Wer Christian Streich, 46, verstehen will, muss seine Zerrissenheit kennen. Wenn der Trainer des SC Freiburg an der Seitenlinie tobt, mit wildem Blick und ebensolcher Frisur, dann wird nicht nur den gegnerischen Spielern angst und bange. "Streich versucht auch, den gegnerischen Trainer fertigzumachen. Der funkt ständig auch in deine Richtung", sagt ein ehemaliger Kontrahent, der lieber anonym bleiben möchte. Wenn Streich hingegen zum Interview Platz nimmt, wägt er jeden Satz ab, besonnen und fast zurückhaltend.
Nach dem Sieg in Leverkusen holte der SC Freiburg unter seiner Regie 18 Punkte in elf Spielen – fünf mehr als in der gesamten Vorrunde. Der ehemalige Germanistik-Student Streich ist zum großen Lehrer geworden. "Seid mutig und spielt mit Herz, auch wenn ihr Fehler macht", predigt er seinen Spielern. Und die folgen ihm – heute wie damals. Neun Spieler, die er selbst ausgebildet hat, stehen im Profikader der Freiburger. "Eine reine Qualitätsfrage", sagt Streich.
"Mut, die Jungen spielen zu lassen"
Als Nachwuchstrainer wurde er 2008 Deutscher Meister mit der U19, gewann dreimal den DFB-Junioren-Vereinspokal. Sportdirektor Dirk Dufner sagt: "Er hat den Mut, die Jungs spielen zu lassen. Und sie glauben an das, was er ihnen vermittelt." Streich selbst findet das nicht besonders mutig. Schließlich habe er bei den Spielern, die er ausgebildet hat, einen Wissensvorsprung, sagt er.
Vor drei Monaten musste Streich einen schweren inneren Konflikt lösen, und der erzählt viel über den Menschen Streich. 17 Jahre lang arbeitete er schon beim Sportclub. Ein perfekter Mann für die zweite Reihe. Mit Akribie und Feuer bildete er den Nachwuchs aus. Spieler wie Dennis Aogo (heute HSV) oder Ömer Toprak (Leverkusen) liefen durch seine Schule. Aogo sagt heute über seinen Jugendtrainer: "Ich war ein Chaot, aber Streich hat mir die Augen geöffnet. Er hat viel mit mir gesprochen. Wenn es sein musste, auch schonungslos offen."
Als Robin Dutt kündigte und den Verein im Sommer 2011 Richtung Leverkusen verließ, wandelte sich Streichs kleine Welt zur großen Bühne. Er wurde Assistent von Dutts Nachfolger Marcus Sorg, und als der zur Winterpause auf dem letzten Platz stand, fünf Punkte hinter den Nichtabstiegsrängen, und gehen musste, da wurde es ernst. Präsident Fritz Keller bot Streich an, Chef zu werden. Dem wurde mulmig bei dem Gedanken, Verantwortung für all die Mitarbeiter des Vereins zu tragen, die ihm in all den Jahren so sehr ans Herz gewachsen waren: den Busfahrer, die Sekretärin, die Putzfrau. Was passiert mit ihnen, wenn es schiefgeht? Würde er sich schuldig fühlen?
"Es war die richtige Entscheidung"
Andererseits sah er sich gegenüber dem SC in der Pflicht: "Ich hatte beim Präsident eigentlich schon abgesagt. Aber wenige Minuten vor der endgültigen Entscheidung spürte ich, dass ich es doch machen muss." Er sagte Ja und resümiert heute: "Es war die richtige Entscheidung." Das sagen sie überall in Freiburg, immerhin führte Streich den SC vom letzten auf einen Nichtabstiegs-Platz.
Er kann es sich sogar leisten, nicht dem Bild des perfekten Trainers zu entsprechen. Streich legt auf Äußerlichkeiten keinen großen Wert. Morgens fährt er mit dem Rad zum Training – welchem anderen Erstliga-Trainer würde man das zutrauen? "Ich wohne 300 Meter vom Stadion entfernt", sagt Streich, "da wäre es doch verrückt, mit dem Auto hinzufahren." Die unkonventionelle Anreise fordert ihren Tribut. Streichs zerzauste Haare sind mittlerweile fast so etwas wie ein Markenzeichen geworden. Er kommentiert das mit einem Achselzucken: "Ich kämme mich jeden Morgen."
Im Gegensatz zu vielen Kollegen trägt er bei den Spielen Trainingsanzug. "Früher habe ich sonntags bei den Spielen immer ein Sakko angezogen, weil der Sonntag für mich ein Feiertag ist. Als dann in der Champions League alle Trainer Anzug und Sakko getragen haben, habe ich es sein lassen. Damit keiner sagt: Der Streich macht jetzt einen auf Champions-League-Trainer."
Internes muss intern bleiben
Besonders am Herzen liegt ihm das Gemeinschaftsgefühl. Jeder Spieler soll sich als Teil des Ganzen verstehen. "Wir wollen ins Bewusstsein rücken, dass wir uns alle auf eine gemeinsame Aufgabe verpflichten", sagt er. Internes muss intern bleiben, das ist oberste Pflicht. Wer dagegen verstößt, muss mit drastischen Strafen rechnen.
Präsident Keller jedenfalls ist voll des Lobes über seinen Trainer: "Er verkörpert unseren Laden und ist jetzt schon Kult in der Bundesliga, weil er erfrischend anders ist." Und dieses Anderssein will sich Streich auch bewahren: "Wenn ich merken sollte, dass ich fremdbestimmt bin, ist sofort Schluss."