zu Herrn Kaiser: Als "fragwürdig" bezeichne ich einen Text, der zu Bedenken, Zweifeln, Misstrauen Anlass gibt. Und Bielings Beitrag ist so ein Text. Punkt.
Bedenklich finde ich vor allem, ich wiederhole mich, dass Herr Bieling aus der Behauptung, Frau Gessen trage auf seinem Foto "rote Socken" (ich kann keine erkennen!) schließt, sie "klinge" heute noch wie "SED-Ideologen" alter Schule.
Was Herrn Bieling zu seiner sonstigen ehrenrührigen Personenbeschreibung veranlasst haben mag, möge er sich selbst fragen.
Bedauerlich finde ich, dass dieses bezeichnende "ad personam" niemand, offensichtlich auch der Redaktion nicht, aufzufallen scheint.
Zusammenfassend: Herr Bielings Text richtet sich in
einer fragwürdigen Art und Weise ausschließlich gegen die Person Masha Gessen und geht an keiner (sic) Stelle auf deren jüngste Äußerungen ein.

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Stefan Neuhaus schrieb uns am 09.01.2024 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Thomas Merklinger: Mittendrin, aber nicht dabei
In seinem Sachbuch „Der doppelte Erich“ geht Tobias Lehmkuhl den Ambivalenzen von „Kästner im Dritten Reich“ nach

Lieber Herr Merklinger,
mich hat Ihr sachlicher, wunderbar lesbarer und informativer Artikel sehr gefreut und ich möchte nur kurz auf die von Herrn Helmes initiierte Debatte über die Bewertung der Persönlichkeit Kästners reagieren und darauf hinweisen, dass das Kästner-Handbuch, das ich kürzlich herausgeben durfte, unterschiedliche Stimmen dazu versammelt. Letztlich dürfte es für die, mit Brecht gesprochen, Nachgeborenen schwierig bis unmöglich bleiben, sich in die Zeitumstände hineinzuversetzen. Das entschuldigt in keiner Weise irgendeine Täterschaft, aber im Vergleich mit dem Verschweigen faktischer Mittäterschaft, wie sie andere Autoren nach 1945 betrieben haben (von sehr bis weniger problematisch, in die erste Kategorie
würde ich den Star-Drehbuchautor Herbert Reinecker und in die zweite das jugendliche Waffen-SS-Mitglied Günter Grass einordnen, freilich beide jünger als Kästner), ist das distanzierte und sich nach Möglichkeit nicht involvierende, auch verdeckt kritische Verhalten Kästners doch sehr zu unterscheiden. Aber auch das ist nur (m)eine Meinung.
Herzlich dankt und auf anregende weitere Lektüren ihrer Rezensionen freut sich
Stefan Neuhaus

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Günter Helmes schrieb uns am 07.01.2024
Thema: Thomas Merklinger: Mittendrin, aber nicht dabei
In seinem Sachbuch „Der doppelte Erich“ geht Tobias Lehmkuhl den Ambivalenzen von „Kästner im Dritten Reich“ nach

Lieber Herr Merklinger,
vielen Dank für Ihre luzide Besprechung von Tobias Lehmkuhls Kästner im Dritten Reich.
Ich frage mich, ob der von Ihnen gewählte Titel „Mittendrin, aber nicht dabei“ den Sachverhalt tatsächlich trifft. Meines Erachtens hat sich Kästner – zweifelsfrei kein Nazi! – den Nationalsozialisten deutlich entschiedener angedient als es dieser Titel vermuten lässt. Dabei will ich nicht auf seinen als solchen und u.a. angesichts der ihn selbst betreffenden Bücherverbrennung höchst irritierenden „Bemühungen“ herumreiten, „in die ‚Reichsschrifttumkammer‘ aufgenommen zu werden“, auch nicht darauf, dass er, der Verbotene, letztlich sich frei bewegen konnte und in
den frühen 1940er Jahren sehr gut verdiente.
Aber zeihen will ich ihn der, so die Hypothese, aus karrieristischen und materiellen Gründen begangenen, proaktiv und im Wissen u.a. um das Schicksal zahlreicher Kolleginnen und Kollegen aus Literatur und Kultur herbeigeführten geistigen Kollaboration mit den Nazis, beispielhaft dokumentiert durch sein unter dem Pseudonym Berthold Bürger verfasstes Drehbuch zum Ufa-Jubiläumsfilm Münchhausen – Kästner war nicht nur „Mitarbeit[er] am Drehbuch“, sondern „lieferte den Stoff gleich mit“ (Th. Anz).
Dieses Drehbuch, von der Zensur akribisch durchgearbeitet und u.a. um der Entschärfung allzu propagandistischer Stellen willen zu mehr als 25% verändert, strotzt vor rassistischen Vorurteilen, völkisch-nationalem Denken, militaristischem und Feindbilddenken sowie reaktionären Geschlechterrollen und Familienbildern. Es ist durch und durch systemkonform und enthält – wie könnte es angesichts der professionell arbeitenden Zensur auch anders sein – gegenteiliger Behauptungen zum Trotz keine oppositionelle Botschaften (es gibt auch keinerlei Evidenz dafür, dass das Kinopublikum den Film als systemkritisch wahrgenommen hätte).
Was ich freilich noch verwerflicher finde als diese geistige Kollaboration (wer weiß im Übrigen schon, wie man sich selbst zur Zeit des Dritten Reichs verhalten hätte): Dass Kästner sich in der Nachkriegszeit selbstgerecht als personifizierte Unschuld, als moralische Instanz und Mahner schlechthin inszeniert hat, als widerständiger bloßer „Beobachter“, der nur dokumentieren wollte und immer schon alles vorausgesehen hat. Das macht für mich den eigentlichen Fall, den menschlichen Absturz des in literarischer Hinsicht großen Schriftstellers und professionellen Medienautors Erich Kästner aus. Der war mit seiner „harmonisierende[n] Klassendidaktik“, seinem „lustvollen Konformismus“ (G.H. Hommer) und seinen „kleinbürgerlichen Aufsässigkeiten“ (K. Kreimeier) in ideologischer Hinsicht freilich oftmals problematisch. Gibt es nicht zu denken, dass Emil und die Detektive, wie Sie zu Recht schreiben, „bei der Bücherverbrennung „explizit[]“ ausgenommen wurde? Hätte man sich nicht von Kästner diesbezüglich eine Äußerung à la „Verbrennt mich!“ (Oskar Maria Graf) gewünscht?

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Karl-Josef Müller schrieb uns am 06.01.2024 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Bieling, Rainer: Masha Gessen und das große Vergessen des Totalitären

"Zum anderen wäre m.E. es sinnvoller gewesen, gerade auf einem intellektuellen Portal wie diesem, noch einmal herauszuarbeiten, was faul/falsch/unhaltbar an den Ansichten von Frau Gessen ist (Gleichsetzung des Gazastreifens mit einem Ghetto usw.). Das zu unterstreichen, kann gar nicht oft genug geschehen. Dennoch insgesamt danke für den Text,"

"Als langjähriger Leser der 'literaturkritik' ist es für mich unverständlich, was die Redaktion veranlasst haben könnte, diesen fragwürdigen 'Essay' zu veröffentlichen."

Ich möchte mich dem Dennoch und dem Dank von Herrn Horvath anschließen. Fragwürdig mag der Essay sein, was, wenn man es wörtlich versteht, heißt, dass er würdig
ist, befragt zu werden - was Herr Horvath ja auch tut und, wie ich denke, zu Recht. Und im Gegensatz zur Empörung von Herrn Sommer möchte ich die Redaktion geradezu auffordern, für Reibung und damit Energie durch die Veröffentlichung kontroverser Texte zu sorgen.

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Frieder Sommer schrieb uns am 04.01.2024
Thema: Bieling, Rainer: Masha Gessen und das große Vergessen des Totalitären

Bei aller aktuell berechtigten Kritik an Frau Gessen bitte ich die Leser der Kritik Bielings an Frau Gessen, auch Gessens 2018 bei Suhrkamp erschienenes Buch "Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor." zu lesen. Ich bin mir sicher, dass danach eine angemessene Beurteilung der Kritik Bielings möglich sein wird.
Dass Herr Bieling es offensichtlich nötig hat, seine Kritik an Frau Gessens "totalitärem sozialistischen Geist" mittels eines von ihm gemachten Fotos zu untermauern, sollte alle Leser seines Artikels stutzig machen. Das Bild, das Herr Bieling von Frau Marsha Gessen hier zeichnet, halte ich für ehrenrührig, denn satirisch oder ironisch ist es sicher nicht gemeint.
Als langjähriger Leser der
"literaturkritik" ist es für mich unverständlich, was die Redaktion veranlasst haben könnte, diesen fragwürdigen "Essay" zu veröffentlichen.

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Franz Horvath schrieb uns am 29.12.2023
Thema: Rainer Bieling: Masha Gessen und das große Vergessen des Totalitären
Die jüdisch-russische US-Autorin hätte gar nicht erst für den Hannah-Arendt-Preis in Betracht gezogen werden sollen

Sehr geehrter Herr Bieling, vielen Dank für Ihre Auseinandersetzung mit der Preisverleihung an Masha Gessen. Ich stimme Ihnen darin zu, dass sie den Preis gar nicht hätte bekommen dürfen und dass ihre Positionen unhaltbar sind. Zwei Anmerkungen hätte ich dennoch. Zum einen schlussfolgern Sie aus der Tatsache, dass Frau Gessen die SU erst mit 14 Jahren verlassen hatte, dass sie sich von den bis dahin verinnerlichten sozialistischen Inhalten nicht mehr emanzipiert hatte. Diesem Gedanken liegt die Annahme zugrunde, das 10-12-14-jährige Kind sei bereits dermaßen stark indoktriniert worden, dass sie diese Inhalte auch Jahrzehnte später vertritt. Für diese These (die) Belege zu erbringen, bleiben Sie dem Leser leider schuldig. (Es stellt sich daher/zudem die Frage, ob nicht der heutige "Wokeismus" und "progressive" Israelhass mindestens genauso stark Frau Gessens Ansichten formten wie jene ersten, wenigen Jahre. Und sprechen Sie nicht (dabei durchaus exkulpierend? Frau Gessen die Lernfähigkeit ab, wenn Sie sie als unmündige Sklavin ihrer Kinderjahre darstellen?) Zum anderen wäre m.E. es sinnvoller gewesen, gerade auf einem intellektuellen Portal wie diesem, noch einmal herauszuarbeiten, was faul/falsch/unhaltbar an den Ansichten von Frau Gessen ist (Gleichsetzung des Gazastreifens mit einem Ghetto usw.). Das zu unterstreichen, kann gar nicht oft genug geschehen. Dennoch insgesamt danke für den Text, mfG Franz Sz. Horváth

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Günter Helmes schrieb uns am 13.12.2023 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Redaktion literaturkritik.de: Robert Habeck über Israel und Antisemitismus

Eine letzte Antwort, sehr geehrter Herr Müller, in der Form von mehreren Bitten.
Bevor Sie Zuschreibungen wie "Naivität" oder Ähnliches in den Raum stellen, lesen Sie doch bitte erst einmal gründlich und Sinn entnehmend.
Bitte gehen Sie davon aus, dass mir die von Ihnen angeführten Geschehnisse in den 1930er Jahren bekannt sind, Ihre eigenen Kenntnisse ein ums andere Mal herauszustellen tut, glaube ich, nicht Not.
Bitte erinnern Sie sich an all das Schreckliche, dass Juden über viele Jahrhunderte u.a. in vielen Teilen Europas ein ums andere Mal  erleiden mussten und vor dessen Hintergrund St. Zweig in den frühen 1920er Jahren zu seiner von mir zitierten Einschätzung kam - und fragen Sie sich bitte dann noch
einmal, warum er m.W. diese Einschätzung beibehalten hat.
Vergegenwärtigen Sie sich - Stichwort: "Faktisch" - bitte, dass es, soweit ich das überschauen kann, so ist, dass Kritik an Israel in der Regel und rösselsprüngig mit Antisemitismus in Verbindung gebracht oder sogar als Antisemitismus deklariert wird. Herr Habeck hätte von daher gut daran getan, explizit zu sagen, dass eine Kritik an Israel (an Nethanjaus Israel, um nicht weiter missverstanden zu werden) keinen Antisemitismus darstellt, zumindest nicht von vornherein.
Bedenken Sie bitte, dass Israel nicht  d i e  Juden repräsentiert, anders gewendet, dass eine Kritik an Israel aus philosemitischem Geist erwachsen kann.
Bitte sehen Sie in mir - ich verweise auf zahlreiche Publikationen und Editionen - einen überzeugten Philosemiten.
Mit freundlichen Grüßen
Günter Helmes

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