Siegfrieds Tod
Harry Mulisch löst die „Hitler-Frage“ (nicht)
Von Norbert Wehr
1961 steht Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht. Er, der als Leiter
des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt für die „Endlösung“
der Judenfrage zuständig war, d.h. den Tod von mehr als fünf
Millionen Juden zu verantworten hat, zeigt während des Prozesses
keine Reue. Er erklärt sich in allen fünfzehn Anklagepunkten
für „nicht schuldig“.
Der einzige Schriftsteller unter den zahlreichen Berichterstattern
ist der 34jährige Niederländer Harry Mulisch. Mulisch ist der
Sohn einer deutsch-österreichischen Jüdin (deren Mutter und
Großmutter in Auschwitz ermordet wurden) und eines österreichischen
Offiziers, der als Personalchef der Lippmann-Rosenthal-Bank die nationalsozialistischen
Besatzer Hollands bei der Arisierung jüdischen Vermögens unterstützte
und nach dem Krieg als Kollaborateur verurteilt wurde.
Mulisch ist nicht nach Jerusalem gekommen, um die stereotypen
Urteile vom skrupellosen Gewaltverbrecher zu wiederholen. Er will vielmehr
versuchen, Eichmann möglichst „vorurteilslos“ zu verstehen.
Von März bis September 1961 berichtet er deshalb in einer Artikelserie
für eine holländische Zeitschrift. Für einen, der Verwandte
in Auschwitz verloren hat, kommt er dabei zu erstaunlich unabhängigen,
ja eigensinnigen und mutigen Erkenntnissen – Erkenntnissen, die Ausdruck
einer ambivalenten Faszination sind.
Denn am Ende der Berichte gesteht er seinen Lesern,
daß der Fall Eichmann mehr mit ihm zu tun hatte, als er vorher wußte.
Er hat in Eichmann nämlich einen der zwei oder drei Menschen entdeckt,
„die mich verwandelt haben“. Von vielem habe Eichmann ihn geheilt,
„von unverbindlicher Entrüstung zum Beispiel, doch auch von
viel Sorglosigkeit“. Und weiter: „Außerdem hat er mir
eine gewisse Wachsamkeit beigebracht, mir sind die Augen etwas weiter
aufgegangen. Ich sehe sowohl ihn, mich selber als auch andere in grellerem
Licht. Und das Merkwürdige dabei ist, daß die Konturen darin
unschärfer geworden sind. Es gibt verschwommene Übergänge
zwischen ihm und mir, den anderen und ihm, mir und den anderen, aber auch
zwischen ihm und den Toten, den Toten und mir, den anderen und den Toten
...“
Im Jahr darauf beginnt Mulisch mit Notizen zu einem Roman. Die
Zukunft von gestern soll er heißen, und Mulisch versucht
darin zu erzählen, was gewesen wäre, hätte Hitler den Krieg
gewonnen. Welche Visionen hatten die Nationalsozialisten, fragt er sich.
Wie hätte „Germania“ eigentlich aussehen sollen? –
Er erfindet zu diesem Zweck einen Schriftsteller namens Otto Textor, der
im siegreichen Deutschland mit Notizen zu einer Erzählung beginnt,
in der er sich ein Deutschland vorstellt, das den Krieg verloren hätte
(eine Erzählung, übrigens, mit einem Protagonisten namens „Harry
Mulisch“).
Beides wird indes nicht geschrieben, der Roman von Mulisch
nicht und nicht die Erzählung Otto Textors mit der Figur „Harry
Mulisch“. Denn der Versuch, die Wirklichkeit sozusagen als Konjunktiv
des Konjunktivs zu erfinden, ist zum Scheitern verurteilt. Stattdessen
entsteht ein Buch, in dem Mulisch Auskunft gibt über das Scheitern
seines Romans: Die Zukunft von gestern.
Betrachtungen über einen ungeschriebenen Roman.
Für diese „Betrachtungen“ sucht er wieder,
wie schon in Jerusalem, die direkte Begegnung mit einem Täter. Im
Sommer 1971 trifft er in Heidelberg Albert Speer, den ehemaligen Bewaffnungsminister,
der u.a. verantwortlich war für die Rekrutierung von Millionen Zwangsarbeitern.
Was Mulisch an Speer interessiert, ist vor allem der „Künstler“,
der Architekt ohne Œuvre, der ausersehen war, als Hitlers Nachfolger
„Germania“ zu bauen.
Und wie im Falle Eichmanns kommt er nach dem Besuch
zu einer ganz eigenen Einschätzung des speer’schen Charakters.
Beide, Eichmann und Speer, seien keine typischen Nazis, keine Überzeugungstäter
gewesen. Während Eichmann ein „Medium ohne Glauben“ gewesen
sei, ein Maschinenmensch, der jeden
Befehl ausgeführt hätte (auch von Stalin, Roosevelt, Churchill
oder dem Papst), sei Speer undenkbar ohne Hitler. „Er gehorchte“,
schreibt Mulisch, „dabei weniger einem Befehl Hitlers, sondern er
wurde zu diesem Befehl. Er identifizierte
sich mit einem Befehl, den sich Hitler früher einmal selbst gegeben
und dem er selbst nicht gehorcht hatte: Baumeister zu werden. Speer war
bereit, sich selbst in den Traum seines Freundes zu verwandeln.“
Undenkbar ohne Hitler, das gelte auch für ihn selbst, für alles,
was er je geschrieben habe; Hitler, so Mulisch im Gespräch, sei seine
lebenslange Obsession, er selbst der „personifizierte Zweite Weltkrieg“.
– Da scheint es geradezu zwangsläufig, daß er nach dem
Buch über Eichmann, nach dem Exkurs über Speer nun auch ein
Buch über Hitler geschrieben hat (fast so, als hätte er damit
selber einem inneren Befehl gehorcht).
Und wieder begibt er sich in Gefahr, ohne Berührungsängste
vor moralischen oder ästhetischen Tabus. Denn dieses Buch über
Hitler ist weder eine Reportage noch ein Essay noch eine Biographie –
es ist ein mit allen postmodernen Wassern gewaschener Roman, ein ziemlich
vertrackter, mit zahlreichen Fallen ausgelegter, sehr raffiniert konstruierter
sogar. Siegfried heißt er,
und im Untertitel: Eine schwarze Idylle. Ins Deutsche übersetzt hat
ihn Gregor Seferens.
An den gescheiterten Roman knüpft er insofern an,
als ihm ebenfalls eine Hypothese zugrunde liegt. Anders hingegen als im
geplanten Die Zukunft von gestern,
anders auch als in Vaterland (von
Robert Harris) oder in Geschichte machen
(von Stephen Fry), muß Mulisch für Siegfried
die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht umschreiben, muß er Hitler
keine andere Biographie und keinen anderen Charakter andichten.
Mulisch konstruiert für Siegfried
eine Geschichte, einen Traum (oder Alptraum, wenn man will), den Hitler
tatsächlich gehabt haben könnte. Und Mulisch, der von Hitler
Besessene (und diktatorische Herrscher über seine Figuren), erfüllt
ihm in gewisser Weise diesen Traum – indem er den Roman namens Siegfried
schreibt (so wie Speer Hitlers architektonische Träume hätte
erfüllen sollen). Was wäre gewesen, fragt sich Mulisch, was
wäre gewesen, wenn Hitler und Eva Braun ein Kind gehabt hätten
... ?
Mulisch erfindet, um diese Geschichte einer Kopfgeburt
erzählen zu können, ein alter ego, einen gleichaltrigen Schriftsteller
namens Rudolf Herter, den Autor u.a eines Buchs über den Eichmann-Prozeß.
Mulisch erfindet sich in Herter also selbst, ähnlich wie in Die
Zukunft von gestern. Doch er geht noch einen Schritt weiter. Denn
so, wie er 1961 „verschwommene Übergänge“ zwischen
sich und Eichmann festgestellt hatte, verleiht er seinem Herter zusätzlich
gewisse Züge von Hitler, angefangen bei der Silbengleichheit und
Klangähnlichkeit des Namens über die junge Freundin bis hin
zum gemeinsamen kleinen Sohn.
Diesen Herter läßt er nun im November 1999 zu einer Lesung
aus seinem Buch Die Erfindung der Liebe
nach Wien fahren, in die Geburtsstadt seines Vaters. Herter wird dort
mit großer Aufmerksamkeit empfangen, trifft den niederländischen
Botschafter und gibt mehrere Rundfunk- und Fernseh-Interviews. In einem
dieser Interviews spricht er vom Plan eines Buchs über Hitler. Er
sei für dieses Buch auf der Suche nach einem Gedankenexperiment,
nach einem fiktiven, aber nicht unwahrscheinlichen Versuch, den er um
Hitler herum aufbauen wolle, einer Art Spiegel, in dem dessen wahres Gesicht
sichtbar werden könne. Denn alle politischen, historischen, okönomischen
und psychologischen Studien hätten das Rätsel bisher nicht lösen
können. „Vielleicht“, gibt er der Journalistin zu Protokoll,
„vielleicht ist die Fiktion das Netz, mit dem man ihn fangen kann.“
Nur die Phantasie, so hofft er, kann das „Werkzeug des Verstehens“
sein.
Abends, nach seiner Lesung, macht er dann die Bekanntschaft
von Ullrich und Julia Falk, einem alten Ehepaar. Die beiden alten Leute
hatten ihn im Fernsehen gesehen und sind deshalb zu seiner Lesung gekommen.
Sie haben eine Geschichte für ihn, eine Geschichte für seinen
ungeschriebenen Roman über Hitler. Am nächsten Morgen schon
sitzt Herter ihnen in ihrem Altersheim-Apartment gegenüber. Die Falks
waren, wie sich herausstellt, Hausangestellte Adolf Hitlers auf dem Obersalzberg.
Sie kannten ihn gut – sehr gut sogar: Sie waren nämlich die
Adoptiv-Eltern des Kindes, das Hitler und Eva Braun gezeugt hatten ...
Hitler, der Vater eines Kindes! Herter ist sofort klar,
das ist die Geschichte, die er für seinen literarischen Laborversuch
gesucht hat. Besser hätte er sie nicht erfinden können. Atemlos
hört er den Falks zu. Und Ullrich Falk erzählt: Da Hitler allen
Frauen gehörte, konnte und durfte es nicht sein, daß er ein
Kind von Eva Braun hatte. Also mußten Maßnahmen ergriffen
werden, um Eva Brauns Schwangerschaft geheimzuhalten. Eva Braun wurde
deshalb im vierten Monat auf eine fingierte längere Reise geschickt,
während Julia Falk mit Kissen und Handtüchern eine zunehmende
Schwangerschaft vortäuschen mußte.
Das Kind kam schließlich am 9. November 1938 (!)
zur Welt. Es war ein Junge, und er bekam den Namen Siegfried. Sechs Jahre
lang wurde er von den Falks wie ihr eigener Sohn aufgezogen. Doch dann,
im September 1944, ein halbes Jahr vor Kriegsende, geschah das Unfaßbare:
Ullrich Falk mußte den kleinen Siegfried auf Hitlers Befehl hin
umbringen. Siegfrieds Tod, so hieß der Befehl, sollte wie ein Unfall
aussehen ... (Aus Eva Brauns Tagebüchern geht später hervor:
Hitler selbst war Opfer eines Komplotts geworden. Er befahl den Tod seines
Sohnes, weil er annahm, dieser sei nicht „reinrassig“.)
Zurück im Hotel, vertraut Herter diese ver-rückte Geschichte
seinem Diktaphon an. Er weiß nunmehr, daß er das Rätsel
Hitler mit herkömmlichen Erklärungen nicht lösen kann.
Er muß so schonungslos über Hitler zu denken versuchen, wie
dieser gehandelt hatte. Hitler, so Herters „letztes Wort“, war
die reine Negativität, ein alles verschlingendes Nichts, die Unbegreiflichkeit
in Person, mit keiner Psychologie zu erklären.
Und je länger er in sein Diktaphon spricht, desto
mehr steigert er sich in eine fixe Idee, in eine Art Hitler-Wahn hinein.
Er unternimmt einen „ontologischen Nichts-Beweis“, um seine
These zu untermauern, daß Hitler die „Manifestation des nicht
existierenden, nichtenden Nichts“ war. Hitlers allererstes Opfer,
so Herters Überzeugung, sei kein anderer als Friedrich Nietzsche
gewesen – Nietzsche, der nicht nur die Ankunft eines personifizierten
zerstörerischen Nihilismus (also Hitlers) vorhergesagt hatte, sondern
bis ins Detail auch dessen Ende (als Brandfackel). Für Herter steht
fest: Mit Hitlers Zeugung im Sommer 1888 begann sich Nietzsches Zustand
zu verfinstern. Und als Hitler im April 1889 schließlich geboren
wurde, war Nietzsches Verfall besiegelt: „Die Nacht, in die Nietzsches
Geist stürzte, war die Finsternis der Gebärmutter, in der Hitlers
Körper Gestalt annahm.“
Schon der Fötus Hitlers verbreitete also seinen
Schrecken über die Welt ... und er tut es sogar noch in einer anderen
„Seinsform des Nichts“ – nach dem Tode: Denn so wie der
ungeborene Hitler für Nietzsches Wahnsinn verantwortlich war, so
ist er es ein halbes Jahrhundert später für den Tod von Herter.
Dieser stirbt nämlich, während er das Diktaphon mit seinen eigenwilligen
Theorien über Hitler bespricht. Herters letzte Worte wiederholen
(bis auf das präsentische Tempus) die, die Ullrich Falk während
eines Alptraums von Hitler belauscht haben will. Voller Angst soll Hitler
eines Nachts geschrieen haben: „Er
... er .... er war hier“.
Er? Er? Wer kann dieser Er bloß sein? – Ein
Rätsel, fast so groß wie das Rätsel, das Hitler aufgibt!
Wovor sollte ausgerechnet Hitler Angst gehabt haben? Vor sich selbst?
Vor dem größten Verbrecher aller Zeiten, dem größten
Künstler des Nichts? Und welche Angst hat Herter? Hat er sich am
Ende in Hitler, in Hitlers Alp-Traum verwandelt? Wer erscheint ihm kurz
vor seinem Tod? „Bruder Hitler“? Die Falks? Siegfried? Oder
Mulisch, Hitlers Sohn? ( ... das Photo Siegfrieds, das auf der Kommode
der Falks steht, ist jedenfalls ein Kinderphoto von Mulisch). Hat Herter
die Reise, die Begegnung mit den Falks nur erfunden? War alles nur ein
Alp-Traum? Ist Mulischs Buch in Wirklichkeit ein Buch von Herter? Mulisch
eine Erfindung Herters? Und wer ist der Autor der fiktiven Tagebücher
Eva Brauns?
Überall: Unscharfe Konturen und verschwomme Übergänge!
Mulischs Roman ist ein schwarzes Loch, in dem alle diese Fragen unbeantwortbar
verschwinden. Und auch die wichtigste, die drängendste Frage: wer
eigentlich Hitler war. Sie bleibt, wie alle anderen, unbeantwortet. „Ich
habe ihn verstanden, weil ich nichts verstanden habe ...“, so lautet
Mulischs (vorläufig) letztes Wort.
Als „Werkzeug des Verstehens“ bleibt ihm am Ende wieder nur
die Phantasie. Und der Versuch, noch einmal an Die
Zukunft von gestern, den unmöglichen Roman, anzuknüpfen.
Eva Braun in ihrem (erfundenen) Tagebuch, Hitlers Traum zitierend: „Damals
spielte ich mit dem Gedanken, dich gleich nach dem Endsieg zu heiraten.
Dann hätten wir hier in Germania die herrlichste Hochzeit aller Zeiten
gefeiert, mit wochenlangen Festen im Großdeutschen Weltreich. An
seinem einundzwanzigsten Geburtstag, 1959 also, wäre Siegfried Hitler
dann wie Augustus mein Nachfolger als Führer geworden. Du und ich,
wir hätten uns nach Linz zurückgezogen, wo ich mich als alter
Mann von siebzig Jahren nur noch der Kunst gewidmet und mit Speer den
Bau meines Mausoleums an der Donau überwacht hätte ...“
In diesem Germania würde ein Otto Textor leben.
Er würde ein Buch beginnen, in dem er erzählt, was gewesen wäre,
hätte Hitler den Krieg verloren. Er würde dazu einen „Harry
Mulisch“ erfinden. Dieser „Harry Mulisch“ würde im
Jahr 2000 einen Roman schreiben, in dem er sich als Rudolf Herter erfindet,
der die Hitler-Frage zu lösen versucht. Siegfried
würde dieser Roman heißen und er würde den politischen,
historischen, okönomischen und psychologischen Erklärungen eine
weitere hinzufügen – eine literarische bzw. philosophisch-spekulative.
Doch auch diese Erklärung würde das Hitler-Rätsel nicht
lösen. Der Roman würde diese Frage höchst kunstvoll nicht
beantworten. Und Harry Mulisch würde ein weiteres Buch schreiben,
in dem er dieses erneute Scheitern erklärt ... und irgendwann, in
einigen Jahren vielleicht, würde auch er sterben, so wie er Herter
sterben ließ: noch im Tod beschäftigt mit der „Endlösung
der Hitler-Frage“ ...